1 Die Deutung häuslicher Gewalt als sozialer Prozess

In der gesellschaftlichen Wahrnehmung ist die Deutung dessen, was Gewalt ist, essentialistisch. Entgegen dieser Auffassung wird im Beitrag auf der Grundlage der Erkenntnisse einer qualitativen Studie dargelegt, wie Gewalt ihre Bedeutung in der interaktiven Deutung erst zugeschrieben erhält. Konkret geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, wie Betroffene, die häusliche Gewalt in Paarbeziehungen erfahren haben, die Gewalt und ihre Gewalterfahrungen deuten und wie diese Deutungen sozial hergestellt werden.

Die sozialtheoretische Analyse dieses Prozesses orientiert sich am selbst entwickelten empirisch begründeten Theoriemodell „Gewalt-Modalitäten“, das Gewalt in Beziehungen nicht einzig auf körperliche und/oder situative Dynamiken reduziert. Gewalt ist gemäß diesem Modell nicht nur Gegenstand (körperlicher) Erfahrung, sondern vor allem auch Gegenstand sozialer und intersubjektiver Deutungs- und Aushandlungsprozesse. Die argumentative Basis dafür bildet die Annahme, dass Gewalt als soziales Phänomen vor dem Horizont einer Ordnung, d. h. eingebettet in spezifische Wert- und Relevanzsysteme, zu denken ist, innerhalb derer in einer Gesellschaft immer wieder neu darüber verhandelt und definiert wird, was als Gewalt wahrgenommen wird und damit als solche gilt und anerkannt wird (Staudigl 2014). In solchen Aushandlungen kommen normative Bilder zum Ausdruck, die sich hegemonial durchsetzen konnten und für soziale Unwerturteile und Normen stehen. Das Handeln eines von Gewalt betroffenen Individuums hängt deshalb stets auch davon ab, wie es sein Umfeld bzw. dessen Einschätzung von Gewalt wahrnimmt.

Sozialtheoretisch ist Gewalt entsprechend nicht nur als reine Machtdynamik zu rekonstruieren, deren Ziel darin besteht, eine Asymmetrie zwischen einer gewaltausübenden Person und einer gewalterleidenden Person zu etablieren, sondern als multilaterale Konstellation, in der Deutungsprozessen konstitutive Bedeutung zukommt. Denn ob z. B. eine Vergewaltigung, die innerhalb einer Ehe geschieht, als legitimes Recht des Ehepartners oder als Gewaltakt gilt, erschließt sich nicht einzig aus der (körperlichen) Konfrontation zweier Personen, sondern wird vielmehr in historisch und sozial präkonfigurierten Deutungs- und Bewertungsprozessen entschieden (Koloma Beck 2015). Infolgedessen ist der Begriff der Gewalt weder im alltäglichen noch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch präzise gefasst, sondern weist eine höchst ambivalente Semantik auf. „Gewalt“ ist somit weder ein objektiv-neutraler noch ein rein deskriptiver Beobachtungsterminus. Vor diesem Hintergrund gilt es zu (hinter)fragen, anhand welcher Kriterien wer einen Vorgang wie als Gewalt qualifiziert. Die Herausforderung liegt dabei darin, dass auch Forschende zu empirischen Zwecken ein Geschehen oder eine Handlung mit dem Begriff verbinden müssen (Hagemann-White 2016).

Die Studie und damit auch der vorliegende Beitrag verorten sich in der verstehenden Gewaltforschung. Diese Verortung ist zentral für die Argumentationslinie, die verfolgt werden soll: In der sozialpädagogischen Forschung und Praxis, die Gewalt zum Gegenstand hat, sollen Sinnzuschreibungen und Reflexion im Mittelpunkt stehen. Entsprechend wird unter verstehender Gewaltforschung im Folgenden eine hinterfragende und selbstreflexive Gewaltforschung verstanden. Eine solche stellt die Erfassung subjektiver Sinnzuschreibungen der Betroffenen ins Zentrum und reflektiert und hinterfragt Selbstverständlichkeiten (z. B. theoretische und forschungsleitende Konzepte). Auf der Grundlage dieser Deutungen von Gewalt soll eine Verbindung zwischen individuellen Lebenslagen und gesellschaftlichen Strukturen hergestellt werden. Die verstehende Gewaltforschung soll dadurch einen Beitrag zur umfassenden Beschreibung von Gewalt im Sinne eines sozialen Konstrukts innerhalb einer Gesellschaft leisten. Die verstehende Gewaltforschung als terminologische Basis, Konzept und Perspektive für die sozialpädagogische Forschungspraxis und Profession basiert einerseits auf der theoretischen und methodologischen Fundierung des Verstehens und andererseits auf der langen Tradition der nachvollziehenden Fallanalyse innerhalb der Sozialpädagogik (Schütze 2000), wobei Verstehen nicht gleichzusetzen ist mit Akzeptanz. Vielmehr wird damit auf eine Verstehenspraxis verwiesen. Konkret bedeutet dies ein forschendes Nachvollziehen der inneren Logik von Deutungen und deren Einordnung bezogen auf Handlungen, Interaktions- und Lebenskontexte von Befragten oder Klient*innen (Völter 2008). Diese Verstehenspraxis soll zu einer kontinuierlichen Praxis der Reflexion normativer Bilder und gesellschaftlicher Erwartungshaltungen beitragen. Dabei sollen auch die sozialen Prozesse der Differenzierung und Hierarchisierung reflektiert werden. Mit dem Ziel, Normalitätskonstruktionen zu dekonstruieren und eine mehrdimensionale Theoretisierung häuslicher Gewalt voranzutreiben. Über diese Praxis soll für die (eigene) Prägung durch solche Bilder und dafür, wie diese auch den (eigenen) sozialpädagogischen und forschenden Blick beeinflussen, sensibilisiert werden.

Die Studie, die diesem Beitrag zugrunde liegt, verortet sich in der qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung. Der methodologisch-methodische Zugang erfolgte mittels der Grounded Theory, wodurch die Situiertheit des Wissens betont wurde. Entsprechend rückten Aushandlungsprozesse in ihrer Gesamtsituierung in den Mittelpunkt der Analyse. Das Untersuchungsmaterial bildeten narrative Interviews, die schweizweit mit insgesamt 18 gewaltbetroffenen Frauen und Männern geführt wurden, die in heterosexuellen Beziehungskontexten psychische, physische und sexualisierte Gewalt erfahren hatten. Alle Befragten wurden männlich resp. weiblich sozialisiert und identifizieren sich mit diesem jeweiligen Geschlecht, weshalb im Folgenden von einem heterosexuellen Zweigeschlechtermodell ausgegangen wird. Entsprechend werden die Bezeichnungen „Frau“ und „Mann“ verwendet. Die Befragten verfügten über einen Berufsabschluss oder einen Hochschulabschluss, eine Befragte hatte promoviert. Des Weiteren wurden die Befragten in der Schweiz oder im EU-Raum geboren und positionierten sich selbst als Mitglieder der sogenannten „Mehrheitsgesellschaft“. Diese Selbstpositionierungen sind zentral, da über diese deutlich wird, dass im vorliegenden Beitrag soziale Gruppen im Fokus stehen, die bislang in Schutz- und Beratungsstellen, in Statistiken wie auch in der Forschung zu häuslicher Gewalt kaum Beachtung fanden. So gelten gerade Frauen (und Männer) aus der Mittelschicht als unsichtbar (Gloor und Meier 2014).

