Zusammenfassung
Am Beispiel einer Interviewstudie über abgebrochenes bürgerschaftliches Engagement von Menschen „mit Migrationshintergrund“ in der Wohlfahrtspflege diskutiert der Artikel die Offenheit in migrationssensibler Forschung. Im Beitrag wird mit der Dokumentarischen Methode nach den geteilten Erfahrungsräumen gefragt, welche Engagementabbrüchen in der Wohlfahrt zu Grunde liegen. Im Vergleich der Interviews wird deutlich, dass diese Erfahrungen im Feld begründet sind – und nicht in migrationsbezogenen Kategorisierungen: In der Sorgetätigkeit machen die Engagierten Erfahrungen sowohl von Nähe und Resonanz (die sie an das Engagement binden) als auch von Widerspruch, wenn sie ihre Werte – insbesondere in der ökonomisierten Organisation von Hilfe – missachtet sehen. Diese Erfahrungen differieren nicht nach „Migrationshintergrund“. Auf dieser Grundlage analysiert der Beitrag, wie und wieso sich in einem Forschungsprojekt über Menschen „mit Migrationshintergrund“ die Erkenntnis entwickeln kann, dass eben dieser für die Beantwortung der Forschungsfrage nicht oder nur am Rande relevant gemacht wird.
Abstract
Taking the example of an interview study with people of immigrant origin who dropped out of volunteering for charitable organizations, this article discusses the issue of openness in migration-sensitive research. The documentary method is used to explore the shared spheres of experience which lead people to stop volunteering in the charity sector. A comparison of the interviews reveals that these experiences are based in the field of charity work itself − and not in migration-related categorization. While caring for others, the volunteers experience not only closeness and resonance (which keep them committed to the volunteering) but also conflict, especially if they see their values as being disregarded when care is organized in an economized fashion. There is no difference between the narrations of migrants or non-migrants in this respect. Bearing in mind that the research project initially aimed to highlight a migration-sensitive issue, the paper analyses the conditions for developing such an unexpected result.
Notes
Unter dem Titel „Abgebrochene Zugänge zu bürgerschaftlichem Engagement. Eine qualitative Studie am Beispiel von Menschen mit Migrationshintergrund in deutschen Wohlfahrtsverbänden“ wurde ein von der DFG finanziertes Forschungsprojekt durchgeführt. Wir danken Anne-Marie Stumpf, Moritz Müller und Annette Langeheinecke-Utsch für ihre tatkräftige Mitarbeit.
Entsprechend unserer konstruktivistischen Perspektive gehen wir nicht davon aus, dass Menschen einen „Migrationshintergrund“ haben, wie etwa eine Augenfarbe, sondern dass dieser ihnen zugeschrieben wird. Bei diesen Zuschreibungen wirken gesellschaftliche Diskurse ebenso wie (sich verändernde) Operationalisierungen im Rahmen statistischer Definitionen.
In der Migrationsforschung werden zwei Ansätze zuweilen als konträr analysiert: Einer, der die Unterschiedlichkeit von Lebenslagen und Lebenspraxen herausstreicht, um damit den ungleichen Zugang zu Status und Ressourcen thematisieren zu können, und ein anderer, der stärker die symbolische Herstellung von Differenz und Andersheit betont (vgl. Mecheril und Melter 2012).
Hinzu kommt, dass Wohlfahrtsverbände langjährig in die Migrationsarbeit in Deutschland eingebunden waren und bis heute sind (Papen Robredo 2017).
Interview Linda, Zeilen 190–204.
In Anlehnung an Albert O. Hirschman (1974) haben wir solche geschilderten Kritiken als Widerspruch benannt, ansonsten aber diesen Analyserahmen nicht systematisch angewendet.
Interview Francesco, Zeilen 203–217.
Zu den genannten Aspekten in F. Schützes Ansatz sind unterschiedlichste Kritiken und Anfragen formuliert worden. Ablehnung und Wertschätzung scheinen sich die Waage zu halten (vgl. Bohnsack 2010, S. 100 ff.).
Die Funktion des Leitfadens kann dabei unterschiedlich bewertet werden. Sie changiert zwischen einer Erinnerungsstütze und einem inhaltlich strukturierenden Kommunikationsordner (zur Methodendiskussion vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2009, S. 138 ff.).
