1 Grundlegende Verbindung des Themas Essen und Soziale Arbeit

Essen und Soziale Arbeit sind konstitutiv miteinander verbunden. Diese grundlegende Verbindung wird allerdings entweder als selbstverständlich vorausgesetzt, oder die Tragweite der Bedeutungen des Essens für individuelle und gesellschaftliche Zusammenhänge und damit auch die Auswirkungen auf Soziale Arbeit werden unterschätzt. Explizite Thematisierungen oder Schwerpunktsetzungen im Bereich Essen zeigten sich bisher auffällig selten in Zusammenhängen Sozialer Arbeit. In den letzten Jahren lässt sich jedoch ein langsam anwachsendes Interesse feststellen, und mit jeder neu betrachteten Facette rund um das Thema Essen differenzieren sich nicht nur sozialpädagogisch relevante Aspekte aus. Vielmehr entfaltet sich eine nahezu unerschöpfliche Fülle an bedeutenden Fragen, die eine primordiale Bearbeitung geradezu herausfordern, wenn nicht sogar überfällig erscheinen lassen.

Der folgende Artikel wirft einen allgemeinen Blick auf den Zusammenhang Sozialer Arbeit und Essen anhand einiger ausgewählter wesentlicher Aspekte und bietet einen Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung für die bisher ausgemachten relevanten Fragen und Aspekte im Kernbereich Sozialer Arbeit. Damit wird analog zu der Zusammenschau, die Rose et al. zum Stand der Pädagogisierungen des Essens in der Kinderernährung (Rose et al. 2021b) vorgelegt haben und insbesondere ihr Blick auf die erziehungswissenschaftlichen Perspektiven zur Pädagogizität des Essens (Rose et al. 2021a) in diesem Kontext der Stand und die Bedeutung der Sozialpädagogisierung des Essens betrachtet und eingeschätzt.

Prahl und Setzwein sehen im 18. Jahrhundert erste Ansätze einer Pädagogisierung des Essens (Prahl und Setzwein 1999, S. 126). In den von Rutschky (1977) zur Schwarzen Pädagogik gesammelten Quellen gibt es eine Vielzahl an Beispielen, die die Pädagogisierung des Essens verdeutlichen, vor allem wenn das menschliche Nahrungsbedürfnis als Erziehungsmittel eingesetzt wird (Meyer 2021, S. 135 ff.). Gleichzeitig gehören Ernährungsfragen und -notlagen zu den konstitutiven Aufgaben Sozialer Arbeit. In vielen Kontexten Sozialer Arbeit gehört zu den ersten Hilfen, ob historisch oder gegenwärtig, unabhängig davon, ob es sich um eine niedrigschwellige oder stationäre Hilfe handelt, ein Nahrungsangebot. Ernährungsnotlagen werden als Ursprung der Profession eingeschätzt, denn die Ernährungsfrage gehört im Grunde genommen zu den konstitutionellen Wurzeln Sozialer Arbeit (Rose und Sturzenhecker 2009, S. 10; Reidinger 2019), da die Geschichte der Sozialen Arbeit auch eine Geschichte der Verpflegung von Menschen ist. „Historisch betrachtet gehörte die Ernährung von Menschen schon immer zu den basalen Aufgaben Sozialer Arbeit. Überall dort, wo Armut, Nahrungsmittelkrisen und soziale Destabilisierungsprozesse Hungersnöte brachten und die sättigenden Tischgemeinschaften gefährdet waren, half sie durch Nahrungsversorgung. Die Geburtsstunde der Sozialen Arbeit ist untrennbar an genau diese gastronomischen Dienste für Bedürftige geknüpft. Dazu kommt: In den sozialen Einrichtungen, in denen notleidende, hilfebedürftige oder auch unter Zwang eingewiesene Menschen leben konnten oder leben mussten, wurden sie immer auch regelmäßig mit mehr oder weniger viel und mehr oder weniger schmackhafter Nahrung verpflegt“ (Rose und Schäfer 2009, S. 21). An den durch die sozialen Krisen des 19. Jahrhunderts ausgelösten Hungersnöten und Hungeraufständen in den armen Bevölkerungsschichten sowie an den daraus anwachsenden Verelendungsprozessen konnte nicht vorbeigesehen werden. Sie erzeugten einen besonderen Handlungsdruck bei Öffentlichkeit und Staat: „Seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts erfahren materielle und psychosoziale Notsituationen mit Verweis auf den vehementen sozialen Wandel eine verstärkte öffentliche Thematisierung. Die vormals ‚göttlicher‘ Handlungsverantwortung bzw. ‚charakterlicher Schwäche‘ zugeschriebenen menschlichen Notlagen scheinen zunehmend begründungsbedürftig“ (Kessl und Otto 2007, S. 1306). Mit dem Hinweis auf diese soziale Frage entstehen und legitimieren sich auch die Sozialwissenschaften, z. B. Soziologie, Sozialmedizin, Statistik oder Sozialpädagogik. Das 19. Jahrhundert wird von Hirschfelder auch als der Beginn des statistischen Zeitalters eingeschätzt (Hirschfelder 2018, S. 5), in dem das Aufkommen einer weiteren Naturwissenschaft Bedeutung erlangt: die Ernährungswissenschaft. Deren vorrangige Frage galt der Erkenntnis, wie viel und welche Nahrung nötig seien, um die körperlichen Prozesse in Gang zu halten. Voraussetzung dafür war die Trennung der tatsächlichen Bedürfnisse (Energie, Proteine, später auch u. a. Vitamine) von den eingebildeten Bedürfnissen (z. B. Genuss, Bekömmlichkeit, Geschmack). Der Wandel vollzog sich jedoch nicht aufgrund des reinen Erkenntnisgewinns, sondern der Substitutionspflicht des Staates. Vor dem Hintergrund der Bildung und Erfindung von Nationen wurde der Staat zunehmend verantwortlich für die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung; vor allem auch in Notzeiten. Daraus ergab sich das erhöhte Erkenntnisinteresse, wie viel Nahrung ein Mensch zum Leben braucht (Meyer 2021).