In einem ersten Schritt werden nachfolgend der Forschungsstand und das Forschungsdesiderat kurz erläutert. Danach werden zentrale Befunde der Studie dargelegt: Es wird aufgezeigt, wie Betroffene die erfahrene Gewalt und ihre Gewaltbetroffenheit deuten, wobei der Schwerpunkt auf der sozialtheoretischen Analyse dieses Prozesses liegt. Anhand des neu entwickelten, sozialkonstruktivistisch untermauerten Modells der Gewalt-Modalitäten wird dargelegt, wie Deutungen und Bedeutungen von Gewalt sozial produziert werden, indem sie beispielsweise vor dem Hintergrund von Kontrastfolien normativer Gewalt- und Opferbilder ausgehandelt werden. Darauf aufbauend erfolgt die Darlegung geschlechtsspezifischer Unterschiede, wobei weder eine Vergleichsforschungsperspektive eingenommen wird noch vorstrukturierend nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Betroffenen gesucht werden soll. In der Darstellung der Ergebnisse wird, sofern sich Unterschiede zwischen den Geschlechtergruppen in der Analyse ergaben, von „männlichen“ und „weiblichen“ Befragten gesprochen. Mit dieser Formulierung wird nicht intendiert, männliche oder weibliche Eigenschaften zu verallgemeinern, sondern es wird auf Stellen verwiesen, an denen die Geschlechtlichkeit für die Narration einen Unterschied macht. Das heißt, es geht um die Sichtbarmachung von Geschlecht als Strukturgeber für verfestigte Formen sozialer Ungleichheit und das Aufzeigen der Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Zuschreibungen, die mit der Vergeschlechtlichung von Gewalt verbunden sind (Bereswill und Braukmann 2014). Daran anschließend wird erläutert, wie die Deutung der Gewalt selbst eine gewaltförmige Produktivität entfaltet. Nach einer Zusammenfassung des Prozesses werden ausgewählte Deutungen vor dem Hintergrund tradierter Deutungsmuster und Problemkategorien diskutiert. Abschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit verstehender Gewaltforschung als Zugang zu einer empirisch fundierten Reflexion sozialpädagogischer Forschungspraxis.

2 Gewalt(be)deutungen als (sozialpädagogischer) Forschungsgegenstand

Die Anerkennung häuslicher Gewalt als soziales Problem ging mit einer Problematisierung von „Gewalt im Geschlechterverhältnis“ (Hagemann-White 2016) einher. Die Frauenbewegungen und die feministische Forschung leisteten einen maßgeblichen Beitrag dazu, dass Gewalt gegen Frauen als strukturelles Problem und damit eingebettet in Macht- und Herrschaftsverhältnisse wahrgenommen wurde. Infolge der Erkenntnis, dass diese Form der Gewalt Frauen als soziale Gruppe betrifft und als Phänomen damit politisch, rechtlich und sozial zu adressieren ist, rückten ab den 1970er und 1980er Jahren zunehmend die sogenannten „privaten Bereiche“ in den Fokus der Politik und wurden Teil von Verrechtlichungsprozessen. Über diesen staatlichen Auftrag rückten die Privatheit und die Gewalt im Geschlechterverhältnis zunehmend auch in die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik. Im Zuge dieser Veränderungen wurden Betroffene über Zuschreibungen von Gewalt- und Opferkategorien entsprechend zu Objekten institutioneller Bearbeitung geformt.

Als Resultat wird geschlechtsbezogene Gewalt mittlerweile als eine Verletzung von Menschenrechten breit anerkannt, und Staaten haben sich in internationalen Konventionen wie der Istanbul-Konvention dazu verpflichtet, Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu bekämpfen. Doch der öffentliche Diskurs über Gewalt ist von einem essentialistischen und, auf die Bewertungsdimension der körperlich sichtbaren Verletzungen bezogenen, konsequenzialistischen Gewaltkonzept geprägt. Kaum beachtet wird dabei allerdings, wie Gewalt von Betroffenen erfahren wird, d. h. welche Bedeutung die Gewalt für Betroffene hat, und damit, wie sie das Erfahrene selbst deuten. Dies lässt sich auch an den zentralen Forschungslinien zu häuslicher Gewalt, die sich seit dem Ende der 1980er Jahre herausgebildet haben, verdeutlichen, die sich zusammenfassend unter (a) Studien zur Evaluierung bestehender Interventionen sowie (b) Studien zum Vorkommen häuslicher Gewalt, zu Gewaltdynamiken und zu Gewaltmustern subsumieren lassen.

2.1 Studien zur Evaluierung bestehender Interventionen

Im Feld der Gewaltforschung zu häuslicher Gewalt speziell im Kontext sozialpädagogischer Forschungsperspektiven nehmen Evaluationsstudien den größten Stellenwert ein. Bei diesen Studien handelt es sich insbesondere um Untersuchungen zu Veränderungen im institutionellen Umgang mit diesem Phänomen und Evaluationen spezifischer Interventionen. In diese Evaluationen wird mittlerweile vermehrt die Betroffenenperspektive miteinbezogen, was zur Erkenntnis geführt hat, dass betroffene Frauen durch die Vielzahl an institutionellen Kontakten großen Mehrbelastungen ausgesetzt sind (Gloor und Meier 2014). Solche Studien und Zugänge tragen maßgeblich zu einer Angebotsprofessionalisierung bei und stellen sicher, dass Gewaltbetroffene im Fachdiskurs sicht- und hörbar sind. Ein weiteres zentrales Anliegen dieser Studien besteht darin, die Erkenntnisse auf verschiedene Länder und Wirkungszusammenhänge zu übertragen sowie Bestandsaufnahmen und Einschätzungen der Effektivität von Angeboten zu ermöglichen.

2.2 Studien zum Vorkommen häuslicher Gewalt, zu Gewaltdynamiken und zu Mustern

Innerhalb dieser Forschungslinie sind Studien zum Ausmaß, zu den Folgen und Ursachen sowie zu Mustern von Gewaltdynamiken zentral. Für die Sozialpädagogik sind insbesondere Studien von Relevanz, die sich mit der Gewaltspirale auseinandersetzen und darlegen, inwiefern sich Gewalt als Mechanismus verfestigt und zyklisch wiederholt (Walker 1994). An dieses Modell schließen Studien an, die untersuchen, welche Phasen Gewaltbetroffene bis zur Nutzung professioneller Unterstützung durchlaufen. Cornelia Helfferich und Barbara Kavemann (2004) haben dies in einem Modell der Übergänge als Stufen dargelegt. Vor dem Hintergrund solcher Zäsuren untersuchen Studien die Gründe für das Aufrechterhalten von gewaltförmigen Beziehungen (z. B. Völschow und Janßen 2016) und gehen z. B. der Frage nach, inwiefern Gewaltbetroffene ihre Selbstbestimmung wiedererlangen können (Glammeier 2011) oder welche biografischen Lernprozesse ein Frauenhausaufenthalt anstoßen kann (Krause 2016).

