1 Problemarbeit im Erwachsenenschutz

Im Kontext des schweizerischen Erwachsenenschutzes kann der Staat in die persönliche Freiheit von Erwachsenen eingreifen, wenn diese aufgrund eines „Schwächezustands“ als „schutzbedürftig“ eingeschätzt werden (Rosch 2022a). Bei Menschen über 65 und besonders über 80 Jahre werden im Vergleich zur Gruppe der Gleichaltrigen am häufigsten erwachsenenschutzrechtliche Maßnahmen verfügt.Footnote 1 Diese Fälle werden aufgrund des demografischen Wandels weiter zunehmen (Wider 2020).

Phänomene wie bspw. eine als unzureichend erachtete Selbstsorge, soziale Isolation oder eine eingeschränkte Urteilsfähigkeit bewegen Fachkräfte aus der AltersarbeitFootnote 2 dazu, Menschen mittels Gefährdungsmeldungen bei der Erwachsenenschutzbehörde zu melden. Für das Ergreifen einer Maßnahme wird eine Gefährdung des Wohls einer Person, die in direktem Zusammenhang zu einem „Schwächezustand“ steht, vorausgesetzt (KOKES 2012). Seit der Totalrevision des Erwachsenenschutzrechts 2013 stehen vier Formen von Beistandschaften zur Verfügung, die die Handlungsfähigkeit von Betroffenen unterschiedlich einschränken. Mit diesen zum Teil kombinierbaren Formen von Beistandschaft soll ein „maßgeschneidertes“ Unterstützungsangebot zum Greifen kommen (Häfeli 2010, S. 16). Solche Interventionen sind als Teil des Eingriffssozialrechts den Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit verpflichtet (Rosch 2022b).

Bei den Gefährdungsmeldungen, den darauffolgenden Abklärungen sowie dem Verfügen von Maßnahmen findet laufend „Problemarbeit“ statt (Groenemeyer 2010). Da keine allgemein anerkannten Kriterien für die Beurteilung einer Situation als gefährdend existieren, müssen diese in einer Abklärung immer individuell konkretisiert werden (Koch und Steffen 2023; Müller et al. 2020; Steffen et al. 2023). Außerdem divergieren nicht selten Problemdeutungen und Ziele der Beteiligten aufgrund verschiedener Logiken und Interessen sowie dem Erwachsenenschutz inhärenter Spannungsfelder (bspw. Schutz vs. Selbstbestimmung) (Häfeli 2013, S. 384; Koch im Druck). Das Feststellen einer Schutzbedürftigkeit sowie das Verfügen von Maßnahmen sind daher anspruchsvolle Aufgaben (Rosch 2020, S. 300).

2 Erkenntnisinteresse – Prozesse der Fallkonstitution

Wir interessieren uns in dem durch den Schweizerischen Nationalfonds finanzierten ForschungsprojektFootnote 3 für die Prozesse, Praktiken und Spannungsfelder, welche im Kontext des Erwachsenenschutzes die Bestimmung von „Schutzbedürftigkeit“ bei älteren Menschen (> 65 Jahre) prägen. Fachkräfte haben es beim Feststellen von Schutzbedürftigkeit mit realen Problemen zu tun, welche durch eine Konstruktionsleistung von einem „Vorfall“ zu einem „Fall“ (oder „Nicht-Fall“) transformiert werden müssen. Dabei spielen individuelle, gesellschaftliche sowie professionsspezifische Relevanzordnungen eine Rolle (Bergmann et al. 2014; Hall et al. 2003; Rüegger 2021a). Bei Schwächezuständen von älteren Menschen gehören gesellschaftlich-kulturelle Altersbilder und chrononormative Erwartungen dazu (Wider 2020, S. 147; Schroeter und Künemund 2020; van Dyk 2020). Die Fallkonstitution gilt als „Kernprozess professioneller Praxis“ (Rüegger 2021b) und ist insofern von großer Bedeutung für die Soziale Arbeit.

In der Schweiz ist die Altersarbeit dezentral und lokal, insbesondere in den Gemeinden und in den Familien, organisiert (Höpflinger 2018; Schroeter und Knöpfel 2020). Auch die Erwachsenenschutzbehörden weisen unterschiedliche Organisationsmodelle auf (Rieder et al. 2016). Empirisch ist weitgehend ungeklärt, wie die Schnittstelle zwischen der freiwilligen Altersarbeit und dem zivilrechtlichen Erwachsenenschutz in der Praxis bearbeitet wird. Vor diesem Hintergrund interessiert uns, (1) welche Akteure sich mit welchen Praktiken an der Problemdeutung und der Fallprozessierung beteiligen, (2) wer was wie (de-)problematisiert und welche Problemdefinitionen schließlich Geltung erlangen sowie (3) welche Logiken und Spannungsfelder die Fallprozessierung prägen und wie diese bearbeitet werden.

3 Forschungsdesign – eine explorativ-rekonstruktive Studie

In je zwei Regionen werden insgesamt rund 20 Erwachsenenschutzfälle von der Gefährdungsmeldung bis zum formellen behördlichen Entscheid ethnografisch begleitet. Dazu werden sowohl in meldenden Organisationen als auch in den Erwachsenenschutzbehörden nichtstandardisierte Daten erhoben (Tonaufzeichnungen, Beobachtungen, Dokumente, Interviews). Alle Daten werden im Forschungsstil der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996) analysiert. Die Ergebnisse liefern einen Beitrag zum wenig erforschten Erwachsenenschutz und zu dessen Schnittelle zur Altersarbeit. Ziel ist ferner, die Belastbarkeit professionstheoretischer Überlegungen empirisch fundiert zu diskutieren.