1 Hintergrund

Räumliche Mobilität ist nichts Ungewöhnliches. Vielmehr bieten verschiedene Lebensphasen die Möglichkeit, Entscheidungen hinsichtlich eines neuen Lebens- und Wohnorts zu treffen. Es sind daher biographische Gelegenheiten und Lebenslaufentscheidungen, verbunden mit den strukturellen Bedingungen am Wohn- und Zielort, die die Frage nach dem Gehen oder Bleiben? aufwerfen. Die Anlässe und Motive sind äußerst vielfältig: neben dem Auszug aus dem Elternhaus, dem Eintritt ins Erwerbsleben oder dem Zusammenziehen mit der Partner*in, spielen auch die Geburt eines Kindes oder der berufliche Wechsel mit (Klein‑)Kind eine Rolle. Darüber hinaus sind finanzielle Ressourcen, die Wohndauer sowie die Frage, ob jemand in der Region geboren ist oder nicht, relevant. Damit einher gehen Gefühle der Ortsgebundenheit sowie die subjektive Wichtigkeit sozialer Beziehungen, aber auch demographische, ökonomische und soziale Bedingungen am Wohn- und Zielort sind relevant (Kalter 1997; Kley 2009; Gabler und Kollmorgen 2016; Schametat et al. 2017).

Hinzukommt eine gesellschaftliche Erwartungshaltung, die ein Verlassen der ländlichen Räume als akzeptierten Bestandteil einer Normalbiografie begreift. Dabei spüren insbesondere Frauen, die ohne konkrete Abwanderungsabsichten verbleiben, einen Rechtfertigungsdruck. Die Absicht, die Region zu verlassen, wird in der Regel ungefragt hingenommen. Wenn Frauen in der Region verbleiben, verlangt dies scheinbar eine starke Reflexion sowie eine gute Rechtfertigung (Albrecht 2005; Leibert und Wiest 2014).

2 Erkenntnisinteresse

Im Fokus der hiesigen Untersuchung stehen Frauen, die sich für das Bleiben in ländlichen Räumen entschieden haben. Von Interesse ist, an welcher biographischen Stelle (wenn überhaupt), haben sich bisher Wanderungsgedanken entwickelt, und gingen aus diesen auch konkrete Planungen hervor? Wie gestalten sich Entscheidungsprozesse, aus denen letztlich Immobilität, Sesshaftigkeit, resultiert. Es wird genauer gefragt:

  • Welche Konzepte sind bedeutend, wenn es um das Bleiben in ländlichen Räumen geht?

  • Wer und/oder was beeinflusst dies?

  • Wie verorten sich die Frauen in ländlichen Räumen?

  • Welche Einstellungen und Wahrnehmungen bestehen gegenüber dem Verbleib?

Dabei wird eine handlungstheoretische Perspektive eingenommen. Handlungsfähigkeiten und -chancen sowie Gelegenheitsstrukturen werden in den Blick genommen und typische Ausprägungen im Kontext biographisch-räumlicher und -zeitlicher Komponenten eingeordnet. Im Fokus bisheriger Untersuchungen stehen vor allem Bleibestrategien, Bleibemotive und Bleibeorientierungen vornehmlich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Zusammenhang mit der Berufswahlentscheidung (bspw. Schametat et al. 2017; Wochnik 2014). Dieses Dissertationsprojekt setzt hingegen einen Schwerpunkt auf auch darüber hinausfolgende biographische Gelegenheiten, die einen Umzug in nicht ländliche Räume in Betracht ziehen lassen und nimmt jene Personen in den Blick, die weitestgehend gesettelt sind.

3 Untersuchungsdesign: Methodologisches und methodisches Vorgehen

Methodologisch orientiert sich das Anliegen an der Reflexiven Grounded Theory (R/GT) (Breuer et al. 2019; Strauss 1991). Dabei ist das Bewusstsein und die Reflexion darüber, dass die bzw. der Forscher*in Akteur*in des zu beforschenden Handlungs- und Interaktionsfeldes ist, ein ausschlaggebender Bestandteil des Forschungsvorgehens und gleichwohl das herausragende Merkmal der Reflexiven Grounded Theory. Datengrundlage bilden neben biographischen Gesprächen (Schütze 1983) auch Memos der Forscherin. Aus den gewonnen Daten emergieren Kategorien und schließlich Konzepte. Diese werden aufgrund einer regelbasierten Auswertungsmethodik (dreischrittiges Codierverfahren) abduktiv herausgearbeitet. Jeder Fall wird auf seinen theoretischen Gehalt hin überprüft. Davon ausgehend werden verallgemeinerungsfähige Kategorien durch die Betrachtung kontrastiven Fälle untersucht, unterfüttert und modifiziert (theoretical sampling). Die gebildeten Kategorien bilden die Grundlage einer mehrdimensionalen Typologie (Kelle und Kluge 2010).

4 Fallauswahl

Untersuchungsräume sind die ländlichen Räume in Mecklenburg-Vorpommern (Küpper 2016). Die befragten Frauen befinden sich in der dritten Lebensphase, zwischen Jugend/jungen Erwachsenen und Altersruhestand. Es besteht die Annahme, dass der soziale sowie ökonomische Verselbstständigungsprozess (Junge 1995) abgeschlossen und eine autonome Entscheidungsfähigkeit sowie -möglichkeit vorhanden ist. Darüber hinaus haben zentrale Elemente wie Familie und Erwerbsleben eine Gerichtetheit erfahren (Sackmann 2007), was wiederum darauf hindeutet, dass in der Regel relevante Lebensphasen, die häufig mit Wanderungsentscheidungen einhergehen (Kley 2009), bereits durchlebt wurden. Der Bildungsstatus der befragten Frauen ist heterogen, so befinden sich sowohl Frauen mit Hochschulabschluss als auch beruflicher Ausbildung in der Fallauswahl.

5 Einblick in die Analyse

Erste Ergebnisse aus der Analyse deuten darauf hin, dass zwar sowohl rationale und auch intuitive Bleibegründe ausschlaggebend sind, die eine Rechtfertigung sowie Legitimierung des Bleibens in ländlichen Räumen herausfordern. Die Analyse biographischer Verläufe zeigt allerdings auch, dass vergangene und gegenwärtige Wahrnehmungen von erlebten und gelebten Räumen sowie die damit verbundene Verknüpfung von Erfahrungen in diesen Räumen ausschlaggebend sind. Dieses Verorten im Zusammenspiel biographischer Verläufe determiniert die derzeitige Typologie, welche bisher drei herausgearbeitete Typen fokussiert. Typ 1 charakterisiert sich durch eine sukzessive Zunahme des Bleiben-wollens in ländlichen Räumen. Für Typ 2 hingegeben ist das Bleiben in ländlichen Räumen eine Selbstverständlichkeit und unhinterfragte Konstante des bisherigen Lebensentwurfs. Typ 3 entwickelt aufgrund heteronomer und damit eingeschränkter Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten eine zunehmend ablehnende Haltung gegenüber dem Bleiben in ländlichen Räumen. Die Dissertation leistet einen Beitrag dazu, spezifische Lebenslagen von Frauen aus ländlichen Räumen zu verstehen und fördert durch Aufklärung den Abbau sozialer Ungleichheit, welches gleichwohl ein Schwerpunkt Sozialer Arbeit ist.