Wohnen ist in den vergangenen Jahren zu einem der gesellschaftlichen Schlüsselthemen geworden. Fragen der Vergesellschaftung wie der sozialen Ausschließung werden ebenso in Bezug auf das Wohnen diskutiert wie Fragen der ökologischen Transformation. Zugleich erweist sich diese vielfältige Thematisierung des Wohnens auch als eine Schwierigkeit, die unterschiedlichen sozialen Praxen angemessen zu erfassen, die als Wohnen in den Blick gerückt werden. Daher wird innerhalb englischsprachiger Debatten inzwischen eine Differenzierung von unterschiedlichen Modi des Wohnens vorgeschlagen: z. B. von „shelter“, „housing/dwelling“ und „home“ (vgl. Boccagni/Kusenbach 2020; Ruonavaara 2018). Aber auch in Bezug auf die unterschiedlichen Alltagsmuster und politischen Regulationsmodi, die hinsichtlich des Wohnens diskutiert werden, lassen sich z. B. mit Lucas Pohl et al. (2020) sowohl persönlich-biographische als auch sozial-strukturelle Dimensionen dieser grundlegenden kulturellen Praxis aufrufen, ein Dach über dem Kopf zu haben. Eine Wohnung stellt daher auch viel mehr dar als bloß ein physisches Behältnis, in dem Menschen einen Raum für ihre Intimität finden (siehe die Beiträge in Hannemann et al. 2022) oder aber Übergriffen in ihrem sozialen Nahraum relativ wehrlos ausgesetzt sind.

Vor diesem Hintergrund steht der vorliegende Blickpunkt, der sich der gegenwärtigen Praxis und Politik des Wohnens, wie sie sozialpolitisch, sozialpädagogisch und sozialarbeiterisch thematisiert und realisiert werden, zuwendet. Dazu rücken die Autor:innen drei Aspekte in den Mittelpunkt: (1) die bisherige und gegenwärtige Thematisierung des Wohnens in den Feldern der Sozialen Arbeit und der sozialpädagogischen Forschung, (2) Wohnen als (neue) soziale Frage und (3) Wohnen als Alltag im sozialpolitischen und sozialarbeiterischen resp. sozialpädagogischen Kontext der Gegenwartsgesellschaft.

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    Die (bisherige und gegenwärtige) Thematisierung des Wohnens in den Feldern der Sozialen Arbeit und der sozialpädagogischen Forschung

Wohnen wird in bisherigen sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Debatten vielfach nicht als relevante Einflussgröße betrachtet, die einer eigenen Reflexion bedarf. Vielmehr gerät Wohnen zumeist nur „beiläufig und implizit“ (Meuth 2018, S. 18) in den Blick. Trotz der Skandalisierung institutioneller Wohnformen, z. B. im Zuge der Heimkampagnen seit Mitte der 1960er Jahre angesichts der anstaltsförmig arrangierten Fürsorgeerziehung, bleibt das Wohnen als alltägliche Praxis im sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Kontext, aber auch dessen fachliche Organisation, bis heute weithin dethematisiert. Dies ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil gerade die stationären Settings der Jugend‑, Eingliederungs- oder Behindertenhilfe, aber auch andere Unterbringungsformen, wie Schutz- und Frauenhäuser, verdeutlichen, dass die Praxis und Organisation des Wohnens von grundlegender sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Bedeutung sind. Miriam Meuth (Zürich) setzt sich in ihrem einführenden Beitrag „Capabilities und Wohnen – eine Programmatik für erziehungswissenschaftliche Forschung und Praxis Sozialer Arbeit“ daher mit unterschiedlichen beruflich institutionalisierten Wohnkonstellationen auseinander. Mit Hilfe des Capability Approach regt sie an, die Bedeutung von Wohnen in Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik neu zu denken.

Der Beitrag von Simon Güntner und Roswitha Harner (beide Wien) „Wohnen, Wohnungslosigkeit und Wohnungslosenhilfe“ verortetet aktuelle sozialpädagogische und sozialarbeiterischer Ansätze zur Wohnungslosigkeit vor dem Hintergrund historischer Entwicklungslinien. Deutlich wird dabei, dass Wohnen in dem bisher prägenden Arbeitsfeld zumeist erst ad negativo in den Fokus kommt: Wenn Menschen Normvorstellungen des Wohnens nicht mehr entsprechen (können) und als wohnungslose Personen im öffentlichen Raum sichtbar werden, werden sie zum sozialpolitischen und sozialpädagogischen resp. sozialarbeiterischen Gegenstand. Diese Logik wird in den Diskussionen um Wohn(ungs)politik und Wohnungslosenhilfe seit einigen Jahren aber zunehmend kritisch diskutiert – und unter anderem darauf verwiesen, dass Wohnungslosigkeit als soziales wie biographisches Phänomen sehr viel differenzierter betrachtet werden muss. Doch nicht nur das: Auch bisherige Lösungswege, die am Verhaltensmuster und den psychologisch-biographischen Problemkomplexen betroffener Menschen ansetzen, werden durchbrochen. Ein Beispiel für entsprechende alternative Vorgehensweisen sind die sogenannten Housing-first-Ansätze, deren Prämisse die primäre Gewährleistung eines Wohnungszugangs darstellt.