Bei dieser Argumentationsweise wird eine Perspektive offensichtlich, die uns in mancher Engagementforschung gerade mit Menschen „mit Migrationshintergrund“ nicht ausreichend reflektiert wird: Die Vorabannahme, dass eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit für eine Person und ihr persönliches Erleben einen Unterschied mache.
Die Dokumentarische Methode geht bei Erfahrungsräumen von handlungspraktischen Zusammenhängen aus (vgl. Mannheim 1980).
Mit Fokussiermetaphern sind in der Methodensprache der Dokumentarischen Methode Passagen der Darstellung gemeint, in denen entweder (wie bei Gruppendiskussionen) eine hohe interaktive Dichte herrscht oder (wie bei Interviews) sich Befragte fokussiert und mit Nachdruck äußern.
Die Transkripte wurden in einer regelmäßig arbeitenden Arbeitsgruppe zu viert gelesen und diskutiert, das meint: zunächst im Sinne einer Aneignung des Gesagten und gleichzeitigen Distanzierung vom Transkript reformuliert und dann anschließend mit passenden Vergleichspassagen anderer Transkripte kontrastiert und somit abstrahiert. Dies geschah auch in projektübergreifenden Forschungswerkstätten. Ziel war es dabei, Lesarten zu entwickeln, zu diskutieren und deren Sinnhaftigkeit für das Material zu besprechen.
Dies unterscheidet die Dokumentarische Methode von der Biographieforschung nach F. Schütze, dem es wesentlich darum geht zu verstehen, wie der Einzelfall entwickelt wird (vgl. dazu auch Schütze 2005).
Literatur
Allen, J. A., & Mueller, S. L. (2013). The revolving door. A closer look at major factors in volunteers’ intention to quit. Journal of Community Psychology, 41(2), 139–155.
Backhaus-Maul, H., Speck, K., Hörnlein, M., & Krohn, M. (2015). Engagement in der Freien Wohlfahrtspflege. Empirische Befunde aus der Terra incognita eines Spitzenverbandes. Wiesbaden: Springer VS.
Bohnsack, R. (2010). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden (8. Aufl.). Opladen: Barbara Budrich.
Brückner, M. (2009). Die Sorge um die Familie – Care im Kontext Sozialer Arbeit und öffentlicher Wohlfahrt. In C. Beckmann, H.-U. Otto, M. Richter & M. Schrödter (Hrsg.), Neue Familialität als Herausforderung der Jugendhilfe. neue praxis, Sonderheft 9, 39–48.
Chacón, F., Vecina, M. L., & Dávila, M. C. (2007). The three-stage modell of volunteers’ duration of service. Social Behavior and Personality, 35(5), 627–642.
Diehm, I., Kuhn, M., & Machold, C. (2013). Ethnomethodologie und Ungleichheit? Methodologische Herausforderungen einer ethnographischen Differenzforschung. In J. Budde (Hrsg.), Unscharfe Einsätze: (Re‑)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld (S. 29–52). Wiesbaden: Springer.
Fraser, N. (2003). Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung. In N. Fraser & A. Honneth (Hrsg.), Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse (S. 13–128). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gensicke, T., & Geiss, S. (2010). Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und Bürgerschaftlichem Engagement. München: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. https://www.bmfsfj.de/blob/jump/93170/3--freiwilligensurvey-hauptbericht-data.pdf. Zugegriffen: 18. Juni 2018.
Goffman, E. (1975). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Halm, D. (2011). Bürgerschaftliches Engagement in der Einwanderungsgesellschaft. Bedeutung, Situation und Förderstrategien. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 24(2), 14–24.
Haski-Leventhal, D., & Bargal, D. (2008). The volunteer stages and transitions model. Organizational socialization of volunteers. Human Relations, 61(1), 67–102.
Heintz, B., Nadai, E., Fischer, R., & Ummel, H. (1997). Ungleich unter Gleichen. Studien zur geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes. Frankfurt am Main, New York: Campus.
Hirschauer, S. (2014). Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. Zeitschrift für Soziologie, 43(3), 170–191.
Hirschman, A. O. (1974). Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
Huth, S. (2013). Vergleichende Fallstudien zum freiwilligen Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund. Frankfurt. https://www.inbas-sozialforschung.de/fileadmin/user_upload/Projektberichte/1312_INBAS-SF_Bericht_Fallstudien_EngagementMigrantInnen.pdf. Zugegriffen: 13. Juni 2018.
