1 Forschungsfrage und -stand

In dem hier vorgestellten Verbundvorhaben werden mittels der Methoden der Onlinerecherche, der Ethnographie, der Netzwerkanalyse und der Humangeografie kulturelle Bildungsarrangements in drei ländlichen Räumen betrachtet.

Wenngleich Kultur und die Identifizierung der Formen kultureller Bildung im zurückliegenden Jahrzehnt erneut eine stärkere theoretisch-konzeptionelle und empirische Aufmerksamkeit erfuhren (Fuchs 2018), zeigt ein vergleichender Blick, dass das Verständnis von dem, was Kultur respektive kulturelle Bildung ausmacht, relativ disparat ist. Umfängliche Analysen zu den Angeboten und Einrichtungen auf kommunaler und regionaler Ebene liegen lediglich vereinzelt vor. Gänzlich fehlen vergleichende, das Feld der kulturellen Bildung insgesamt vermessende Übersichten und Analysen. Konkretere Studien zu kulturellen Perspektiven und Aktivitäten existieren jedoch für die Generation der Heranwachsenden (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012; Keuchel und Larue 2012). Dabei wird die starke Bedeutung non-formaler Arrangements betont. Im Wissen um deren Potenzial bestehen gleichwohl weiterhin Unsicherheiten bezüglich der Qualität und Relevanz der Angebote (Bürgermeister 2012). Ähnliches gilt bzgl. des Erkenntnisstandes zu kulturell-ästhetischen Angeboten im Kontext von ökologischen gesundheits- und sozialraumorientierten Projekten (Van Elsen und Retkowski 2019).

Zu registrieren ist auch, dass in Bezug auf die Identifizierung von Dimensionen ländlicher Räume unterschiedliche theoretische Positionen zu erkennen sind. Die definitorische Uneinheitlichkeit dokumentieren beispielsweise die verschiedenen Ansätze der statistischen Gebietsabgrenzung (Born und Steinführer 2018, S. 23 ff.). In der öffentlichen Wahrnehmung hält sich zudem die Auffassung, ländliche seien im Gegensatz zu urbanen Räumen per se dünn besiedelt, strukturschwach und infolgedessen benachteiligt. Entgegen der so unterstellten Dichotomie liefern jüngere Studien jedoch Hinweise darauf, dass infrastrukturelle Unterschiede für die herausgestellten regionalen Disparitäten verantwortlich sind (Debiel et al. 2012).

Trotz der begrifflichen Unschärfen sind die kulturpolitischen Rahmenbedingungen ländlicher Regionen seit Jahren Gegenstand der Forschung (Sievers 2018). Im Versuch, die Ergebnisse zu ordnen, kann mindestens dreierlei betont werden. Die Befunde deuten erstens darauf hin, dass eine gewachsene Vereinskultur starken Einfluss auf die Ausgestaltung kultureller Angebote hat. Zweitens werden spezifische Orte als Möglichkeitsräume für Angebote kultureller Bildung als bedeutsam erwähnt und auf die für kommunalpädagogische Zusammenhänge wichtigen Verbindungen zwischen Vereinsmitgliedschaft, Öffentlichkeit und Ökonomie verwiesen (Richter 2008). Als relevant markiert werden zudem einzelne Akteur*innen, die als Raumpioniere durch individuelles Engagement, Wissen und Sinnkonstruktionen kulturelle Bildung initiieren (Schneider 2014). Geprägt wird von diesen Feldern des Kulturellen drittens der Diskurs um bürgerschaftliches Engagement und Engagementpolitik als ein „sich neu konstituierendes Politikfeld“ (Olk et al. 2010, S. 11).

Die vorliegenden Befunde zu kulturellen Feldern und infrastrukturellen Besonderheiten ländlicher Räume sind insgesamt somit noch als unsicher anzusehen, auch weil umfassende Befunde zu den Arrangements der kulturellen Bildung in ländlichen Räumen lediglich in spärlicher Form und in vergleichender Perspektive bislang noch gar nicht vorliegen.

2 Theoretische Bezüge

Parallel zur Formatierung eines weiten Kulturbegriffs schärfte sich in den 1980er Jahren ein erweiterter Begriff von ästhetischer Bildung (Hoffmann 1979). Hier knüpft das Forschungsvorhaben empirisch an und verengt das Verständnis von Kultur nicht auf hochkulturelle Phänomene, sondern sieht auch in den pseudokonkreten Trivialitäten der Gestaltung des Alltags Momente von kulturell-ästhetischen Auseinandersetzungen (Dietrich 2015). Als Kultur werden Eigenaktivitäten von Subjekten in einem lebenslangen Reflexionsprozess (Reinwand-Weiss 2013) angesehen, die darauf abzielen, sich die Welt, Artefakte und Räume anzueignen, sie darzustellen, umzuformen, zur Disposition zu stellen, sich allein oder mit anderen auszutauschen und sich mit ästhetischen Ausdruckformen zu präsentieren.