Diese Fragen und Perspektiven sind zentral für die Sozialpädagogik. Doch die Auseinandersetzung mit der Frage nach Gewaltdeutungen und damit die Frage danach, was Gewalt für (erwachsene) Betroffene ist, d. h. danach, was diese als Gewalt wahrnehmen, ist nach wie vor ein Desiderat. Denn Studien aus der Betroffenenperspektive setzten sich bislang nicht mit dem Gewaltphänomen an sich auseinander, sondern erforschten entweder die Folgen der Gewalt (z. B. Depression) oder, wie dargelegt, die Wirksamkeit der angebotenen Interventionen. Gemeinsam ist diesen Untersuchungen, dass jeweils eine Geschlechtsgruppe im Zentrum stand, wodurch jedoch mitunter bestehende Macht- und Geschlechterordnungen zementiert wurden (Kavemann 2009, S. 47). Aus diesem Grund gilt es, auch diese Geschlechtslogik geschlechtersensibel zu hinterfragen. Entsprechend wird im vorliegenden Beitrag eine Entpolarisierung der sozialpädagogischen Forschungspraxis zu häuslicher Gewalt als notwendiger Schritt erachtet, und es wird, wie in der Einleitung dargelegt, für eine verstehende Gewaltforschung argumentiert. Diese soll geschlechtersensibel ebendiese Setzungen reflektieren. Denn gerade Geschlecht und Gewalt verschlüsseln sich gegenseitig. Bei der Auswertung empirischer Daten soll diese Perspektive auch verhindern, dass der Komplexität von Geschlecht mit vergeschlechtlichten Lesarten des Materials nicht adäquat Rechnung getragen wird und in der Formulierung der Ergebnisse Machtverhältnisse und Stereotype reifiziert und reproduziert werden (Bereswill und Braukmann 2014, S. 25). Auf diese Weise kann die sozialpädagogische Forschungspraxis über das Verhältnis von Deutung und Bedeutung und Gewalt einen maßgeblichen Beitrag zur Theoriebildung leisten und die Befunde bisheriger Studien zu Evaluationen und Gewaltursachen durch Erkenntnisse zum subjektiven Erleben und zu Deutungen der Situation oder der Gewalt erweitern, was eine Verbindung zwischen individuellen Lebenslagen und gesellschaftlichen Strukturen ermöglicht. Wenn in der Folge auch die Sozialpädagogik selbst die normative Erwartungshaltung bezüglich der Geschlechter nicht einfach a priori und unhinterfragt übernimmt, vermag auch sie die Betroffenen und ihr Erleben von Gewalt ernst zu nehmen.

3 Forschungsprojekt: „Ringen um (Be‑)Deutung“ – die Deutung häuslicher Gewalt als sozialer Prozess

Das Forschungsprojekt, auf das in den nachfolgenden Ausführungen Bezug genommen wird, ist eine qualitative Studie, in der es um die Frage ging, wie Betroffene von häuslicher Gewalt die erfahrene Gewalt und ihre Gewaltbetroffenheit deuten (Nef 2020). Dies erfolgte vor dem Hintergrund der einleitend dargelegten theoretischen Annahme, dass das, was Gewalt ist, eine „Deutungspraxis“ (Staudigl 2014, S. 12) ist. Daraus ergaben sich die folgenden forschungsleitenden Fragestellungen:

  • Wie erlangt das Erlebte die Bedeutung der Gewalt?

  • Wie werden Gewaltdeutungen sozial hergestellt?

Darauf aufbauend wurde analysiert, inwiefern diese Deutungen in ihrer spezifischen Bedeutung für die soziale Ordnung stehen. Grundlage dieser Analyse bildeten wie in Abschnitt 1 bereits festgehalten 18 narrativ-biografische Interviews, die schweizweit mit 13 gewaltbetroffenen Frauen und fünf gewaltbetroffenen Männern geführt wurden, die in heterosexuellen Beziehungskontexten psychische, physische und sexualisierte Gewalt durch ihre Partner resp. Partnerinnen erlebt hatten. Die zwischen 20 und 72 Jahre alten Befragten waren über verschiedene Kanäle wie beispielsweise über Flyer in Opferberatungsstellen, Sozialberatungen und ambulanten Pflegediensten rekrutiert worden. Ergänzend wurde zudem über eine Zeitschrift (print) rekrutiert, damit auch Betroffene angesprochen werden konnten, die bis zum Zeitpunkt der Samplebildung kaum oder gar nicht über institutionellen Kontakte verfügt hatten. Die Paarbeziehungen hatten zwischen 7 Monaten und 31 Jahren gedauert und lagen zwischen 5 Monaten und 38 Jahren zurück oder dauerten zum Zeitpunkt des Interviews noch an. Im Hinblick auf das Alter, die Erfahrungen mit dem Hilfesystem und die Gewaltformen konnte ein breites Sample zusammengestellt werden. Ein übergreifendes Charakteristikum besteht indes darin, dass sich die Befragten als Mitglieder der sogenannten „Mehrheitsgesellschaft“ identifizierten. Zwecks Einbettung der Erfahrungen der Befragten, sind die Hintergründe zur Person in den Endnoten, die nach den Namen (Pseudonymen) der Befragten genannt sind, dargelegt.

Die Interviews dauerten zwischen eineinhalb und sechs Stunden. Die Transkriptionen der Gespräche wurden mit qualitativ-rekonstruktiven Analysemethoden in Anlehnung an die konstruktivistische Grounded Theory ausgewertet (Charmaz 2014). Anhand der subjektiven Deutungen wurde schließlich rekonstruiert, wie die Gewalt von den Betroffenen interpretiert wird. Ausgangspunkt dieser Analyse waren die ersten Erkenntnisse zu normativen Opfer- und Gewaltbildern. So zeigte sich, dass die Befragten narrativ Bilder des richtigen Opfers und der richtigen Gewalt konstruiert hatten, die sie mit ihren eigenen Erfahrungen kontrastierten. Charakteristisch war hierbei der fehlende Selbstbezug: Diese abstrakte richtige Gewalt und die richtigen Opfer hatten mit der eigenen Erlebniswelt nichts zu tun. Entsprechend konnte keine Passung zwischen bestehenden, tradierten Gewaltdeutungen und den eigenen Erfahrungen hergestellt werden. Solche normativen Bilder waren bereits bei der Erstkontaktaufnahme deutlich geworden, als die potenziellen Interviewpartner*innen das Gespräch mit Aussagen wie „Ich bin nicht betroffen von der richtigen Gewalt“ (Protokoll Erstkontaktaufnahme Frau GerberFootnote 1), oder „Ich bin kein richtiges Opfer“ (Protokolle Erstkontaktaufnahme Frau RuizFootnote 2) eröffneten.

Aufschlussreich war dabei, dass nicht ausgeführt wurde, was richtige Gewalt ausmache. Es wurden lediglich Merkmale aufgelistet, zu denen erneut kein Selbstbezug hergestellt wurde, und zwar in erster Linie Merkmale physischer Gewalt. Allerdings wurde diese Auffassung während der darauffolgenden Interviews permanent nachjustiert: Wenn sich herausstellte, dass sie geschlagen worden waren, dann wurde bezogen auf das Ausmaß sogleich relativiert, indem erwähnt wurde, dass sie nicht hätten hospitalisiert werden müssen. Und wenn es zu einer Hospitalisierung gekommen war, dann sei dies die Folge eines „Unfalls“ (Frau NovakFootnote 3, Absatz 202) gewesen, der nicht im direkten Zusammenhang mit der gewaltförmigen Situation gestanden habe. Diese Trivialisierung eines Gewaltaktes kommt im nachfolgenden Zitat zum Ausdruck:

Was ich dann nicht als seine Schuld, nur, weil ich jetzt umgefallen bin sozusagen. Also ich bin dann irgendwie gegen die Wand gefallen und habe dann irgendwie da einen blauen Fleck gehabt und gesagt, ja. Also für mich war das wirklich nicht so, als wäre das seine Schuld. Ich habe gedacht, ich bin jetzt halt dumm gefallen. (Frau Novak, Absatz 90)