Seit Langem gehört also die Verpflegung mit Essen zu den grundlegenden Aufgaben Sozialer Arbeit, und immer noch werden in Institutionen Sozialer Arbeit täglich Verzehrsituationen bzw. Mahlzeiten verantwortet. Nach wie vor besteht auch eine grundlegende Kompetenz in der Sozialen Arbeit darin, (individuelle und gesellschaftliche) Mangelsituationen in der materiellen Versorgung zu erkennen und möglichst zu beseitigen. Diese Aufgabe erscheint dabei gar nicht so leicht innerhalb der gegenwärtig bestehenden Überflussgesellschaft, in der darüber hinaus wiederkehrend zu entscheiden ist, welcher Überfluss eigentlich einen Mangel darstellt, wenn es z. B. um die Bewertung von Ernährungsweisen geht. Am Beispiel Zucker lässt sich diese Aussage veranschaulichen: Der übermäßige Verzehr von Zucker wird als Mangel an Bildung oder Willensstärke ausgelegt, wenn es z. B. um die Bewertung von Ernährungsweisen vor allem sozioökonomisch schlechter gestellten Menschen geht, obwohl gleichzeitig bekannt ist, dass der sehr hohe Konsum von Zucker für alle Mitglieder von Überflussgesellschaften als typisch gilt (Rose und Sturzenhecker 2009; Pfeiffer 2014; Rose 2019; Meyer 2022).

Angesichts der Verantwortung der Sozialen Arbeit für den komplexen Zusammenhang rund um das Essen wird die Frage gestellt, ob es nicht eine viel weitreichendere, bewusster reflektierende und zunehmend systematisierende Auseinandersetzung rund um das Thema Essen geben sollte, um Sozialpädagogisierungen des Essens zu erkennen und nicht zuletzt vor diesem Hintergrund deren Möglichkeiten und Grenzen kritisch ausloten zu können. Ausgehend von der Bedeutung des Essens im Allgemeinen werden die daraus erwachsenden Aufgaben für Soziale Arbeit vor dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten Jahre im Bereich der Forschung bilanziert und ein Blick auf die sozialpädagogisch relevanten Perspektiven sowie theoretische bzw. forschungsbezogene Aufgaben geworfen. Somit wird ein Beitrag zur allgemeinen Thematisierung und Systematisierung der Anforderungen an eine Sozialpädagogisierung des Essens vorgelegt, der darauf abzielt, die grundlegende Bedeutung des Themas Essen in der Sozialen Arbeit bewusster zu machen.

2 Essen als soziales Totalphänomen und die Auswirkungen auf Soziale Arbeit

Essen wird von Eva Barlösius in Anlehnung an Marcel Mauss (2011 [1968]) als „soziales Totalphänomen“ (Mauss nach: Barlösius 2016, S. 29) bezeichnet, basierend auf der physischen Notwendigkeit des Menschen zum Essen. Durch das Essen werden die Energiereserven des Menschen wieder aufgefüllt, die durch Bewegung, Atmen und Stoffwechsel zuvor geleert wurden. Im Gegensatz zu anderen lebenserhaltenden Tätigkeiten, wie z. B. dem Atmen oder Schlagen des Herzens geschieht Essen nicht unbewusst. Die physische Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme von Menschen ist eng verwoben mit Vergesellschaftungsprozessen. Jeden Tag müssen Menschen für ihre Nahrung sorgen, und wenn sie noch zu jung dafür sind, verlassen sie sich darauf, von anderen Menschen mit versorgt zu werden. „Nahrung ist der Anfang von allem. Menschen müssen sich ernähren, und das Nahrungsbedürfnis haben Menschen vor allen anderen Nöten und Wünschen zu befriedigen“ (Barlösius 2011, S. 11). Nahrung gehört zu den ersten Bedürfnissen des Menschen: Das Neugeborene wird nach der Geburt an die Brust gelegt und gestillt. Zu den ersten sozialen Situationen, die kleine Kinder erleben, gehört das Gefüttert werden. Für ausreichend Nahrung zu sorgen, gehört in der Geschichte der Menschheit zu den zentralen Aufgaben, und der täglich wiederkehrende Zwang zum Essen wird als der Anlass stetigen Arbeitens und der Ursprung allen Wirtschaftens überhaupt eingeschätzt. Der Körper wie auch die Psyche werden über die Nahrungsaufnahme beeinflusst. Über den Körper spürt jeder Mensch täglich mehrfach wiederkehrend, dass er Nahrung braucht. Mit der Nahrungsaufnahme wird der Körper über die Befriedigung hinaus beeinflusst, denn die Nahrung materialisiert sich in seiner Physis und hat Auswirkungen auf sein Aussehen. Die psychische Befindlichkeit wird durch das Essen ebenfalls zentral beeinflusst, da die Lust- und Nahrungsbefriedigung eng miteinander verzahnt sind. Bereits die Beziehung des Säuglings zu den ihn versorgenden Personen wird als besonders bedeutend hervorgehoben für seine gesamte weitere psychische Entwicklung (Barlösius 2011, S. 11).

