1 Problemstellung und Forschungsstand

Obwohl die Wege in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit aufgrund des jeweiligen biographischen Hintergrunds und der Problemlagen der Betroffenen sehr vielfältig und vielschichtig sind, dominiert bei den meisten eine prekäre finanzielle Lage bzw. materielle Armut (Gerull 2014; Malyssek und Störch 2009; Paulgerg-Muschiol 2009; Levinson 2004). Diese geht einher mit einem weitreichenden Verlust von materiellen, kulturellen, sozialen und politischen Möglichkeiten am Leben der Gesellschaft teilzunehmen. Dazu zählen beispielsweise eine Benachteiligung bei der institutionellen Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, der Ausschluss von der Nutzung der regulären technisch-materiellen urbanen Infrastruktur, der Verlust des Ansehens, negative Etikettierungen und Stigmatisierung. Des Weiteren besteht die Gefahr der Verengung der sozialen Kontakte auf ein Milieu mit geringer Reichweite und die Gefahr der sozialen Isolation durch eine Reduzierung der sozialen Kontakte. Insgesamt ist festzustellen, dass die Lebenslagen von wohnungslosen Personen häufig durch Multiproblemlagen gekennzeichnet sind, also eine Mehrfachbelastung durch Faktoren wie z. B. Armut, Wohnungslosigkeit, Suchtproblematik, psychische und/oder somatische Erkrankungen, Arbeitslosigkeit und Überschuldung aufweisen (Paegelow 2012). Von fehlenden Teilhabemöglichkeiten sind jedoch nicht nur wohnungslose und obdachlose Menschen betroffen, vielmehr weitet sich in Zeiten der Verknappung von leistbarem Wohnraum der Kreis derjenigen, die vom Wohnraumverlust bedroht sind, auf immer weitere Bevölkerungsgruppen aus (Sowa 2020; Holm 2014; Wehrheim 2012). Damit wird die ohnehin schon heterogene Gruppe der Wohnungslosen noch heterogener.

Bisherige gesellschaftliche Teilhabebemühungen delegieren das soziale Problem der Wohnungslosigkeit auf die Angebote Sozialer Arbeit in der Wohnungslosenhilfe, welche mit Tagesaufenthaltsmöglichkeiten (Wärmestuben, Suppenküchen, Essenstafeln), Übernachtungsangeboten (Heime, Pensionen, Wohnungen, Notschlafstellen), Gesundheitshilfen (Straßenambulanz) sowie tagesstrukturierenden Aktivitäten (Werkstätten, Kreativprojekte, Sport) zwar gut ausdifferenziert sind, aber der Heterogenität der Zielgruppe nicht mehr gerecht werden. So wird im wissenschaftlichen Diskurs darauf hingewiesen, dass nicht alle Wohnungslosen die Angebote annehmen. Dies wird beispielsweise damit erklärt, dass es sich beim System der Wohnungslosenhilfe um ein bürgerliches und paternalistisches System handelt, in dem sich Wohnungslose und Professionelle (z. B. Sozialarbeiter*innen) als Angehörige unterschiedlicher Milieus gegenüberstehen, die aufgrund der verschiedenen Normalitätsvorstellungen das Phänomen der Wohnungslosigkeit unterschiedlich interpretieren. Erst ein Verständnis der pluralen Lebenswelten von Wohnungslosen führt zu Angeboten, die den Bedarfen gerecht werden. Daher müssen die Partizipationsmöglichkeiten der Betroffenen ausgeweitet werden (Studeny 2020, 2015; Szynka 2014).

Obgleich in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft der Einsatz von digitalen Kommunikations- und Informationstechnologien immer selbstverständlicher wird, überrascht es, dass die Erhöhung der Teilhabechancen via digitalen Angeboten weder in der Forschung noch in der Praxis prominent thematisiert wird. Bisherige Forschungen zeigen zwar, dass viele wohnungslose Menschen Smartphones und Computer in ihrem täglichen Leben nutzen, auch wenn der Gebrauch innerhalb dieser Gruppe heterogen ist (Rhoades et al. 2017; Harris 2017; Humphry und Phil 2016; Humphry 2014; Guadagno et al. 2013; Eyrich-Garg 2011, 2010; Roberson und Nardi 2010; Le Dantec und Edwards 2008; Miller et al. 2005). Eine digitale Spaltung kann daher nicht zwischen wohnungslosen und nicht-wohnungslosen Menschen konstatiert werden – eher verläuft eine derartige Spaltung innerhalb der Gruppen. Allerdings sind die konkrete Nutzung digitaler Medien, die individuellen Bedarfe an digitaler Partizipation, die Auswirkung von Wohnungslosigkeit auf das Nutzungsverhalten und die Verbesserung von Teilhabechancen Wohnungsloser durch digitale Unterstützungsangebote bisher kaum erforscht.

