1 Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand

Fast jeder kennt es, ob aus der Schul‑, Ausbildungs- oder Studienzeit oder mitten im Berufsleben: das Praktikum. Es ist oftmals für den Einzelnen die erste Möglichkeit, in einem Arbeitsfeld praktische Erfahrungen zu sammeln. Gleichzeitig ist es gesamtgesellschaftlich betrachtet ein „zentrales Instrument zur beruflichen Orientierung und Qualifizierung“ (Vatter 2013, S. 17). In einem zeitlich begrenzten Umfang soll ein Einblick in ein Berufsfeld und der Erwerb praktischer Kenntnisse erfolgen. Der Erfahrungsraum Praktikum stellt eine Basis zur Entwicklung eines professionellen Habitus dar, welcher den Praktikant*innen individuelle Professionalisierungschancen und -prozesse eröffnet und ermöglicht (vgl. Männle 2013, S. 2). Dieses Eintauchen in die Berufspraxis kann äußerst facettenreich sein und wird von den Beteiligten auf unterschiedliche Art und Weise erlebt. Mit der Entscheidung für ein Praktikum geht ein Wechsel und Übergang einher. Andreas Walther und Barbara Stauber (2013) sprechen von einer „Konfrontation mit neuen Anforderungen, deren biographische Anschlussfähigkeit und Passung nicht von vornherein gegeben sind, sondern aktiv hergestellt werden und aus der Bilanzierung des vergangenen und vor dem Entwurf des zukünftigen Lebens subjektiv Sinn machen müssen“ (Walther und Stauber 2013, S. 31). Diese Übergänge sind sowohl subjektiv als auch gesellschaftlich hoch relevante Ereignisse, die in ihrer Funktion als „Wendepunkt“ in der Biographie, wissenschaftlich interessant sind (vgl. Schröer et al. 2013, S. 16).

Im Rahmen dieses Dissertationsvorhabens werden die Übergangserfahrungen von Studierenden der Sozialen Arbeit in Auslandspraktika untersucht. Bisherige Recherchen zeigen, dass schon allein der Untersuchungsgegenstand des Praktikums in der Sozialen Arbeit generell weniger erforscht ist. Mit Blick auf den Forschungsstand über Auslandspraktika im Speziellen kann von einer Forschungslücke ausgegangen werden, die es zu schließen gilt. Es finden sich vor allem Handbücher mit Anleitungen zur Gestaltung des Praktikums in der Sozialen Arbeit (z. B. Ellermann 2002) sowie vereinzelt Studien, die Praktika aus unterschiedlichen Perspektiven fokussieren. Auf der Grundlage von Fragebogenerhebungen hat unter anderem Elke von der Haar (1996) die Ausbildungssituation von Studierenden der Sozialen Arbeit an sich, ihre Problembereiche sowie die Anleitung im Inlandspraktikum der Sozialen Arbeit untersucht und Empfehlungen zur Verbesserung der Praktika sowie Checklisten entwickelt (vgl. von der Haar 1996). Birte Egloff (2002) stellte mittels Deutungsmusteranalyse einen Vergleich zwischen Praktikant*innen aus den Studiengängen Pädagogik und Humanmedizin her. Als zentrales Ergebnis hält sie fest, dass die Gestaltung von Praktika in Deutschland in beiden Disziplinen sich nicht wesentlich unterscheiden und Praktika mehr aus der Perspektive der Studierenden statt der beteiligten Institutionen zu betrachten sind (vgl. Egloff 2002). Die beiden amerikanischen Forscher David Engstrom und Loring P. Jones (2007) untersuchten Wert und Bedeutsamkeit der gesammelten Erfahrungen aus Auslandspraktika für den Umgang mit Diversität und Vielfalt in der Rolle als Sozialarbeiter*in. Als Ergebnis arbeiteten sie die zentrale Bedeutsamkeit des Sammelns praktischer Erfahrung im Ausland für das professionelle Handeln als Sozialarbeiter*in heraus (vgl. Engstrom und Jones 2007). Kiran Thampi (2017) stellt ein allgemeines Modell zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung internationaler Praktika in der Sozialen Arbeit vor, welches im Idealfall von sendender und aufnehmender Institution gemeinsam gestaltet wird (vgl. Thampi 2017). Mittels einer leitfadengestützten Befragung untersuchten Ulrich Reitemeier und Cornelia Frey (2012) das Berufspraktikum in der Sozialen Arbeit (nur Inlandspraktika) als Statuspassage aus der Perspektive der Absolvent*innen. Primäres Ziel war es, spezifische Prozessstrukturen dieser Übergangsphase mit Blick auf die Anleiter*innen-Praktikant*innen-Beziehung zu identifizieren (vgl. Reitemeier und Frey 2012). In einer aktuellen Arbeit analysiert Birgit Stauder (2017) die gesammelten Erfahrungen von Studierenden der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik während des Praktikums in Deutschland. Aus der Analyse leitfadengestützter Interviews hält sie als Ergebnis fest, dass „Praktika eine professionalisierende Wirkung unterstellt werden [kann] und zwar sowohl bei der Entwicklung der Handlungskompetenz, der Theorie-Praxis-Relationierung als auch der Reflexionsfähigkeit“ (Stauder 2017, S. 174). Diese bereits bestehenden Forschungsaktivitäten sollen um die Perspektive auf die Übergangserfahrungen von Studierenden der Sozialen Arbeit im Auslandspraktikum erweitert werden. Hier kommt insbesondere die Aktualität der Thematik zum Tragen: Internationalisierung, Mobilität und das Sammeln von Auslandserfahrungen während der Hochschulausbildung sind nicht nur erklärte Ziele der Bundesregierung, sondern Hochschulen und Universitäten in ganz Deutschland streben in ihren Internationalisierungsstrategien nach hohen Out- und Incoming-Zahlen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2016). K. Thampi unterstreicht die Bedeutsamkeit globaler Perspektiven und internationaler Praktika in der Sozialen Arbeit. Er verweist darauf, dass „International Social Work“ und das Sammeln praktischer Erfahrung im Ausland während der Berufsausbildung als Sozialarbeiter*innen mehr denn je integraler Bestandteil des Ausbildungscurriculums werden sollte (vgl. Thampi 2017, S. 11).