Essen wird deshalb als soziales Totalphänomen bezeichnet, weil sich dominante soziale Prozesse und Verhältnisse auf das Essen auswirken und das alltägliche Leben von Menschen beeinflussen (Barlösius 2011, S. 21). Von der Erzeugung, über die Verarbeitung und die Distribution bis hin zum Konsum gehören die materiellen, technischen, ideellen sowie die mentalen Aspekte des Essens in den Mittelpunkt der Betrachtung wie auch Prägungen, Vor- und Einstellungen, Esskultur und Werte in verschiedenen Epochen und Gesellschaften inklusive dazugehöriger Lebenswelten. Mit dem Nahrungsbedürfnis beginnt physisches und gesellschaftliches Leben, und die Art der Befriedigung macht grundlegende soziale Strukturen sichtbar. „Gesellschaften sind so, wie sie essen“, formuliert Barlösius in Abwandlung des bekannten Spruchs von Feuerbach: „Der Mensch ist, wie er isst“ (Feuerbach 1862, S. 26 ff.; nach: Barlösius 2016, S. 19). Die Aussage macht darauf aufmerksam, dass Nahrung in die meisten Dimensionen menschlichen Lebens hineinwirkt. Dazu gehören körperliche, psychische, soziale, wirtschaftliche und politische Dimensionen menschlichen Lebens. Max Weber war überzeugt davon, dass „aus dem Schoße der instinktgebundenen reaktiven Nahrungssuche die Entfaltung des rationalen Wirtschaftens“ stamme und damit das rationale Handeln insgesamt (Weber 1980, S. 35; nach: Barlösius 2011, S. 11). Die Verwobenheit der physischen Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme von Menschen mit Vergesellschaftungsprozessen wird sehr schnell sichtbar, und nicht zuletzt daraus ergibt sich auch die hohe Bedeutung für Soziale Arbeit.

Innerhalb der Lebenswelten rückt vor allem die gemeinsame Mahlzeit mit anderen Menschen in den Mittelpunkt, die als soziale Institution Integration und Differenzierung von Menschen bedeutet. Integrieren und Vergemeinschaften sowie Differenzieren und Ausgrenzen, diese beiden zentralen sozialen Prozesse sind in der Tischgemeinschaft so zu einer Institution zusammengefasst, dass darin ursprünglich die gesamte soziale Ordnung repräsentiert war (Barlösius 2011, S. 11). Gemeinsame Mahlzeiten gelten als besondere soziale Situationen, in denen Familien, aber auch andere soziale Gruppen Zugehörigkeit über die Wiederholung im Alltag oder zu besonderen Festanlässen erfahren (Schlegel-Matthies 2011, S. 27). Die gemeinsame Mahlzeit gilt als Vergemeinschaftungsform mit hoher Bindungskraft: Wer mit anderen gemeinsam isst, wird zeitweise Mitglied einer sozialen Gemeinschaft. Mahlzeiten repräsentieren in ihrer Materialität (z. B. Bestandteile, Kompositionen, Abfolgen) soziale Beziehungen wie Hierarchie, Inklusion und Exklusion oder Intimität sowie auch Distanz symbolisch zum Ausdruck gebracht werden kann (Douglas 1975; zit. nach: Brunner 2011, S. 208). Für Simmel geht von der Mahlzeit eine starke sozialisierende Kraft aus, und je stärker diese ist, desto stilisierter, ästhetischer und überindividuell regulierter läuft sie ab (Simmel 1910, S. 6). Mahlzeiten gelten für Tolksdorf als soziale Situationen, bei denen neben dem Stillen von Hunger und Durst verschiedene soziale Bedürfnisdimensionen untergebracht sind. Vorschriften und Regelsysteme, wie z. B. zu Sitzordnungen, Tischsitten, Tischgesprächen und Vorgaben zum gedeckten Tisch, haben über lange Zeiten Gültigkeit gehabt, während sie nun zunehmend in Auflösung begriffen sind. Ein Prozess der Informalisierung hat begonnen: Mahlzeiten finden zunehmend jenseits von Klasse und Stand statt, sodass in der Gegenwart kaum mehr allgemeingültige gesellschaftliche Normierungen gesehen werden und eher eine Vielzahl praktizierter Mahlzeitensysteme verschiedener Gruppen beobachtet werden kann, von denen ebenfalls intensive Bindungs- und Zugehörigkeitskraft ausgehen kann (Tolksdorf 2001, S. 250).

Während Barlösius aus soziologischer Perspektive den Blick auf Essen als soziales Totalphänomen lenkt und von dort aus in die Ausdifferenzierung weiterer soziologisch bedeutender Aspekte geht, werden in anderen disziplinären Zusammenhängen zunächst die Begriffe „Ernährung“ und „Essen“ definitorisch unterschieden und in der Folge dennoch oft synonym verwendet. In psychologischer Perspektive verstehen Pudel und Westenhöfer unter „Essen“ die gesamte Erlebnissphäre der Nahrungsaufnahme, einschließlich sozialer Bezüge, Ambiente, sämtliche Wahrnehmungen während und nach der Mahlzeit, und der Begriff „Ernährung“ bezieht sich eher einschränkend auf die tatsächlichen und/oder von den Esser*innen antizipierten physiologischen Wirkungen der Nahrung. Die gängige Bezeichnung müsste also anstatt Ernährungspsychologie eigentlich Esspsychologie lauten (Pudel und Westenhöfer 2003, S. 31).