Über diese Trivialisierung werden aus dem Gewaltakt entstandene Verletzungen als entstanden durch eine Verkettung unglücklicher Ereignisse gedeutet. Die übergreifende Reflexion und Einordnung dessen, was häusliche Gewalt sei, wird im folgenden Zitat deutlich:

Und ich finde, ich habe immer, ich habe immer gedacht, was erzählen die [Sozialpädagoginnen im Frauenhaus] von häuslicher Gewalt? Ich meine, das ist doch nicht häusliche Gewalt? […] Ich finde wirklich, es ist eine sehr subtile Frage, wo ist häusliche Gewalt. (Frau MüllerFootnote 4, Absatz 70)

Eine zentrale Erkenntnis, die sich aus der Analyse solcher Aussagen gewinnen ließ, bestand einerseits darin, dass die Erzählungen stark von essentialisierenden Konzepten von Gewalt geprägt waren. So waren alle Befragten der Überzeugung, dass eindeutig feststehe, was Gewalt sei. Andererseits konnten sie keine Passung zwischen diesen Gewaltkonzepten und ihren eigenen Erfahrungen herstellen. Vielmehr stellten sie Letztere normalisierend oder trivialisierend dar. Diese anhand des empirischen Materials vorgenommenen Rekonstruktionen mündeten in einem weiteren Schritt in eine gegenstandsbezogene theoretische Modellierung: das Modell der Gewalt-Modalitäten.

4 Modell der Gewalt-Modalitäten: Deutung häuslicher Gewalt als sozialer Prozess

Die Deutung häuslicher Gewalt lässt sich mit dem theoretischen Modell der Gewalt-ModalitätenFootnote 5 als sozialer Prozess fassen. Daran lässt sich aufzeigen, wie die Befragten die Legitimität der erfahrenen Verletzungsverhältnisse über normative Beziehungs‑, Opfer‑, Geschlechter- und Gewaltbilder herstellten, die als Rechtfertigungs- und Legitimitätsordnungen fungierten (Nef 2020).

4.1 Konzeptueller Aufbau und zentrale Begriffe des Modells

Das Modell bezieht sich auf das Wie, d. h. auf die Frage, wie häusliche Gewalt zu ihrer Bedeutung gelangt. Innerhalb dieser prozessualen Perspektive werden drei miteinander verschränkte Gegenstandsbereiche wirksam: 1) die Deutung des Erlebten als Nicht-Gewalt als Normalisierungsstrategie, 2) die Grenzen der handlungspraktischen Anpassungen, die durch Brüche mit Idealbildern erreicht werden, sowie 3) die (Be‑)Deutung des Erlebten als Gewalt, die sich über die Deutungsfigur der Illegitimität formiert (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Prozessualer Vollzug der (Be‑)Deutungsverschiebung bis hin zur Gewaltkonstruktion (eigene Darstellung)

Das Modell zeichnet somit nach, wie Gewalt zunehmend in den Alltag von Betroffenen ausgreift. Als Bewältigungsstrategie, die dazu dient, sich im Alltag ein Gefühl von Handlungsfähigkeit zu bewahren, reorganisieren Gewaltbetroffene ihren (Beziehungs‑)Alltag entlang ihrer gewaltförmigen Erfahrungen, um Normalität herzustellen (Prozess der Normalisierung). Durch einen Bruch mit Beziehungsidealen stößt diese Herstellungsleistung, die u. a. handlungspraktische Anpassungsleistungen umfasst, jedoch irgendwann an ihre Grenzen. Diese Zäsur steht für Änderungen, die neue Aushandlungsprozesse und neue Qualifizierungen des Erlebten notwendig machen, weil der Alltag unter diesen Gegebenheiten nicht mehr reorganisiert werden kann. Nach diesem Bruch wird in der Paarbeziehung allerdings nicht die Frage ausgehandelt, ob das Erlebte Gewalt sei, sondern vielmehr jene, ob dieses Handeln legitim sei. Ab diesem Zeitpunkt erlangt das Erfahrene eine neue Bedeutung. Deshalb lässt sich argumentieren, dass diese Grenzen und Brüche nicht durch eine Änderung in der Gewaltdynamik erreicht werden, wie dies im Modell der Gewaltspirale gefasst wird, sondern in den Beziehungsbildern und -idealen der Befragten begründet sind. So kann beispielsweise das Bild, dass der Partner dafür ein guter Vater sei (Frau Bertrand) oder die Partnerin einem ungeachtet des Verhaltens liebe (Herr BischoffFootnote 6), nicht mehr länger aufrechterhalten werden. Da die Herstellung von Normalität unterbrochen wird und die Normalisierungsstrategien nicht mehr greifen, wird bei den Betroffenen ein Ringen um (Be‑)Deutung ausgelöst (Prozess der Entnormalisierung). Weil der Orientierungsrahmen nun nicht mehr länger adjustiert werden kann, kommt es zu einer Sinnverschiebung, bei der sich (Be‑)Deutung von Nicht-Gewalt verschiebt und allmählich die Bedeutung von Gewalt erhält (Prozess der Delegitimierung): Die Befragten deuten das Erlebte als Gewalt. Doch diese Verschiebung führt zu einer erneuten Normalisierung von Gewalt, und zwar über die gewaltförmige Produktivität, die die Deutung der Gewalt selbst entfalten kann: die Gewalt der Deutung, die sich in normativen Zuschreibungen, schwach zu sein, selbst schuld zu sein, Opfer oder Mittäter*in zu sein, manifestiert. So wird Gewalt auch in retrospektiven Narrationen noch als Nicht-Gewalt konstruiert, was terminologisch-konzeptionell mit dem Begriff der Normalisierungsschleife gefasst werden könnte.

Diese Gewalt der Deutung und damit die Normalisierungsschleife bilden zentrale Erkenntnisse und Ansatzpunkte für die Soziale Arbeit. Denn die Rekonstruktion weist darauf hin, dass die Erfahrungen aus der Retrospektive nur mithilfe neuer Deutungsstrukturen erzählbar werden. Auch nach der Trennung gilt es, Normalität herzustellen und den Alltag zu reorganisieren. Durch die Trennung werden die Betroffenen mit neuen Situationen konfrontiert (z. B. alleinerziehend zu sein, Verlust des Statussymbols „Beziehung“), die eine erneute Bedeutungsgenerierung erfordern. Infolge dieser neuen Bedeutungsmöglichkeiten sehen sie sich vor die Aufgabe gestellt, Integrationsarbeit zu leisten. Sie versuchen, ihre Erfahrungen und vor allem das, was sich daraus an Bedeutung ergeben hat, in ihren Alltag einzubetten. Für die Befragten scheint es somit notwendig zu sein, die Gewalterfahrungen, nachdem diese die Bedeutung der Gewalt erlangt haben, wiederum zu normalisieren. Denn die (Um‑)Deutung gewaltförmigen Handelns, das zunächst zu Beziehungsmustern normalisiert und erst später als Gewalterfahrung interpretiert wurde, vollzieht sich in einem schmerzhaften und konfliktbeladenen Erkenntnisprozess. Unmittelbar damit verbunden ist zudem, dass sich die Betroffenen mit der fremdbestimmten Gewalt der Deutung und damit einhergehenden gesellschaftlichen Stigmata auseinanderzusetzen haben. Daran wird deutlich, wie wirkmächtig normative Bilder und die gesellschaftlichen Deutungsmuster für die individuelle biografische Integration von Gewalterfahrungen in die Selbst- und Fremdkonstruktionen von Menschen sind. Die Konfrontation mit normativ aufgeladenen und polarisierten Zuschreibungen wie „schwach/stark“ oder „verantwortlich/nicht verantwortlich“ führt auch nach der Delegitimierung der Gewalt durch die Betroffenen dazu, dass nach wie vor um (Be‑)Deutung gerungen wird und das Erlebte schwer zu verbalisieren ist.