Hieran anschließend wird in dem Forschungsvorhaben ein Verständnis von kultureller Bildung vertreten, das die klassische Programmatik der musischen Bildung überwindet und eine Idee favorisiert wie sie insbesondere in den kulturpädagogischen und kulturell-ästhetischen Diskursen anzutreffen ist und sich auch in den Diskursen, Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik zu verstehen, spiegelt (Sievers 2018) – konkreter: Kultur findet heute in soziokulturellen, kulturpädagogischen und gemeinwesenorientierten Projekten ebenso einen Ort wie in Museen, Bibliotheken, Schauspiel‑, Opern- und Musicalhäusern, findet in der Erwachsenenbildung ebenso statt wie in Kinder- und Jugendzentren und auf Abenteuerspielplätzen wie auch in der Vereins‑, Jugendverbands- und Jugendbildungsarbeit (Treptow 2001). Diese Arrangements werden als Felder (Bourdieu 2014; Bourdieu und Wacquant 1996) verstanden, die spezifische soziale Räume konstituieren sowie über diese konstituiert werden. Im Sinne eines relationalen Raummodells stellen Räume somit Figurationen dar, die in Wahrnehmungs‑, Erinnerungs- und Vorstellungsprozessen hergestellt und mit Deutungen belegt werden und insofern auch gesellschaftliche (Ungleichheits‑)Strukturen abbilden und reproduzieren (Löw 2001). Infolgedessen werden in dem Vorhaben auch die strukturellen Bedingungen erforscht, die kulturelle Bildung ermöglichen oder verhindern. Verschiedene Raumschichten werden beschrieben und Raum als ein Multi-level-Phänomen verstanden (Baur et al. 2014). Mit einem akteurszentrierten Zugang wird das Projekt auch der kritischen Debatte (vgl. Jullien 2018) gerecht, dass Soziale Arbeit dazu neige, Probleme ländlicher Räume in kollektiven Klassifikationen oder Identitäten zu bearbeiten. So wird vermieden, ländliche Räume entweder vorschnell mit vormodernen Vergemeinschaftungsformen mit nur geringem Individualisierungsgrad in Verbindung zu bringen oder sie als Orte von Tradition und Gemeinschaft zu verklären und die dort entwickelten Lebensformen unkritisch zu mythologisieren (vgl. Thole und Ziegler 2018).

3 Methodische Konzeption und Zugänge

Das Verbundvorhaben ist als ein Projekt der Netzwerk‑, Kultur- und Praxisanalyse konzipiert, das Sinn, Deutung und Symbolik in ihrer Interdependenz mit den Realien des Lebens in den Blick nimmt und auf das Verhältnis von praktizierter und materialisierter Kultur fokussiert (Hörning und Reuter 2008). Raumpraxen der Akteur*innen konkreter kultureller Systeme werden identifiziert und deren Zustandekommen im Sinne der Raumsoziologie verstanden. Kulturelle Praxis wird vor dem Hintergrund von sozialen Beziehungen und materiellen Lebensbedingungen fokussiert. Aus forschungsoperationalen Gründen wird davon ausgegangen, dass Möglichkeiten zur kulturellen Bildung in jenen formalen und non-formalen Feldern bestehen, wo über ästhetisch-kulturelle oder soziokulturelle Initiativen Kinder, Jugendliche und Erwachsene konkret angesprochen werden, um kulturelles Kapital über neue Erfahrungen anzueignen und ästhetische Selbstbildungsprozesse zu initiieren (vgl. Reinwand-Weiss 2013).

Desweiteren werden die Felder der kulturellen Bildung sowie Deutungs- und Sinnkonstruktionen werden unter Beachtung der Dimensionen Regionalität und Globalität, Generationenspezifität und Intergenerationalität, Tradition und Modernisierung, Genderhomogene und genderübergreifende Orientierungen identifiziert und analysiert. Insbesondere sollen diese Dimensionen über ethnographisch erhobene Praktiken in den unterschiedlichen Angebotsformaten erfasst werden. Die in diesen Dimensionen enthaltenen Spannungen im Prozess sozialen Wandels werden dokumentiert und differenziert, so dass analysiert werden kann, wie diese jeweils verhandelt werden.

Um eine an die Erfordernisse des Feldes orientierende Empirie zu gewährleisten, bildet die Ethnographie die übergreifende Forschungsstrategie des methodenpluralen Vorhabens. Entsprechend erfolgt eine Annäherung an die Komplexität der Arrangements kultureller Bildung mithilfe verschiedener sozialwissenschaftlicher Beobachtungs‑, Interview- und Diskussionssettings (Breidenstein et al. 2015; Thole 2010), kombiniert mit standardisierten Befragungen und Netzwerkanalysen (Kolleck 2014; Scott 2017).

Ermöglicht wird so ein paralleles und zugleich sequentielles Vorgehen. Dem Forschungsvorhaben liegt damit die Annahme zugrunde, dass das Kulturelle – die Kulturarbeit – eine spezifische wie allgemeine Gesamtheit erzeugt, die erstens „spezifische Raumkonstellationen“ und soziale Gegebenheiten für die handelnden Subjekte produziert und arrangiert, die zweitens spezifische Praktiken „der Benutzer und Bewohner“ hervorbringt und gestaltet und drittens sich in diesen Räumen „Bilder und Diskurse“ entwickeln, die den Räumen „erst eine kulturelle Bedeutung“ geben (Reckwitz 2017, S. 276). Über die Verknüpfung dieser Ebenen erfährt das Kulturelle seine konkrete Bedeutung und Form, die die Möglichkeiten der kulturellen Bildung herstellen wie auch potenziell verhindern.

Die avisierten Ergebnisse können dazu beitragen, dass Akteur*innen der kulturellen Bildung Fragen des Gelingens, potenzieller Probleme sowie der Bearbeitung von Arrangements und Settings diskutieren. Dabei stehen Perspektiven, Sinn- und Deutungskonstruktionen der im Feld Tätigen im Vordergrund, sodass das Vorhaben es letztlich vermag, über das je Spezifische in als peripher gekennzeichneten Räumen aufzuklären.