2 Forschungsziel und Fragestellung

Ziel ist es, im Rahmen dieses Dissertationsvorhabens (erfolgt in Kooperation des Instituts für Sozialwesen der Universität Kassel und des Fachgebiets „Soziale Dienstleistungen für strukturschwache Regionen“ der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg) aus berufs- und übergangsbiographischer Forschungssicht die subjektive Perspektive von Praktikant*innen im Erfahrungs- und Übergangsraum Auslandspraktikum als selbstgewählte spezifische Praktikumsform zu erfassen und zu rekonstruieren. Fokussiert werden Studierende der Sozialen Arbeit, die im Rahmen ihrer berufspraktischen Ausbildung Übergänge erfahren und erleben. Es wird davon ausgegangen, dass Studierende, die sich für ein Auslandspraktikum entscheiden, sich in einer Art „doppelten Übergang“ im Sinne einer doppelten Bewältigungssituation befinden. Während Praktikant*innen in Deutschland sich zunächst lediglich auf den Übergang vom Studium ins Praktikum einlassen, sind Auslandspraktikant*innen in zweierlei Hinsicht gefordert. Zum einen den Übergang von einer Studierenden zur Praktikant*in, zum anderen den Übergang vom Heimatland ins gewählte Ausland zu meistern. Diese Übergänge finden gleichzeitig statt, beeinflussen sich gegenseitig, stehen gar in einem Spannungsverhältnis und können somit nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Auch der Austritt aus der Praxisphase ist als relevantes Übergangsereignis zu sehen. Während im Heimatland der Wechsel von Praktikant*in zu Studierender erfolgt, ist beim Auslandspraktikum wieder ein Übergang in doppelter Hinsicht notwendig: vom Praktikant*in zur Studierenden und vom gewählten Ausland wieder zurück ins „Heimatland“.