Diese Ausführungen verdeutlichen, dass Gewaltdeutungen von Betroffenen im Kontext normativer Bilder und gesellschaftlicher Erwartungshaltungen zu betrachten sind, und verweisen auf den Normalisierungsdruck, dem die Betroffenen ausgesetzt sind, u. a. infolge der Gewalt der Deutung. Im Folgenden werden die drei Prozessstadien der Normalisierung, Entnormalisierung und Delegitimierung der erfahrenen Gewalt anhand der Erkenntnisse der qualitativen Studie exemplifiziert.

4.2 Normalisierung der erfahrenen Gewalt

Im ersten Gegenstandsbereich der Deutung als Nicht-Gewalt vollzieht sich der Prozess der Normalisierung: Die Paarbeziehung wird zum zentralen Rahmen der Erfahrung, vor deren Hintergrund die gewaltförmigen Erfahrungen und Handlungen unter Bezugnahme auf normative Beziehungs‑, Opfer- und Gewaltbilder (und als Querschnittbilder normative Geschlechterbilder) relativiert werden. Kennzeichnend für diesen Prozess ist, dass sich die Grenzen für die Befragten fortlaufend verschieben. Das heißt, auch bei Änderungen der Gewaltdynamik wird das Erlebte weiterhin normalisiert und die Paarbeziehungen werden durch Abgrenzung von normativen Bildern von Gewalt zu Nicht-Räumen für Gewalt. Auch die eigenen Beziehungserfahrungen und damit der Beziehungsalltag werden fortlaufend den Idealvorstellungen gegenübergestellt, die der Partner oder die Partnerin, Dritte oder die Befragten selbst von Beziehungen haben:

[Die] Schwiegereltern, die dann so ein bisschen dogmatische Ansätze hatten, […] wenn man eine Familie hat und in einer Beziehung ist, (…) dass das eben so fast wie ein Job wird, oder ein (…) so jegliche Selbstbestimmung weg ist, sondern dann sind einfach so Pflichten. Das macht, so macht man es, so macht man es und so macht man es, und das macht man, und das ist eine Familie. (Frau Gerber, Absatz 66)

Diese Beziehungsnormen und die daraus entwickelten Rollen stellen wie eingangs dargelegt Barrieren des Erkennens dar; sie werden zum zentralen Orientierungsrahmen. Doch da die Gewalt zunehmend in den Alltag der Befragten ausgreift, wird eine fortlaufende Neujustierung des Orientierungsrahmens nötig, die sich in einer schrittweisen Relativierung der Idealbilder des Partners oder der Partnerin und einer Paarbeziehung manifestiert und der Aufrechterhaltung eines Gefühls von Handlungsfähigkeit dient. Als weitere Bewältigungsstrategie zur Herstellung von Normalität reorganisieren Gewaltbetroffene ihren (Beziehungs‑)Alltag entlang der gewaltförmigen Erfahrungen und intensivieren ihre Beziehungsarbeit. Dadurch manifestieren sich die asymmetrischen Machtverhältnisse in der Beziehung und die Gewalt wird zunehmend Teil des Beziehungsalltages: „Und für mich, es ist irgendwie wie ein Teil der Beziehung geworden dann. Also, dass unsere Beziehung so ist“ (Frau Novak, Absatz 82).

Über diese Bewältigungsstrategien (z. B. Intensivierung der Beziehungsarbeit) verfestigt sich die Dynamik der Gewalt allmählich zu Mustern. Aus Sicht der Betroffenen sind diese Strategien ein Weg des Überlebens. Dennoch führen diese dazu, den Status quo beizubehalten und Machtasymmetrien zu (re)produzieren. Darüber hinaus können solche Strategien auch als eine Form der Normalisierung gelesen werden. Denn über diese werden beispielsweise Geschlechternormen wie die weibliche sexuelle Verfügbarkeit nicht in Frage gestellt, sondern reguliert (Villa 2011, S. 99).

In den Rekonstruktionen zeigte sich fallübergreifend, wie Normen und das Aufrechterhalten gewaltförmiger Beziehungen zusammenhängen: Einerseits handelte es sich dabei um die Norm, eine Beziehung haben zu müssen, weshalb die Befragten bis zu einem gewissen Punkt bereit gewesen waren, sehr viel zu investieren, um die bestehende Beziehung aufrechtzuerhalten. Andererseits wurde das Erlebte auch direkt über spezifische Normen legitimiert, denen die Betroffenen z. B. Eingriffe in ihre Rechte auf körperliche und vor allem sexuelle Selbstbestimmung unterordneten.

4.3 Entnormalisierung der erfahrenen Gewalt

Im zweiten Gegenstandsbereich wird das Erfahrene nach dem Bruch mit Beziehungsidealen entnormalisiert. Da es nicht mehr länger möglich ist, diese Ideale zu relativieren, wird eine Grenze erreicht: die Grenze der Reorganisation des Alltags um die gewaltförmigen Erfahrungen und Situationen herum. Mit dem Übergang von der Normalisierung zur Entnormalisierung erfolgt zugleich eine allmähliche Ausformung der Bedeutung von Gewalt, weil sich aus dem Deutungsvakuum die Notwendigkeit der Neuqualifizierung des Erlebten ergibt. Charakteristisch für diesen Übergang ist, dass der Entnormalisierung keine Änderung der Gewaltdynamik an sich zugrunde liegt, sondern der Bruch mit Idealen vielmehr neue Aushandlungsprozesse erfordert, in denen nicht die Gewaltförmigkeit als solche zur Debatte steht, sondern vielmehr die Frage, ob das Erlebte legitim sei. So lesen die Befragten Gesetze oder Bücher (z. B. Selbsthilferatgeber), um herauszufinden, ob das ihnen Zugefügte z. B. das Recht des Ehemannes sei. Über diese Agentivierung von Dritten und Artefakten wie themenspezifischer Literatur wird der Orientierungsrahmen verändert.

Die Zäsur der Entnormalisierung lässt sich auf die Verletzung sogenannter impliziter Spielregeln zurückführen, die in der Partnerschaft gelten. Diese Regeln können sich auf eine Vielzahl von Aspekten beziehen; gemeinsam ist ihnen, dass das Einhalten während der gewaltförmigen Interaktionen strukturgebend ist, wie das Zitat deutlich macht: „[D]as war immer der gleiche Ablauf, zuerst Schläge, dann Messer, dann Einschließen ins Bad“ (Frau BerchtoldFootnote 7, Absatz 37). Ein Bruch mit solchen Regeln, z. B. wenn die Partnerin durch einen Messerangriff in den Rücken den Tod des Befragten riskiert, die Flucht durch die Tür nicht mehr wie gewohnt zugelassen oder die Gewalt vor den Kindern ausgeübt wird, führt zu einer Erosion der (Gewalt‑)Routinen. Wie bereits festgehalten, ist es dieser Bruch, der ausschlaggebend ist, und nicht die Änderung der Gewaltdynamik selbst. Herr Bischoff bezeichnet diesen Bruch wie folgt: „Ich habe das den Stichtag genannt in meiner Beziehung. […] . Das war einfach der Punkt, wo ich nicht mehr konnte“ (Absatz 18).