Folgt man dem bisher formulierten Grundanliegen, Wohnen nicht als Nebensache oder nur als Spezialthema sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Auseinandersetzungen zu betrachten, bedarf es einer systematischen Bestimmung des Verhältnisses von Wohnen und Sozialer Arbeit und Sozialpädagogik ebenso, wie einer fachlich fundierten Positionierung angesichts der gegenwärtigen (neuen) Wohn(ungs)fragen. Sylvia Beck (Konstanz/Esslingen) greift deshalb in ihrem Beitrag „Zur Notwendigkeit und Chance einer sozial(räumlich)en Perspektive und einer Einmischung Sozialer Arbeit im interdisziplinären Diskurs zum Wohnen“ die soziale Dimension aktueller wohn(ungs)politischer Entwicklungen auf und plädiert für eine sozialräumliche und lebensweltorientierte Sicht. Mit dem Konzept „Wohnen als sozial(räumlich)e Praxis“ gelingt es der sozialpädagogischen Forschung wie den Einrichtungen und Akteur:innen im Feld, so Becks These, sich theoretisch und praktisch bewusster und reflektierter in aktuelle Wohn(ungs)fragen einzumischen und so eine eigene fachlich fundierte Position einzunehmen.

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    Wohnen als (neue) soziale Frage

Angesichts der massiven Prekarisierung von Wohn(ungs)verhältnissen, gerade im bundesdeutschen Kontext, sind in der jüngeren Vergangenheit diverse wohn(ungs)politische Initiativen und Bewegungen entstanden. Zugleich ist die Mobilisierung von Betroffenen selbst nur eingeschränkt zu beobachten: Mieter:innen, die von Wohnungsverlusten angesichts der immensen Aufwertungsdynamiken im Wohn(ungs)sektor bedroht und mit dem, gerade in Deutschland nur noch sehr eingeschränkten Engagement von Kommunen im sozialen Wohnungsbau konfrontiert sind, finden sich nur in sehr überschaubarer Zahl in sozialen Bewegungen, die sich woh(nungs)politisch engagieren. Im Angesicht dieser Ausgangssituation gehen Falk Künstler und Sebastian Schipper (beide Frankfurt a.M.) in ihrem Beitrag „Prekäre Wohnverhältnisse, Verdrängungsdruck und die Entstehung politischer Kollektivität in Frankfurt Westhausen“ der Frage nach, wie Mieter:innen in prekären Wohnsituationen solche Bedrohungen und eingeschränkte Wohnmöglichkeiten wahrnehmen, wie sie die Woh(nungs)frage insgesamt einschätzen und inwieweit sie sich als politisch handlungsfähig beschreiben und zeigen. Künstler und Schipper verweisen auf grundlegende Hindernisse und Einschränkungen für die Mobilisierung sozialer Bewegungen – und zugleich machen sie in den „Bedürfnisse[n] nach Zusammenhalt, Solidarität und Gemeinschaft wertvolle Anknüpfungspunkte [aus], die gleichzeitig als Grundlage zur Entstehung einer politischen Kollektivität unter Mieter*innen in prekären Wohnverhältnissen dienen können“, auch für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik.

Lina Hurlin (Leipzig), Elodie Vittu (Weimar), Anne Vogelpohl (Hamburg), Lisa Vollmer (Weimar) und Marcel Weikert (Weimar) schließen mit ihrem Beitrag „Organizing, Professionalisierung, Vernetzung: Aktuelle Entwicklungen der wohnungspolitischen Bewegung in Berlin, Hamburg, Jena und Leipzig“ an die Überlegungen von Künstler/Schipper insofern an, als sie die wohn(ungs)politischen Protestbewegungen der vergangenen Jahre auf deren Charakteristika hin analysieren. Am Beispiel Berlin, Hamburg, Jena und Leipzig gelingt es ihnen damit, zentrale Tendenzen herauszuarbeiten, womit ein mehrdimensionales Bild der gegenwärtigen Konstellation entsteht – ja mehr noch: eine wohn(ungs)politische Konstellation, die von zentralen Spannungsfeldern gekennzeichnet ist.