In Bezug auf die Definition von Steinberg, die als „Essen“ die Alltagshandlung des Verzehrens und seiner Rahmungen bezeichnet, während „Ernährung“ als das theoretisch-normative Konstrukt zu dieser Handlung erfasst werden kann (Steinberg 2011; nach: Rose et al. 2021a, S. 244), grenzen sich Rose et al. ab und verstehen vor diesem Hintergrund die erziehungswissenschaftliche Essensforschung als eine, „(…) die sich primär der Alltagshandlung des Essens zuwendet, auch wenn dabei immer Aspekte der Ernährung als normative Maßgaben wirksam werden und damit auch in den Forschungsfokus geraten. Aus diesem Grund reflektieren unsere Ausführungen beide Begriffe“ (Rose et al. 2021a, S. 244).

Lemke nimmt das Nahrungsgeschehen als grundlegendes und facettenreiches Phänomen des kulturellen Lebens in den Blick. „Vielleicht isst der Mensch nicht ununterbrochen, aber die vielfältigen Dinge, die für die Produktion, die Vermarktung, die Besorgung, die Zubereitung und den Genuss von Essen unerlässlich sind, konstituieren ein beträchtliches Ausmaß der gesellschaftlichen Realität“ (Lemke 2008b, S. 7). Im Rahmen der Gastrosophie beteiligt sich Lemke aktiv daran, Essen als das Zusammenwirken sowie fundierte Nach- und Zusammendenken aller natur- und geisteswissenschaftlichen Fächer und Disziplinen zu etablieren. Die Wirklichkeit der Ernährungsverhältnisse setzt sich zusammen aus der Gesamtheit aller einzelnen Essakte, die überall in der Welt tagtäglich getätigt werden (Lemke 2008a, S. 222). Lemke unterscheidet fünf Essenswissensfelder als Bereichsethiken und ethisch relevante Erkenntnisfelder, die systematisch in Betracht gezogen und aus seiner Sicht gastrosophisch miteinander verschränkt werden sollten (Landwirtschaft, Politik, Ökonomie, kulinarische Alltagspraxis, körperliche und geistige Gesundheit) (Lemke 2008b, S. 10).

Für die Entfaltung des Themas Essen in der Sozialen Arbeit erscheint ausgehend vom Essen als sozialem Totalphänomen vorerst eine größtmögliche Offenheit für die unterschiedlichen Begrifflichkeiten bedeutend, denn das Wissen um die Komplexität rund um das Nahrungsbedürfnis und die verschiedenen Zuordnungen, was jeweilig dem Essen und der Ernährung zugeordnet wird und wie sie zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, wird aufgrund ihrer synonymen Verwendung noch erschwert. Essen als Oberbegriff umfasst in diesem Kontext alle für Soziale Arbeit relevant werdenden Aspekte, die zum Teil bereits in Verbindung gesetzt wurden (siehe Forschungsstand) oder die es eben noch aufzudecken gibt.

In der folgenden Situation, die von Sandermann und Neumann in ihrem „Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit“ (2018) als Beispiel konstruiert wurde zur Verdeutlichung des konstitutiven Zusammenhangs von Theorie und Praxis, fällt dem Angebot eines Kaffees eine bedeutende Rolle zu. Gedanklich wird eine Beratungssituation geschaffen, in der eine bestimmte Atmosphäre geschaffen werden soll. Doch diese müsste erst einmal sozialpädagogisch gedacht werden, bevor sie beinahe mühelos als offene, gastfreundliche, niedrigschwellige Situation wahrgenommen werden könne. „Wenn man z. B. die Auffassung vertritt, dass es für den Aufbau einer sog. ‚helfenden‘ Beziehung zu einer Klientin, die man in einer Beratungssituation adressieren will, wichtig ist, sich Zeit zu nehmen, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen sowie konzentriert und zugewandt zu sein, so ist diese Auffassung nicht ganz so bedingungslos ‚praktisch‘ wie sich das vielleicht zunächst anfühlt. Und zwar nicht deshalb, weil damit bereits tiefgreifende theoretische Vorstellungen von entscheidenden Kriterien eines ‚sozialpädagogischen Beziehungsaufbaus‘ verbunden sind, sondern auch schon einer viel banaleren Ebene. Denn um z. B. überhaupt so etwas wie eine ‚ruhige Atmosphäre‘ schaffen zu können, braucht man eine theoretische Vorstellung davon, was das sein könnte. Nur so kann man sich bei der Herstellung einer entsprechenden Situation zumindest grob orientieren“ (Sandermann und Neumann 2018, S. 23). Zu dem Kaffee könnten je nach Situationsgestaltungserfordernissen, Adressat*innengruppen oder Handlungsfeld weitere Nahrungsmittel dazu genommen werden, z. B. Kekse oder Kuchen, eine Bratwurst oder Suppe, vielleicht auch eine Zigarette, immer in Abhängigkeit von den mit ihnen verbundenen Zielsetzungen, wie z. B. Annäherung, Augenhöhe, Beziehungsbeginn oder eine einladende Atmosphäre im Rahmen von Gastlichkeitsvorstellungen. Die Herstellung dieser Verzehrsituationen wird eher mit ambulanten, niedrigschwellig angelegten Settings verbunden. Im teilstationären und stationären Bereich hingegen besteht in vielen Arbeits- und Handlungsfeldern Sozialer Arbeit die Notwendigkeit einer Essensversorgung, in denen mit einer täglich zur Verfügung stehenden Verpflegungspauschale die Anforderungen an die Ernährung entlang konzeptioneller Vorstellungen verwirklicht werden müssen. In einem Projekt zur altersgemäßen Differenzierung der Verpflegung in stationären Jugendhilfeeinrichtungen in Sachsen beträgt die Verpflegungspauschale zwischen 4,95 € bis 5,54 € täglich für eine Person zwischen 1 und 18 Jahren (Parikom 2019, S. 9). Allein der relativ niedrige Betrag verdeutlicht bereits die hohen Anforderungen, mit denen Soziale Arbeit bezüglich der Nahrungsplanung, dem Einkauf sowie der Zubereitung konfrontiert wird. Mahlzeiten bzw. Verzehrsituationen strukturieren den Tagesablauf, und mit ihnen werden Fragen z. B. der Erziehung, Bildung, Gesundheit, Nachhaltigkeit, Esskultur, Geschmack und Genuss bewältigt sowie soziale Differenzierungen vorgenommen, die über den jeweiligen Betrag der Verpflegungspauschale ebenfalls festgelegt werden.

