1 Forschungsstand

Das hier vorgestellte Projekt führt unsere Forschungen im Rahmen der Studie „Fallkonstitutive Urteilsbildung am Beispiel von Kindeswohlgefährdungseinschätzungen bei unangemeldeten Hausbesuchen in der Sozialen Arbeit“ fort. Dort konnte auf Basis ethnographischer Beobachtungen eine Heuristik rekonstruiert werden, die zeigt, wie Fachkräfte des Jugendamts bei der Verdachtsabklärung im Kinderschutz Sense-Making betreiben und zu der Entscheidung gelangen, ob sie einen Fall abschließen oder eine erzieherische Hilfe vergeben (Freres et al. 2019). Die Heuristik zeigt zugleich, welchen zentralen Stellenwert die Familiengerichte in der Urteilspraxis einnehmen – sei es antizipierend im Urteil der Fachkräfte, oder formal bei der Anrufung des Gerichts. Kinderschutzfachkräfte bilden u. a. mit Richter*innen ein „Urteilsnetzwerk“ (Bastian 2019). Dieses Sense-Making (Doherty 2016; Whittaker 2018) in Urteilsnetzwerken soll nun genauer mit Blick auf das Zusammenwirken von Jugendämtern und Familiengerichten ethnographisch untersucht werden. Damit wird das „theoretical sampling“ des Vorgängerprojektes konsequent fortgeführt.

Wie wir bereits dargelegt haben (Freres et al. 2019), entwirft der Blick auf den internationalen Forschungstand zur Urteils- und Entscheidungsfindung im Kinderschutz kein gutes Bild der Profession der Sozialen Arbeit. Viele Studien zeigen Mängel in der Gefährdungseinschätzung hinsichtlich einer ungenügenden Auseinandersetzung mit erhobenen Informationen und ihrer Kombination (Taylor 2017; Spratt et al. 2015). Der vor allem in quantitativen Studien vorgenommenen Abgleich des Vorgehens der Fachkräfte mit evidenzbasierten Assessmentinstrumenten weist auf ein Defizit der Einschätzungskompetenzen der Professionellen hin (van der Put et al. 2017). Es wird darauf hingewiesen, dass diese eher intuitiv und mithilfe nur schwer explizierbarer Heuristiken vorgehen (Wilkins 2013). Zugleich zeigen qualitative Studien, dass diese Heuristiken auch nicht den Anforderungen des rekonstruktiven Fallverstehens genügen, wie es vor allem im deutschen Professionalisierungsdiskurs gefordert wird (Hildenbrand 2017). Stattdessen würden unreflektiert die Problemlösungen, Problemdeutungen und Beobachtungskategorien anderer Professionen, insbesondere die der Medizin, übernommen (Hildenbrand 2017; Marks und Sehmer 2017), statt auf eine eigene Fachsprache zurückzugreifen, mit der sie Gefährdungen beschreiben und Interventionen begründen (Doherty 2016; Bühler-Niederberger et al. 2014). Anstelle der Hilfeorientierung dominiert eine Defizitzuschreibung (Übersicht: Schrödter 2020) und ein eklatanter Mangel an Partizipationsmöglichkeiten der Eltern und vor allem der Kinder, zumal insbesondere die Mütter in die Verantwortung genommen würden und ihnen die Schuld für etwaige Gefährdungen und Schädigungen des Kindeswohls zugeschrieben würden (Arbeiter und Toros 2017; Marks und Sehmer 2017).

Die von uns im Vorgängerprojekt rekonstruierte Heuristik gibt bereits zentrale Hinweise zum Vorgehen der Fachkräfte und hilft, dieses besser zu verstehen, jenseits von vorschnellen Deutungen eines Professionalisierungsdefizit. Dennoch zeigte sich dort bereits früh ein weiterer Forschungsbedarf, der über die Untersuchung der Urteilspraxis innerhalb der Jugendämter hinausweist, da sich die Urteilspraxis in einem Netzwerk von Teamgesprächen, Supervision und vor allem auch in Gerichtsverhandlungen vollzieht. Das heißt, das Urteilsnetzwerk erweitert sich ständig um weitere Akteur*innen, bei denen das Familiengericht eine zentrale Stellung einzunehmen scheint (Bastian et al. 2017; Freres et al. 2019). Während wir im Vorgängerprojekt einigen dieser Akteur*innen an die entsprechenden Orte, vor allem innerhalb des Jugendhilfesystems folgen konnten, gilt es nun – um die Frage der Urteils- und Entscheidungsfindung im Kinderschutz zu beantworten –, auch den zentralen Ort der Gerichtsverhandlungen zu untersuchen. So geht es in der für die Heuristik hochrelevanten Beurteilung der Fachkräfte, was als offensichtliche Schädigung des Kindeswohls zu gelten hat, immer auch um die Frage, welche Schädigungen gegebenenfalls vor Gericht als „Kindeswohlgefährdung“ geltend gemacht werden können. Das Gleiche gilt für die „Kooperationsbereitschaft“, die ebenfalls Produkt einer konstruktiven Interpretationsleistung ist und gegebenenfalls vor Gericht bestand haben muss. Es scheint sich eine Urteilsbildungshierarchie abzuzeichnen, in der die juristische Urteilsbildung höher als die sozialpädagogische angesiedelt ist, wodurch Letztere mit ihren adressat*innenbezogenen Aufträgen geschwächt werden würde.

2 Ziele und Design

Orientiert an der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967), soll die professionelle Urteilsbildung als ein sozialer Sachverhalt untersucht werden, der von Fachkräften in der sozialpädagogischen Praxis immer wieder neu hervorgebracht wird. Zugleich orientieren wir uns an den von Bruno Latour und anderen vorgelegten Ideen einer symmetrischen Anthropologie (Latour 2008) und dem methodischen Programm der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT, Callon 2006; Latour 2010), um die Wechselbeziehungen und Verbindungen im Urteilsnetzwerk angemessen rekonstruieren zu können. Während die Ethnomethodologie die Mikroprozesse des Sozialen in den Blick nimmt, fokussiert die ANT die Netzwerke, in denen diese Praktiken hervorgebracht werden, sowie die darin verwobenen unterschiedlichen menschlichen und nichtmenschlichen Akteure. Objekte, wie Dokumentationen, Aktennotizen, Diagnosebögen, werden als gleichberechtigte soziale Akteur*innen neben menschlichen Akteur*innen betrachtet, denn Handlungen, wie etwa Urteile, werden erst in den Beziehungen, in denen sie sich vollziehen, zu dem, was sie sind (Bastian 2017).

Konkret werden vier Jugendämter samt zuständiger Familiengerichte beforscht. Ziel ist die Beobachtung von bis zu 20 Gerichtsfällen samt flankierender Beobachtungen der Vor- und Nachbereitungsprozesse in den entsprechenden Jugendämtern. Es werden dazu über einen längeren Zeitraum hinweg klassische teilnehmende Beobachtungen (Spradley 2016) an den Projektstandorten durchgeführt sowie Experteninterviews (Meuser und Nagel 2009) mit den Richter*innen geführt und anhand der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996) ausgewertet.