Fallübergreifend wird deutlich, dass nach diesem Bruch der Orientierungsrahmen nicht mehr adjustiert und damit das Idealbild der Beziehung und des Partners oder der Partnerin nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Mit dem Erreichen der Grenze der handlungspraktischen Anpassungen verloren die Betroffenen ihr Gefühl der Handlungsfähigkeit, das ihnen Routinen und Alltag zuvor noch vermittelt hatten. Gleichwohl hatte sich die Deutung, dass das Erlebte illegitim sei, in diesem Stadium noch nicht verfestigt.

4.4 Delegitimierung der erfahrenen Gewalt

Im dritten Gegenstandsbereich – der Verschiebung der (Be‑)Deutung von Gewalt via Delegitimierung – erlangt das Erfahrene die Bedeutung der Gewalt und wird als illegitim qualifiziert. Charakteristisch für diesen Prozess ist, dass die Befragten im Übergang von der Entnormalisierung zur Delegitimierung erneut Artefakte oder Dritte agentivierten, weil sie mit ihren Deutungen isoliert dastanden und das Erlebte anhand des bestehenden Orientierungsrahmens nicht einordnen konnten. So konsultierten sie z. B. Gesetzestexte, um herauszufinden, ob der Partner das Recht zur Gewaltausübung habe:

Ich habe angefangen, mich einzulesen, ich habe Gesetzesverordnungen gelesen, ich habe, man sucht irgendwie so schriftliche Bestätigungen für das, was passiert, oder wie man es benennen muss. Oder was ist erlaubt, was nicht? (Frau BertrandFootnote 8, Absatz 119)

Diese Aushandlungen lösten Unsicherheiten aus. Gleichzeitig entfaltete auch die (Be‑)Deutung der Gewalt selbst eine gewaltförmige Produktivität und manifestierte sich in der Gewalt der Deutung. Denn einerseits mussten sich die Befragten nun in institutionellen Zusammenhängen oder in ihrem Umfeld erneut mit dem Verlust ihrer Deutungshoheit auseinandersetzen, wodurch sich das Gefühl der Handlungsohnmacht reaktualisierte. Andererseits sahen die Befragten ihr Selbstbild infolge der Konfrontation mit normativen Opferbildern, die durch Dritte an sie herangetragen wurden, latent gefährdet, weshalb eine erneute Normalisierung des Erlebten erfolgte (Normalisierungsschleife). Denn die Betroffenen sehen sich, vergleichbar mit der Reorganisation des Alltags innerhalb der Beziehung entlang der gewaltförmigen Erfahrungen, damit konfrontiert, den Alltag um die gewaltförmigen Erfahrungen und den damit verbundenen Deutungen – reorganisieren zu müssen. Die Betroffenen werden dabei mit gesellschaftlichen Bildern und normativen Haltungen konfrontiert:

Weil sonst habe ich das ja nicht groß erzählt, und die meisten Leute sind mehr so völlig vor den Kopf gestoßen und erstaunt, und sie können damit überhaupt nicht umgehen. […] Und anders gesehen merkt man auch, dass die Gesellschaft damit gar nicht umgehen kann. Die wollen das gar nicht wissen. (Frau Bertrand, Absatz 150)

Eine Umgangsstrategie ist dabei die Trivialisierung, wie beispielhaft am Zitat von Frau Steiner deutlich wird:

Ich sage manchmal, gut, das ist die neutrale Variante, wenn mich mal jemand fragt, sage ich manchmal, weißt du, wenn sich Feuer und Wasser zusammentun, kommt es einfach nicht gut. Das sind so unterschiedliche Elemente. (Frau SteinerFootnote 9, Absatz 28)

Mit dieser Trivialisierung findet aufgrund der Gewalt der Deutung eine erneute Normalisierung des Erlebten statt.

5 Deutungen häuslicher Gewalt von Betroffenen im Kontext normativer Bilder und gesellschaftlicher Erwartungshaltungen

Gemeinsam war allen Fällen, dass die soziale Kategorie „Opfer“ und somit der Opferstatus nicht qua Delikt- oder Gewaltbetroffenheit, sondern über soziale Aushandlungsprozesse (mit unterschiedlichen Beteiligten) zugeschrieben wurden, die sich zwischen Stigmatisierung und Identitätskonstruktion vollzogen. Die aus der Konstruktion von Dritten und deren möglicher Deutung abgeleiteten normativen Bilder, z. B. Gewaltbilder, führten dazu, dass spezifische Formen von Gewalt oder je nach Gewaltform, z. B. sexualisierte Gewalt, nicht als Gewalt wahrgenommen wurden:

Wie kann man das erklären, dass er es schafft, einen sexuell zu nötigen? Für andere Leute ist dann quasi auch klar, man ist ja ein Paar, man ist verheiratet, es ist ja normal, da kann man ja nicht, die Vergewaltigung in dem Sinn gibt es ja nicht. (Frau Bertrand, Absatz 24)

Die Betroffenen arbeiteten sich jedoch nicht nur an diesen normativen Bildern, sondern auch an den Erwartungshaltungen ihres Umfeldes ab, mit denen sie sich konfrontiert sahen und die z. B. darin bestanden, eine Beziehung zu haben, mehr in eine Beziehung investieren zu müssen, wenn sich Probleme ergeben, oder das Bild der funktionalen Familie aufrechtzuerhalten, wie Frau Spindler dies darlegte:

Ja (…). Aber meine Familie hat eigentlich sehr gefunden, dass Trennung kommt nicht infrage, du hast jetzt Kinder, das ist jetzt so (lange Pause). Ja (lange Pause). (Frau SpindlerFootnote 10, Absatz 232)

Wenn sich die Befragten solchen normativen Bildern nicht beugten, waren verschiedene Ausprägungen sozialer Ausschlusserfahrungen die Konsequenz. Zumeist wurden sie als Opfer über solche Aussagen in die Verantwortung genommen, indem ihnen unhinterfragt die Schuld zugewiesen wurde. So beschreibt z. B. Frau Müller, wie sie nach dem Verlassen des Partners vom sozialen Umfeld gemieden und nicht mehr gegrüßt worden sei, weshalb sie sich selbst Vorwürfe gemacht habe, da sie die „Idylle zerstört“ (Frau Müller, Absatz 74) und Außenstehende in eine „Privatangelegenheit“ miteinbezogen habe.

Diese Deutung, als gewaltbetroffene Person die Gewalthandlungen des Partners oder der Partnerin provoziert zu haben und selbst Mitschuld zu tragen, ist charakteristisch. So beispielsweise auch für Frau Steiner, die ausführt, dass sie nie über das Erfahrene spreche, da ihr das Gefühl vermittelt werde, dass sie als Frau selbst an allem schuld sei, weil „[…] Frauen [so] fies seien im Verhan-, also im Diskutieren und im Streiten und so“ (Absatz 28). Diese Selbstzuschreibung von Mitschuld, die in Aussagen wie „Ich habe ja meine Hand dafür geboten“ (Frau Steiner, Absatz 28) deutlich wird, wird auch von den anderen Befragten über die eigene Untätigkeit konstruiert: Die Mitschuld wird darin gesehen, dass das Nicht-Beenden der Beziehung als Nicht-Handeln gedeutet wird. Dieses Nicht-Handeln wird vor dem Hintergrund normativer gesellschaftlicher Erwartungshaltungen zur konstruierten Mittäterschaft.