Die Herstellung von Essenssituationen in der Sozialen Arbeit setzt Erkennen, Beschreiben, Wissen, Inszenieren und Reflektieren um ein besonderes, täglich wiederkehrendes Ereignis voraus, in dem über die Verpflichtung zur Unterstützung bei der Bewältigung und Gestaltung von Lebenswelten konstitutive Aufgaben Sozialer Arbeit liegen. (Sozialpädagogische) Forscher*innen entdecken das Thema Essen zunehmend in seiner komplexen Bedeutung für Soziale Arbeit als Forschungsgegenstand.

3 Übers Essen etwas wissen wollen – zum (inter)disziplinären Forschungsstand

Noch 2009 schätzt Dell’Agli die bisher erfolgte (sozial- und kultur)wissenschaftliche Erschließung des Phänomens Essen vergleichsweise gering ein, trotz der unvergleichlichen Komplexität, die das Thema bietet und obwohl es wohl kaum eine Disziplin gebe, die nicht von gastrosophischen Diskursen in Anspruch genommen werden könnte (Dell’Agli 2009, S. 11). Das Ignorieren des Themas Essen erscheint für Dell’Agli verknüpft mit der Kontinuität und Frequenz sowie daraus folgender Routinisierung des Essens bis zur Unauffälligkeit im alltäglichen Verlauf. Die damit verbundene Fremdbestimmtheit des Menschen über das Essen wird als Unfreiheit erfahren, wenn sie bewusst reflektiert wird und führe zur Aversion. Daraus folgt, sich nicht mehr als unbedingt nötig damit zu befassen, und es fällt leicht, diese Tätigkeit gering zu schätzen (Dell’Agli 2009, S. 10). Lemke hebt hervor, dass diejenigen, die sich bisher im Wissenschaftsbereich aus ihrer jeweiligen Disziplin heraus mit dem Thema Essen beschäftigen, es eher nebenbei erledigen, während sie gleichzeitig unter Rechtfertigungsdruck geraten hinsichtlich ihrer Kolleg*innen (Lemke 2008b, S. 5 f.; Kaufmann 2006). Seiner Einschätzung nach gibt es eine abschätzige Haltung gegenüber tischgesellschaftlichen Fragen, die jedoch als unwissenschaftliches Vorurteil zu gelten habe (Lemke 2008b, S. 10).

Trotzdem ist seit den 1980er Jahren eine Flut und Fülle an Veröffentlichungen zum Thema erschienen. Vor allem kulturtheoretisch ausgerichtete Beschäftigungen mit der Essensthematik haben wieder begonnen in der strukturalistischen und historischen Anthropologie, in der Kultursoziologie im Anschluss an Norbert Elias und Pierre Bourdieu, in der Historiografie sowie in den Postcolonial Studies oder in der Feministischen Theorie. Es zeichnet sich eine Kulturwissenschaft des Essens ab (Lemke 2008b, S. 10). Barlösius Bilanz ist anschlussfähig an Lemke mit ihrer Einschätzung, dass das Kulturthema Essen in der Ethnologie und der Kulturanthropologie zu einem respektablen Forschungsgebiet entwickelt wurde. Innerhalb der Geschichtswissenschaft, in der die Ernährungsgeschichte seit einigen Jahren einen anerkannten Forschungsgegenstand repräsentiert, ist der Aufbau und die Etablierung des Kultur- und Sozialthemas Essen als eigenständiges Forschungsgebiet ebenfalls gelungen. In der Psychologie wurde als Spezialisierung die Psychologie des Essens aufgebaut (Barlösius 2011, S. 23). Darüber hinaus finden sich in der Politologie und Wirtschaftswissenschaft Arbeiten zur Ernährung, und zunehmend werden im Nachhaltigkeits- und Antiglobalisierungsdiskurs gesellschaftliche Fragen der Ernährung berücksichtigt (Lemke 2008b, S. 10). Insgesamt gibt es bisher aus sozialwissenschaftlicher Sicht keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin mit dem Forschungsgegenstand des Kultur- und Sozialthemas Essen. Vielmehr wird jeweils auf spezielle Aspekte des Themas abgezielt, somit bildet es jedoch bestenfalls ein etabliertes Randthema, während es in den meisten anderen Sozial- und Kulturwissenschaften eher ein Vertiefungsthema ohne eigene Forschungsprogrammatik darstellt (Barlösius 2011, S. 23). Allerdings wurde auch die Spezifität nicht klar genug herausgearbeitet, deren Grundannahme darin liegt, „(…) dass eine soziale Eigenbedeutung des Essens nur dann erkennbar wird, wenn sowohl die natürliche Bedingtheit der Ernährung als auch die soziale Gestaltung des Essens gleichermaßen anerkannt werden“ (Barlösius 2011, S. 23). Zur Soziologie des Essens gehört damit als Ausgangspunkt die Bestimmung des anthropologischen Charakters dieses Lebensgebiets. Ansonsten könne die soziale Gestaltung nur als Anschlussorganisation an die natürliche Bedingtheit begriffen und die soziale Eigenbedeutung nicht erfasst werden (Barlösius 2011, S. 23).