Der berufsbiographische Einfluss dieser Übergänge steht im Forschungsinteresse. Es wird untersucht, welche Erfahrungen die ehemaligen Praktikant*innen der Sozialen Arbeit im Auslandspraktikum sammeln und welchen Stellenwert diese für ihre berufliche Entwicklung und Biographie haben. Wie wirken sich diese Erfahrungen auf die weitere Gestaltung der Berufsbiographie aus, wie werden diese bewertet und welche professionellen Selbstdeutungen stehen damit in Verbindung? Entscheidend für die professionelle und persönliche Weiterentwicklung sind die Eigenschaften, Erlebnisse und Erfahrungen, die während der Übergänge gesammelt und von den Auslandspraktikant*innen bewertet werden. Ziel ist es, die Ausgestaltung der individuellen Bewältigungsstrategien (nach Lothar Böhnisch (2017) „das Streben nach subjektiver Handlungsfähigkeit in Lebenssituationen, in denen das psychosoziale Gleichgewicht – im Zusammenspiel von Selbstwert, sozialer Anerkennung und Selbstwirksamkeit – gefährdet ist“ (Böhnisch 2017, S. 25)) sowie berufsrelevante Erfahrungsspektren und Bewertungen von Praktikant*innen im Übergangsraum Auslandspraktikum aufzuzeigen. Es ist zu klären, inwiefern das Auslandspraktikum als „doppelter Übergang“ aus Sicht der Auslandspraktikant*innen betrachtet wird und wie dieser von den Auslandspraktikant*innen erlebt wird. Die gewonnenen Erkenntnisse stellen die Grundlage zur Generierung entsprechender Implikationen dar und sind als wertvoller Beitrag zur Schließung der Forschungslücken zu sehen. Ziel ist es, die berufspraktische Gestaltung von Auslandspraktika und ihren „doppelten Übergängen“ in Zukunft noch zu verbessern (zum Beispiel mit Blick auf die „Vereinfachung“ und Unterstützung der Übergänge, die Entwicklung von Professionalität, berufliche und persönliche Weiterentwicklung, weiterer Unterstützungsbedarf, etc.). Es sollen unter anderem Empfehlungen für die Gestaltung von Konzeptionen zukünftiger Auslandspraktika sowie die Integration von Internationalisierung in das Studium der Sozialen Arbeit erstellt werden.

3 Forschungsmethoden

Im Untersuchungsfokus dieser qualitativen Studie stehen die subjektiven Schilderungen von Auslandspraktikant*innen in der Sozialen Arbeit. Die Rekonstruktion der individuell erlebten Auslandserfahrungen erfolgt mittels der qualitativen Methode des narrativen Interviews (vgl. Schütze 1983, 1987). Insgesamt wurden 58 narrative Interviews mit ehemaligen Auslandspraktikant*innen von 21 verschiedenen deutschen Hochschulen und Universitäten mit Studiengängen in Sozialer Arbeit durchgeführt. Vorweg fand eine kurze Online-Vorabumfrage zur standardisierten Erhebung deskriptiver Daten (wie z. B. Staatsangehörigkeit, Alter, Muttersprache, Schulabschluss, etc.) statt, welche zu statistischen Vergleichen innerhalb des Samples herangezogen wird. Die Teilnehmer*innen der Studie sind Studierende der Sozialen Arbeit, die zwischen 2015 und 2017 ein Auslandspraktikum absolviert haben. In ihren Erzählungen finden sich reichhaltige Aussagen zu diesem Einlassen auf das Unbekannte, das Meistern der Übergänge von der Studierenden zur Praktikant*in und vom „Heimatland“ ins gewählte Ausland sowie die hiermit einhergehenden Herausforderungen. Um den komplexen Datenkorpus aus Vorab-Umfrage und Interviews inhaltsanalytisch und rekonstruktiv zu bewältigen, wird auf die Grounded Theory zurückgegriffen (vgl. Glaser und Strauss 1967). Hinzu kommt, dass aufgrund der wenigen Vorarbeiten bzw. Literatur ein offenes und variables Vorgehen mittels einer vor allem „entdeckenden“ methodologischen Grundlage notwendig ist. Die Methodologie der Grounded Theory erlaubt dem Forschenden eine immer weiter gehende Fokussierung, bei gleichzeitiger Offenheit im Verlauf des gesamten Forschungsprozesses, um „neue theoretische Vorstellungen zu einem Gegenstandsbereich zu entwickeln und auszuarbeiten“ (Breuer et al. 2018, S. 7). Ziel der Auswertung des erhobenen Datenmaterials mittels dieser Methodologie ist die Konstruktion eines neuen theoretischen Modells über die berufsbiographische Bedeutung des „doppelten Übergangs“ im Auslandspraktikum während des Studiums der Sozialen Arbeit.