Derartige Analysen sind von grundlegender Bedeutung für die Frage, wie mit Wohnen als Praxis und Organisationsgegenstand im sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Kontext umgegangen wird: Der Wohn(ungs)alltag von (potenziellen) Nutzer:innen und Adressat:innen muss nicht nur systematischer in den Blick genommen werden, wie Künstler/Schipper in ihrem Beitrag zeigen, sondern auch mit den laufenden wohn(ungs)politischen Auseinandersetzungen vermittelt werden. Dazu ist die historisch eher konflikthafte Beziehung Sozialer Arbeit zu wohnungspolitischen Bewegungen neu aufzunehmen und zu bearbeiten. Soziale Arbeit und Sozialpädagogik sind angesichts des Wohnalltags ihrer (potenziellen) Nutzer:innen und Adressat:innen unweigerlich mit wohn(ungs)politischen Fragen, und damit auch dem Wohnen als neuer sozialer Frage konfrontiert.

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    Wohnen als Alltag im sozialpolitischen und sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen Kontext

Wie sich der Wohnalltag gerade in besonders prekarisierten Lebenslagen darstellt, ist das Thema von Sarah Beierle und Carolin Hoch (beide Halle a. d. S.). Auf Basis der Befunde aus einer Befragung aus dem Jahr 2015/16 von mehr als 300 Straßenjugendlichen können sie in ihrem Beitrag Lebenssituation und Perspektiven junger Menschen ohne festen Wohnsitz: Ergebnisse und Reflexion einer quantitativen Studie verdeutlichen, wie sich die Lebenssituation von jungen Menschen in einer prekarisierten Wohn- bzw. Wohnungslosigkeitssituationen darstellt. Bereits der Blick von Beierle und Hoch auf die Selbstbeschreibungen der Befragten und ihrer Situation zeigt, wie heterogen sich die konkreten Lebenssituationen von jungen Menschen in prekären Wohnsituationen darstellen. So stellt sich die Situation der befragten jungen Menschen fast durchgehend als nur temporäre Wohnungslosigkeit dar, was aber die Prekarität ihrer gesamten Lebenssituation nicht grundlegend verbessert. Auch können Beierle und Hoch über die Aufenthaltsorte oder die institutionellen Kontakte Aussagen treffen. Zwar ist damit – angesichts der sehr eingeschränkten Forschungssituation – nur ein erster systematischer Eindruck zu gewinnen, aber bereits dieser fordert Soziale Arbeit wie Sozialpädagogik, aber auch die Sozialpolitik insgesamt, heraus, die Wohn(ungs)politik und die damit einhergehenden Beratungs- und Unterstützungsangebote kritisch zu hinterfragen.

Mit den Beiträgen des aktuellen Blickpunkts der Sozialen Passagen werden jüngste Auseinandersetzungen mit Wohnen in den Feldern Sozialer Arbeit und Sozialpädagogik und damit korrespondierende wohn(ungs)theoretische und -forscherische Analysen und Reflexionen zusammengeführt und zugänglich gemacht. Obwohl die hier versammelten wohn(ungs)theoretischen Perspektiven und Forschungsarbeiten jüngeren Datums sind, können entsprechende Arbeiten auch an frühere Reflexionen und Analysen anschließen. Deshalb wird im vorliegenden Heft der Sozialen Passagen auch an diese erinnert: Jürgen Hasse (Frankfurt a.M.) fragt in seinem Beitrag in der Kategorie „Nachgefragt/Wiederentdeckt“ nach der Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum“ von 1963; und Anja Speyer (St. Gallen) hat für die Leser:innen der Sozialen Passagen Helmut Mairs Sammelband zu Wohnen und soziale Arbeit neu gelesen. Dass Wohnen aber nicht nur in den gegebenen Formen und Konzepten geschehen kann, sondern z. B. Gemeinschaft auch in anderen Wohnkonzepten gebaut werden kann, ist das Thema einer neuen Studie, die Eva Lingg und Nicolla Hilti (beide St. Gallen) in den „Forschungsnotizen“ in der vorliegenden Ausgabe der Sozialen Passagen vorstellen.

Die Wohn(ungs)frage wird in den kommenden Jahren gesellschaftliche Debatten und Auseinandersetzungen in zentraler Weise prägen. Und in diesem Zusammenhang ist die Einsicht, dass Soziale Arbeit und Sozialpädagogik ohne Wohnen nicht denkbar sind, und Wohnen als soziale Frage von grundlegender Bedeutung für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik ist, von grundlegender Bedeutung.

Wuppertal und St. Gallen,

Fabian Kessl und Christian Reutlinger