In der Sozialen Arbeit stellt das Thema Essen bis 2009 vor allem ein Beifang-Thema dar. Seit der Veröffentlichung des Herausgeberbandes von Rose und Sturzenhecker „‚Erst kommt das Fressen …!‘ Über das Essen und Kochen in der Sozialen Arbeit“ (2009) lässt sich allerdings ein Wandel beobachten. Die Publikation bringt eine heterogene, noch eher ungeordnete Vielfalt an Themen ein z. B. zur konstitutiven Verbindung von Essen und Sozialer Arbeit, alltags- und lebensweltlichen Bedeutungen des Essens (auch in Klassikern), Forschungsergebnisse ethnographischer Studien sowie Fragen des Geschmacks oder der Gesundheit. Retrospektiv erscheint die Publikation nahezu ein Startpunkt zu sein für die daraufhin einsetzende Forschungs- und Publikationsflut in der Erziehungswissenschaft bzw. Sozialen Arbeit. Seither wurde sowohl an den von Rose und Sturzenhecker eingebrachten als auch an weiteren Perspektiven gearbeitet.

Im folgenden Verlauf zeigt die Zusammenschau, welche Bereiche bzw. Themen insbesondere im Fokus der Bearbeitung stehen, von denen sich einige inhaltlich mit der Erziehungswissenschaft überschneiden und solche, die explizit stärker für Soziale Arbeit bedeutsame Fragen bearbeiten. Die Thematisierungen liegen vor allem in den Bereichen rund um das Familienessen zwischen der Herstellung der Familie und der familialen Nahrungssorge um das Kind (Audehm 2016, 2007) und seine Ernährungserziehung (Seichter 2012; insbesondere auch zur (kultur)kritischen Betrachtung des Stillens (Rose et al. 2017; Seichter 2014)). Das Essen in Kindertageseinrichtungen bzw. der Grundschule (Schulz 2010, 2016; Tull 2014, 2021) als erzieherisch überfrachtet und permanente Bildungsangelegenheit entlarvt, zeigt in weiterführenden Schulen (Rose 2012; Täubig und Schütz 2020; Wittkowske et al. 2017; Schütz 2015; Althans et al. 2014) noch etwas Anderes. Über die Ernährung in der Schulverpflegung wird versucht, effektiveres Lernen, gesteigerte Leistungsfähigkeit und gesundheitsförderliche Aspekte zu erreichen. Das Schulessen wird als bevölkerungs- und gesundheitspolitischer Zugriffs- und Regulierungsort identifiziert (Rose 2012, S. 235). In der stationären Kinder- und Jugendhilfe wird vor allem die Strukturierung des Alltags über die Mahlzeiten deutlich (Behnisch 2018; Parikom 2019; Alagöz et al. 2017; Adio-Zimmermann et al. 2016), während in der Sozialpädagogischen Familienhilfe (Behnisch 2010) z. B. Fragen der Gastlichkeit hervortreten. Thematische Schwerpunktsetzungen werden erkennbar in Abgrenzung zur vorherrschenden Gesundheitsnormierung über die naturwissenschaftlich orientierte Ernährungs- und Gesundheitswissenschaft (Sting 2009). Die Veröffentlichung „Fat studies in Deutschland“ (Rose und Schorb 2017) und die Bezeichnung „Gesundheitsregime“ im Rahmen ernährungserzieherischen Bemühens in der stationären Kinder- und Jugendhilfe verdeutlichen den starken Sog, hergestellt über essensbezogenen Normierungen (Rose 2019). Orte des Verzehrs in Zusammenhang mit Lebensalter, wie z. B. das Fast Food Restaurant für Jugendliche, rücken ebenfalls in den Mittelpunkt der Betrachtung (Schmidt 2019, 2018). Schwerpunkte, die besonders in den Blickwinkel der Betrachtung rückten und zu denen einiges an Erkenntnissen, in Theorie und Forschung vorliegt, beziehen sich auf das Essen in der Familie sowie in den Institutionen der Erziehung und Bildung. Darüber hinaus liegen explizit zwei Einführungen vor. Die Einführung „Essen und Soziale Arbeit“ (Meyer 2018) basiert auf der Zielsetzung, die Bedeutung des Themas Essen in der Sozialen Arbeit grundlegender und gleichzeitig breit über die Vielzahl der verschiedenen Arbeits- und Handlungsfelder der Sozialen Arbeit sichtbar zu machen über die Bündelung bisher veröffentlichter relevanter Aspekte. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit zur Verpflegung wurde in den Mittelpunkt gestellt. 2021 folgte die Einführung „Hunger und Soziale Arbeit“, mit der vor allem die konstitutive Verbindung von Sozialer Arbeit und Essen fokussiert wird. Die Befriedigung prekärer, existenziell bedrohlicher Lebenslagen gehört konstitutiv zu den Aufgaben Sozialer Arbeit und zieht sich durch die Historie (Hering und Münchmeier 2007). Die Themen Hunger und Essen werden auch in den Schriften der Heimerziehung aufgenommen. Sie werden jedoch eher in randständig-anekdotischer Form bearbeitet und weniger im Schwerpunkt (Adio-Zimmermann et al. 2016, S. 190). Beispiele dazu finden sich bei Janusz Korczak (2005), August Aichhorn (1965 [1951]), Stefania Wilczynska (stellvertretende Leiterin in Janusz Korczaks Kinderhaus; Sachs 1989), Anton Makarenko (1963 [1948]), Siegfried Bernfeld (13,14,a, b) oder Anna Freud und Dorothy Burlingham (1971 [1949]) und Bruno Bettelheim (1989 [1974]). Die vier Letztgenannten haben sich intensiver mit Hunger-Essens-Fragen auseinandergesetzt, z. B. im Hinblick auf Ernährungserziehung im Säuglings- und Kleinkindalter (Freud und Burlingham 1971), Essensrevolten in Kinderheimen (Bernfeld 13,14,a, b) und die heilsame Wirkung von therapeutisch angelegten Speiseräumen und Mahlzeiten in psychiatrischen Kontexten (Meyer 2021). Insgesamt werden von ihnen die bis dahin üblichen pädagogischen Handhabungen kritisiert, wenn sie die quantitativ und qualitativ minderwertige Nahrung, die „kulinarische Ungleichheit“ oder die Praxis des Essensentzugs als Strafe problematisieren. Sie setzen sich stattdessen für einen offenen Zugang zu Nahrungsmitteln, kulinarische Gleichheit zwischen sozialen Schichten sowie die gleiche Versorgung von Personal und Zöglingen ein (Rose et al. 2021a). Diese Forderungen tauchen punktuell auch in aktuellen Forschungen wiederkehrend auf (Ackermann und Robin 2017). Der missbräuchliche Umgang mit dem Hungerbedürfnis zeigt sich insbesondere in totalen Institutionen (Goffman 1972), z. B. im Strafvollzug, wo er von Foucault als wirkungsvolles Überbleibsel peinlicher Strafen entlarvt wurde (Foucault 1994). Dazu gehört das Vorenthalten von Nahrung oder die Versorgung mit minderwertiger Nahrung. Vor allem in der Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre ist es nicht unüblich, Kinder und Jugendliche mit Essen bzw. beim Essen Gewalt anzutun, in dem sie vor übervollen Tellern mit minderwertiger Nahrung so lange sitzen bleiben müssen, bis sie diese komplett geleert haben; zudem werden sie z. T. gezwungen, das eigene Erbrochene aufzuessen (Kuhlmann 2008; Wensierski 2007).