Die Rekonstruktionen entlang der einzelnen Prozessstadien verdeutlichen die Strategien der Befragten, die es ihnen in der Situation erlaubten, mit der Gewalt umzugehen. Allerdings ließ sich feststellen, dass die Befragten aus der Retrospektive keinen Zugang mehr zu diesen Handlungen und handlungspraktischen Anpassungsleistungen hatten. So beschrieben sie zwar eine Fülle von Handlungen, die sich darauf bezogen, wie sie in einer bestimmten Situation gehandelt hatten, wie sie mit den Erfahrungen umgegangen waren und, nicht zuletzt, wie sie in der Situation überlebt hatten. Zugleich attestierten sie sich in ihrer Wahrnehmung jedoch selbst, in der Situation nicht gehandelt zu haben. Während in der Literatur davon ausgegangen wird, dass die Handlungsfähigkeit von Betroffenen parallel zur eskalierenden Gewaltspirale sukzessive abnimmt (Kavemann 2012, S. 44), legen die Rekonstruktionen der Studie allerdings eher den Schluss nahe, dass die Handlungskonzepte der Befragten von normativen Vorstellungen überformt worden waren. Denn während der Beziehung hatten sie bis zum Bruch mit ihren Beziehungsidealen neben ihren handlungspraktischen Anpassungen nicht beabsichtigt, die Beziehung zu beenden. Vielmehr wollten sie sich einerseits selbst schützen und andererseits sollten dadurch auch die Beziehung und damit die Normalität aufrechterhalten werden. Dieses Bewahren der Normalität verlieh den Befragten ein Gefühl von Handlungsfähigkeit. Die Konstruktion von Nicht-Gewalt fungierte somit als Normalisierungstechnik, die es ihnen ermöglichte, handlungsfähig zu bleiben. Werden diese Erkenntnisse nun damit konfrontiert, dass die Befragten keinen Zugang mehr zu diesen Handlungen zu haben schienen, kann dies möglicherweise auf ein finalistisches Verständnis von Handlungsfähigkeit schließen lassen: Die Betroffenen setzten Handlungsfähigkeit und Handeln ausschließlich mit Gehen und damit mit dem Beenden der Beziehung gleich. Sandra Glammeier (2011) interpretiert diese Deutung, nicht gehandelt zu haben, in ihrer Studie zu gewaltbetroffenen Frauen als Konsequenz eines vergeschlechtlichten Handlungskonzepts. Sie schließt daraus, dass das Handeln der betroffenen Frauen aus der hegemonialen Perspektive der männlichen Definition von Handeln und Handlungsfähigkeit wie ein Nicht-Handeln oder gar wie eine Kapitulation erscheine (Glammeier 2011, S. 408).

Werden in diese Überlegungen auch die Handlungskonzepte der männlichen Befragten miteinbezogen, dann ergibt sich jedoch ein weniger eindeutiges Bild: Denn auch sie rangen mit sich und fragten sich, wie es so weit habe kommen können. Ein Unterschied bestand allerdings darin, mit welchen Aussagen von Dritten sich die Betroffenen konfrontiert sahen. Die weiblichen Befragten beschrieben, wie sie von anderen als Teil der gewaltförmigen Dynamik adressiert worden seien, was sie in der Folge auch selbst als Narrativ übernahmen, indem sie davon sprachen, dass sie es mit sich hätten machen lassen. Die männlichen Befragten berichteten demgegenüber, wie ihr sozial gedeutetes Nicht-Handeln, d. h. der Umstand, dass sie die Beziehung nicht beendet hatten, in der Deutung durch Dritte zu einer Stärke geworden sei. Der Verzicht darauf, zurückzuschlagen, und somit die Stärke der Gewaltlosigkeit, wurde von Außenstehenden als handlungsmächtige Entscheidung gedeutet.

In Bezug auf die Verbalisierung der Gewalterfahrungen lässt sich daran anschließend generalisierend festhalten, dass die Nicht-Gewalt von den Befragten durch die Konstruktionen der nicht richtigen Gewalt und des nicht richtigen Opfers als Normalisierungsstrategie etabliert wurde und dadurch in Zusammenhang mit einem Othering der Gewalt gesetzt werden kann (Velho und Thomas-Olalde 2011). Durch die Veranderung der Gewalt wird die eigene normative Ordnung wiederhergestellt: Über Gewalt und die eigene Gewalterfahrung wird im Spiegel des tradierten Deutungsmusters „Gewalt als Thema der Anderen“ gesprochen (Sauer 2011). Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die persönliche Auffassung von Gewalt und damit assoziierte Begriffe zur Beschreibung eigener Erfahrungen unbrauchbar werden. Stattdessen wurden in der Erzählung abstrakte Phänomenbegriffe verwendet. Wenn diese mit den eigenen Erfahrungen direkt narrativ verbunden wurden, konnte allerdings keine Passung hergestellt werden und Begriffe wie „Gewalt“ wurden von den Befragten, z. B. wenn sie von Dritten oder durch Präventionskampagnen damit konfrontiert wurden, abgewehrt und abgewendet. Dieser Mechanismus manifestierte sich auch deutlich in den Konstruktionen von Betroffenengruppen sowie in den Abgrenzungen davon: „weil ich mir dann einfach gedacht habe, ja, mir geht es ja nicht so schlecht wie diesen armen Frauen, denen das passiert“ (Frau Novak, Absatz 198).

Solche tradierten Deutungsmuster und Problemkategorien erwiesen sich als mit den Deutungen eng verwoben und führten zu Differenzierung und Hierarchisierung:

Häusliche Gewalt ist auch für mich eigentlich so etwas, das machen Frauen, das lassen Frauen mit sich machen, die einen tiefen IQ haben, die keine Ausbildung haben, die, ja, schwach sind (…). […] Das hat mich so, wo ich denke, nein, ich gehöre nicht in diese Gattung hinein (lange Pause). (Frau Müller, Absatz 72)

Dieses Zitat steht exemplarisch für eine fallübergreifende Deutung und damit ein bestimmtes Muster: Das Bild des legitimen Opfers. Damit einher gehen Gewalt- und Opfernormierungen, was sich an den Subjektivierungsfiguren der Befragten zeigt, für die Abgrenzungen wie zuvor dargelegt charakteristisch sind. In dieser Abgrenzung spiegelt sich die Distanzierung zur konstruierten Betroffenengruppe wider.

An dieser Stelle wird deutlich, weshalb es unabdingbar ist, die eingangs beschriebenen Selbstpositionierungen der Befragten nicht außer Acht zu lassen. Die Befragten identifizieren sich mit einer gesellschaftlichen Position, die sich in ihrer Deutung nicht mit dem normativen Opferbild in Übereinstimmung bringen lässt. Auch geschlechtsspezifische Unterschiede werden erkennbar: So versuchten die weiblichen Befragten zugleich, sich vom Bild des legitimen Opfers, dem Opfer sein qua Geschlecht, abzugrenzen, um ihr Selbst- und Fremdbild aufrechterhalten zu können. Denn die Zuschreibung der Opferrolle qua Geschlecht konnten sie nicht mit ihrem Bild der starken, emanzipierten Frau vereinbaren. Dies verdeutlicht den destruktiven Mechanismus der Gewalt, der durch die Gewalt der Deutung hervorgebracht wird und zur Zerstörung der Subjektivität der Opfer führen kann (Pröbstl 2015, S. 113). Als Reaktion wird Gewaltbetroffenheit einer spezifischen Gruppe zugeschrieben, für diese Gruppe als Problem kollektiviert und vor allem für diese spezifische Gruppe als strukturelles Problem präsentiert. Wird hingegen über die eigene Gewaltbetroffenheit gesprochen, wird Gewalt weitestgehend individualisiert.