2 Forschungsziele, -design und methodisches Vorgehen

Dieser bisher vernachlässigten Thematik geht das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für drei Jahre finanzierte Forschungsprojekt „SIWo – Smart Inklusion für Wohnungslose“Footnote 1 nach. Im Zentrum des Forschungsinteresses steht die Frage, welche Informations-, Unterstützungs- und Beratungsbedarfe bei wohnungslosen Menschen vorliegen und in welcher Form diese mit Hilfe von digitalisierten Angeboten gedeckt werden können. Mit diesem Fokus ist zu erwarten, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse über den Beitrag von digitalisierten Präventions-, Kooperations- und Interventionsmöglichkeiten zur gesellschaftlichen Inklusion von Wohnungslosen gewonnen werden. Gleichzeitig wird deutlich werden, wo Grenzen der Digitalisierung liegen.

Um die genannten Forschungsziele zu erreichen, wird ein qualitatives, partizipatives und interdisziplinäres Forschungsdesign gewählt. Hierfür werden zunächst die Bedarfe mit Hilfe von Gruppendiskussionen mit unterschiedlichen Stadtakteur*innen (z. B. Soziale Arbeit, Stadtverwaltung) und wohnungslosen Gruppen (z. B. jugendlichen Obdachlosen, wohnungslosen Frauen, Migrant*innen aus osteuropäischen EU-Staaten) sowie verstehenden leitfadengestützten Interviews mit Wohnungslosen erhoben. Der Samplingprozess orientiert sich dabei am forschungspraktischen Vorgehen der Grounded Theory (Glaser und Strauss 1998). Der zweistufige Auswertungsprozess sieht zunächst eine Erschließung der relevanten Kategorien des Feldes durch die Anwendung der Sequenzanalyse vor, bevor dann die Kodierung des gesamten empirischen Materials mit Verfahren der Grounded Theory erfolgt. Gleichzeitig vollzieht das Usability Engineering User Research mit ausgesuchten Expert*innengruppen (z. B. der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen), bspw. Gruppendiskussionen, bei denen konkrete Themen gezielt gesetzt sind, um für im Vorfeld definierte Problemräume mit Hilfe der Expert*innen ein vertieftes Verständnis über die Kontexte, Erfordernisse, Probleme und Präferenzen von Nutzer*innen zu erhalten. Mit den Diskussionsergebnissen können (Benutzer*innen-)anforderungen identifiziert und in weiteren kollaborativen Prozessen Lösungsideen entwickelt werden (Geis et al. 2016).

Aus den gebündelten Ergebnissen der sozialwissenschaftlichen Forschung und des User Research werden Anforderungen für die Informatik und die Energietechnik abgeleitet und direkt in prototypische Lösungen in Form einer plattformübergreifenden Hilfe-App (webbasierte Applikationen für mobile und stationäre Endgeräte) überführt, welche in Nürnberg erprobt wird. Vorstellbar wäre, dass Informationen zum lokalen Hilfeangebot bereitgestellt und Formen von Onlineberatung sowie Peer-Beratung bzw. ein Austausch unter Wohnungslosen ermöglicht werden. Im Mittelpunkt könnten interaktive Funktionen stehen, die dazu führen, dass die digitalisierten Angebote sich nicht nur auf die beschriebenen Zielgruppen konzentrieren, sondern alle Stadtakteur*innen beteiligen (z. B. Soziale Arbeit, Stadtverwaltung, Zivilgesellschaft/Bürgerschaft, lokale Wirtschaft wie Wohnungswirtschaft oder Gastronomie etc.) und auf diese Weise digitalisierte Begegnungsräume geschaffen und Interaktionen auch zwischen Bevölkerungsgruppen gefördert werden, deren Lebenswelten sonst getrennt sind. Smart-City Elemente könnten die Teilhabechancen von Wohnungslosen an der urbanen Infrastruktur verbessern, z. B. wenn die Zielgruppen internetfähige, robuste Smartphones, Zugang zu kostenfreiem WLAN und Lademöglichkeiten sowie Schulungen erhalten. In den Testphasen der Prototypen wird das tatsächliche Nutzungsverhalten der Adressat*innen mit Hilfe von teilnehmenden Beobachtungen erforscht und evaluiert, welche Gruppen von Wohnungslosen durch die digitalen Angebote erreicht werden und ob Teilhabechancen verbessert werden. Dabei wird eine Herausforderung des Projekts sein, den Schutz von sensiblen Daten zu gewährleisten.

Der verstehende Zugang zur Situation Wohnungsloser und sich in Wohnungsnot befindlicher Menschen, die Offenheit für bislang unbekannte Lösungsansätze, die Modularität des Servicedesigns und die Perspektiverweiterung auf gesamtgesellschaftliche Akteure spiegeln die Heterogenität der Wohnungslosen und die sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wider.