Pfeiffer (2014) unterscheidet Hunger als existenziell bedrohlichen fehlenden Zugang zu Nahrungsmitteln, der in der derzeit vorherrschenden Überflussgesellschaft kaum sichtbar wird auch aufgrund materieller Hilfen, wie z. B. Lebensmitteltafeln (Selke 2011) und Ernährungsarmut als fehlende Teilhabe an der Vielfalt kulinarischer Lebenswelten, wie z. B. Ernährungsweisen oder Restaurantbesuche. Ungleiche Verteilungen und Zugänge bestehen also auch über die Mangelgesellschaft hinaus und bleiben zu unsichtbar als bestehende Hungererfahrungen oder Ernährungsarmut. Im Rahmen der Verlagerung der Aufgaben des Wohlfahrtsstaates zu einem Postwohlfahrtsstaat wird dieses Vorgehen unter der Überschrift „Mitleidsökonomie“ (Kessl et al. 2015; Kessl und Schoneville 2013) kritisch betrachtet. Vereinzelte Thematisierungen zum Essen in der Sozialen Arbeit finden sich ansonsten, z. B. bei Schwendtner (1995), zu sozialen Ungleichheiten beim Essen oder im Rahmen der Entwicklung Sozialer Gesundheitsarbeit (Homfeldt 1994, 2016; Homfeldt und Sting 2006; Walther 2015). In der grünen Sozialarbeit bzw. sozialen Landwirtschaft werden ebenfalls Fragen nach dem Essen bedeutsam, denn Soziale Arbeit ist in diesem Zusammenhang oft mit der Produktion und Distribution von zumeist nachhaltigen Nahrungsmitteln befasst (Limbrunner und van Elsen 2013). Fragen der Nachhaltigkeit betreffen nicht nur die Herstellung von Nahrungsmitteln, vielmehr zeigt sich in einer Studie der Arbeiterwohlfahrt zum CO2-Fußabdruck in Kindertagesstätten und stationären Pflegeeinrichtungen, dass die Verpflegung mit Abstand den größten Anteil an den Gesamtemissionen ausmacht, und zwar bis zu 50 %. Die Verringerung des Fleischanteils sowie die Erhöhung des Anteils von Bio-Produkten im Bereich Verpflegung gelten als maßgebliche Stellschrauben zur Senkung des CO2-Fußabdrucks (AWO-Bundeskonferenz 2017). Die Erhöhung der Aufmerksamkeit auf das Thema Essen in der Sozialen Arbeit würde nicht nur aufgrund angestrebter Nachhaltigkeitsziele eine Fülle an Fragen aufwerfen, die auch im erheblichen Maß die Finanzierung des Essens beträfen (Meyer 2018; Parikom 2019). Eine weitere Einführung ist 2022 erschienen, die sich mit drei Genussmitteln und deren Bedeutung für Soziale Arbeit befasst. Mit den Genussmitteln Kaffee, Tabak und Zucker lassen sich weitere wesentliche Aspekte für Soziale Arbeit herausarbeiten. Genussmittel gelten ursprünglich als Luxus, die für den Nährwert unerheblich sind, so dass sich mit ihnen gesellschaftlich bedeutsame sozial differenzierende Herausbildungen in Bezug auf Genuss und Geschmack zeigen lassen. Darüber hinaus berühren sie andere Felder, wie z. B. die viel diskutierte Grauzone zwischen Genuss- und Suchtmittel beim Tabak. Kaffee, Zucker und (zunehmend weniger) Tabak bilden traditionell eine Einheit, wenn es darum geht, eine einladende Atmosphäre zu schaffen. Eine Zigarettenlänge kann zudem z. B. eine niedrigschwellige Begegnung ermöglichen (Meyer 2022). In aufsuchenden Settings wird wiederkehrend auf die Beachtung der Rolle als Gast hingewiesen, die beim Hausbesuch jedoch unweigerlich zu Rollenkonflikten führen muss (Pantucek-Eisenbacher 2019; Urban-Stahl 2009; Gerull 2014; Behnisch 2010).