Auf institutioneller Ebene spiegelt sich diese Erkenntnis der Individualisierung versus der Behandlung von häuslicher Gewalt als strukturelles Problem in der Studie von Faten Khazaei (2019) wider: So kommt die Autorin zum Schluss, dass sich institutionelle Adressierungen und Interventionen im Feld der häuslichen Gewalt je nach Betroffenengruppen unterscheiden würden. Sie zeigt auf, wie Gewaltbetroffene, die als schweizer- oder europäische Staatsbürger*innen identifiziert werden, im Falle von häuslicher Gewalt anders behandelt werden als Betroffene, die als (nichteuropäische) Migrant*innen angesehen werden. Für Erstere werde die häusliche Gewalt de-gendert und als individuelle Verfehlung infolge von psychischen Beeinträchtigungen begründet. Für die zweite Gruppe hingegen werde die Gewalt über das Geschlechterverhältnis erklärt und mit einem essentialistischen Konzept von Kultur in Verbindung gebracht. Dies verweist einerseits auf die Relevanz des Zugangs der verstehenden Gewaltforschung für die sozialpädagogische Forschungspraxis und andererseits auf die Notwendigkeit der mehrdimensionalen Theoretisierung häuslicher Gewalt. In der weiteren Theoriebildung gilt es daher, die komplexen Lebenswirklichkeiten und sozialen Positionen Gewaltbetroffener verstärkt in den Blick zu rücken, insbesondere auch die Wechselwirkungen von sozialen Positionen und sozialen Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozessen.

6 Verstehende Gewaltforschung: sozialpädagogische Forschungspraxis

Im Beitrag wurde entlang des Modells der Gewalt-Modalitäten ein spezifisches Paradigma des Verstehens exemplarisch erläutert: Auf der Grundlage der dargelegten empirischen Rekonstruktionen und des Modells kann aus theoretischer Perspektive präzisiert werden, dass (Be‑)Deutungen von Gewalt als weitgehend unabhängig von der Schwere der Konsequenzen oder einer Veränderung der Gewaltdynamik zu verstehen sind. Über den Zugang der verstehenden Gewaltforschung kann ergänzend zur Ursachenforschung in der sozialpädagogischen Forschungspraxis eine Verbindung zwischen individuellen Deutungen und Lebenslagen und gesellschaftlichen Strukturen hergestellt werden, wodurch die gesellschaftlichen Verhältnisse und die strukturelle Dimension häuslicher Gewalt (wieder) in den Mittelpunkt rücken. Dabei gilt es auch das Wechselspiel und den Zusammenhang zwischen Ungleichheitskonstellationen, Diskriminierungen und Privilegien in einer Gesellschaft in den Blick zu nehmen.

Normalitätskonstruktionen stellen diesbezüglich nicht nur für die sozialpädagogische Forschung, sondern auch für die Soziale Arbeit eine Herausforderung dar, weil nicht von den eigenen Gewaltkonzepten ausgegangen werden kann oder davon, dass Gewalt eindeutig bestimmbar ist, eine Analyse von Gewalt und deren Deutungen wie auch sozialpädagogische Beratungsgespräche oder Präventionsarbeit zugleich aber die Herstellung eines Bezugs zu Konzepten von Gewalt erfordern. So ist es z. B. im Gespräch mit Interviewpartner*innen oder Klient*innen unabdingbar, bestimmte Begrifflichkeiten zu verwenden. Eine verstehende Perspektive soll dafür sensibilisieren, Gewalt weniger definitorisch oder systematisch, sondern vielmehr empirisch mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Aporien zu erschließen. Die eigenen Konzepte, normative Setzungen und die Art, wie über Gewalt gesprochen wird, sind ebenso zu hinterfragen wie gesellschaftliche Erwartungshaltungen.

Im Analyseprozess und in Beratungsgesprächen gilt es sodann, sowohl die eigenen Konstrukte von Gewalt als auch die Gegenkonstrukte des Gegenübers aufzudecken. Diese Gegenkonstrukte beziehen sich darauf, wie die Befragten selbst ihre Erfahrungen sprachlich fassen. Auf diese Weise kann festgestellt werden, woran sich die Betroffenen bei ihren Konstruktionen von Gewalt orientieren. Konzepte und Fragen, die von normativen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen überformt sind, sind zu erkennen und zu hinterfragen. Wird z. B. das Konzept von Handlung thematisch, so gilt es, die eigene Haltung zu hinterfragen: Was wird unter Handlung verstanden? Ist es das Gehen, im Sinne dessen, dass eine betroffene Person nach eigener Auffassung die Initiative ergreift, um die Beziehung zu beenden? Und sind diese (eigenen) Konzepte vergeschlechtlicht oder kulturalisiert? Wird das Konzept des Opferstatus betrachtet, so ist zu reflektieren, ob Männer und Frauen diesbezüglich unterschiedlich eingeschätzt werden. Dabei sollte der Fokus vermehrt auf die „Wirkung geschlechtsspezifischer Sozialisation und unterschiedlicher, hierarchisierter Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte, auf das Erleben von Gewalt bzw. auf die Möglichkeit des Ausübens von Gewalt“ (Helfferich et al. 2016, S. 4f.) gerichtet werden, um so die Verantwortung für das Geschehen und das soziale Problem als solches nicht zu individualisieren und am Verhalten Einzelner festzumachen, sondern verstärkt (wieder) die Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Dadurch können „Signale von Normalität“ (Kavemann 2016, S. 66) gesendet werden. Mittels dieser Signale sollen die erzählten Erfahrungen weder normalisiert noch bagatellisiert werden. Vielmehr soll auf diese Weise ein Zeichen gegen die gesellschaftliche Tabuisierung von Gewalt und die Stigmatisierung von Betroffenen gesetzt werden (Kavemann 2016, S. 66).

In diesem Zusammenhang stellt sich für die verstehende Gewaltforschung und die Sozialpädagogik die Anschlussfrage, inwiefern strukturelle Bedingungen in der Forschungspraxis zu überdenken sind, damit das Geschlecht und Ungleichheitsdimensionen, die damit in Wechselwirkung stehen, aufgrund der vergeschlechtlichten Erfahrungszusammenhänge und als gesellschaftliche Position ohne Rückgriff auf Normalitäts- und Ausnahmekonstruktionen zentral gestellt werden können. In Anschluss an die Istanbul-Konvention ist für die Sozialpädagogik relevant, einen Beitrag zur Ausgestaltung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen zu leisten, die auf den verschiedenen Ebenen wirksam werden können, verschiedene Betroffenengruppen ansprechen und einen Beitrag zum Aufbrechen gesellschaftlich genormter Gewalt‑, Opfer- und Beziehungsbilder, die eng verwoben mit tradierten Deutungsmustern und Problemkategorien sind, zu leisten. Über dieses Aufbrechen soll ermöglicht werden, häusliche Gewalt als Gesamtgesellschaftsthema und als strukturelles Problem anzugehen.