Unabhängig davon, ob das Thema Essen entlang der Lebensalter (z. B. Kindheit, Jugend oder Alter), vereinzelter Lebenslagen (z. B. Essen und Armut, Essen im Strafvollzug, Essen und Flucht) oder entlang der Aufgaben Sozialer Arbeit in Einrichtungen mit Gemeinschaftsverpflegungen (z. B. Kindertageseinrichtung, Schulen oder Altenheimen) betrachtet wird, in jedem sozialpädagogischen Setting kommt es zu Verzehrsituationen, die von Sozialer Arbeit gestaltet und verantwortet werden oder an denen Soziale Arbeit zumindest beteiligt ist. Das Thema Essen ist sozialpädagogisiert und Soziale Arbeit davon durchzogen. Das zunehmende Interesse seit 2009 hat noch lange nicht alle primordial bedeutenden Aspekte hervorgebracht, so dass es für die sozialpädagogische Forschung noch viele zu entdeckende und zu bearbeitende Fragen quer durch alle Arbeits- und Handlungsfelder gibt. Darüber hinaus wäre es von Bedeutung, essensbezogene Fragen in der Sozialen Arbeit stärker mit sozialpädagogischen Theorieansätzen zu verbinden, denn sie sind z. B. sowohl lebenswelt- oder bewältigungsbezogen als auch im Hinblick auf postwohlfahrtsstaatliche oder capabilitybezogene Aspekte bedeutsam. Damit entstehen ergiebige Möglichkeiten zur Bearbeitung primordial bedeutsamer Fragen in der Sozialen Arbeit in Bezug auf das Nahrungsgeschehen. Täubig (2016) und (Rose et al. 2021a) benennen zudem explizit eine Fülle an offenen forschungsbezogen relevanten Fragen in den Bereichen von Erziehung und Bildung. Durchgängig fehlen neben den bisher überwiegend qualitativen Forschungsdesigns quantitative bzw. Mixed-method-Forschungen durch alle Arbeits- und Handlungsfelder der Sozialen Arbeit. Eine größer angelegte Forschung wird derzeit als Mixed-method-Studie zu „Essenspraktiken Jugendlicher in stationären Erziehungshilfen“ (Barthels et al. 2019) durchgeführt, und in dem Netzwerk „EssensPaed – Erziehungswissenschaftler_innen machen das Essen zum Thema“ werden regelmäßig Forschungsfragen und -designs gemeinsam diskutiert (http://essenspaed.de/).

4 Über das Ende der systematischen Vernachlässigung des Themas Essen in der Sozialen Arbeit

Zum Abschluss dieses allgemeinen Überblicks zur Bedeutung des Themas Essen in der Sozialen Arbeit lässt sich mit Bezug auf die Einschätzung Brumliks zusammenfassen, dass das Thema Ernährung für die praktische Pädagogik von Anfang an von höchster Bedeutung war. Doch im Verlauf der Verwissenschaftlichung der Pädagogik ist es herabgesunken auf das Niveau von Ratgeberliteratur (Sauerbrey et al. 2019) und systematisch vernachlässigt worden (Brumlik 2012, S. 5). Fragen nach dem Essen in der Sozialen Arbeit zu stellen, offenbart die Komplexität der verschiedenen damit verbundenen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen, kulturellen und kommunikativen, psychologischen und sozialpädagogischen, genuss- und geschmacksbedingten, nachhaltigkeits- und gesundheitsbezogenen sowie ökonomischen Perspektiven, von denen die explizit für Soziale Arbeit bedeutenden Aspekte noch nicht alle bekannt sind und eben auch noch nicht in einem Zusammenhang vorliegen. „Dies alles beim Essen zu ermöglichen, setzt in der Profession voraus, diese Dimensionen überhaupt zu sehen und sehen zu wollen“ (Rose 2010, S. 53). Diese Forderung gilt ebenfalls für die disziplinäre Entwicklung, doch das schnell gewachsene Interesse innerhalb der letzten zehn bzw. 15 Jahre steigert die Erwartung auf die weiteren Auseinandersetzungen mit diesem für Soziale Arbeit so ergiebigen Themenschwerpunkt.