İlgün-Birhimeoğlu, E. (2016). Vereine als Orte der Produktion und Manifestation von symbolischer Ordnung. Ausgrenzungsmechanismen entlang der Differenzlinien Geschlecht und Ethnie. In E. Arslan & K. Bozay (Hrsg.), Symbolische Ordnung und Bildungsungleichheit in der Migrationsgesellschaft (S. 343–355). Wiesbaden: Springer VS.
Kewes, A. (2016). „Wir brauchen so Brückenleute!“. Zur wiederholten Stiftung und Stabilisierung symbolischer Grenzen in Handlungen mit Grenzen transzendierender Absicht. In E. Arslan & K. Bozay (Hrsg.), Symbolische Ordnung und Bildungsungleichheit in der Migrationsgesellschaft (S. 257–274). Wiesbaden: Springer VS.
Liebig, R. (2011). Was bleibt für das Ehrenamt? Analysen und Forschungsbefunde zum Wandel der Führungsstrukturen im Sozialbereich. In T. Rauschenbach & A. Zimmer (Hrsg.), Bürgerschaftliches Engagement unter Druck? Analysen und Befunde aus den Bereichen Soziales, Kultur und Sport (S. 29–168). Opladen: Barbara Budrich.
Mannheim, K. (1980). Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit. In D. Kettler, V. Meja & N. Stehr (Hrsg.), Karl Mannheim: Strukturen des Denkens (S. 155–322). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Maskos, R. (2015). Ableism und das Ideal des autonomen Fähig-Seins in der kapitalistischen Gesellschaft. Zeitschrift Für Inklusion (2). https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/277. Zugegriffen: 6. März 2018.
Mecheril, P., & Melter, C. (2012). Gegebene und hergestellte Unterschiede – Rekonstruktion und Konstruktion von Differenz durch (qualitative) Forschung. In E. Schimpf & J. Stehr (Hrsg.), Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit (S. 263–274). Wiesbaden: Springer VS.
Munsch, C. (2010). Engagement und Diversity. Der Kontext von Dominanz und sozialer Ungleichheit am Beispiel Migration. Weinheim: Juventa.
Nohl, A.-M. (2012a). Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis (4. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.
Nohl, A.-M. (2012b). Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung. In K. Schittenhelm (Hrsg.), Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Grundlagen, Perspektiven, Methoden (S. 155–182). Wiesbaden: Springer VS.
Olk, T., Rauschenbach, T., & Sachße, C. (1995). Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen. Oder: über die Schwierigkeit, Solidarität zu organisieren. Eine einführende Skizze. In T. Rauschenbach, C. Sachße & T. Olk (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen. Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch (S. 11–33). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Omoto, A. M., & Snyder, M. (1995). Sustained helping without obligation. Motivation, longevity of service, and perceived attitude change among AIDS volunteers. Journal of Personality and Social Psychology, 68(4), 671–686.
v. Papen Robredo, G. (2017). Der Umgang mit Migration im transformierten Wohlfahrtsstaat. Programmatik und Handlungsorientierungen der Freien Wohlfahrtspflege. Wiesbaden: Springer VS.
Przyborski, A., & Wohlrab-Sahr, M. (2009). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. Bd. 2. München: Oldenbourg.
Reckwitz, A. (2006). Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms (2. Aufl.). Weilerswist: Velbrück.
Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
Rosenthal, G. (2015). Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung (5. Aufl.). Weinheim, Basel: Belz Juventa.
Roth, R. (2017). Politische Partizipation von Migrantinnen und Migranten. In T. Groß, S. Huth, B. Jagusch, A. Klein & S. Naumann (Hrsg.), Engagierte Migranten. Teilhabe in der Bürgergesellschaft (S. 61–74). Schwalbach im Taunus: Wochenschau.
Schütze, F. (1983). Biographieforschung und narratives Interview. neue praxis, 13(3), 283–293.
Schütze, F. (1984). Kognitive Figuren des autobiographischen Stehgreiferzählens. In M. Kohli & R. Günther (Hrsg.), Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven (S. 78–117). Stuttgart: Metzler.
Schütze, F. (2005). Eine sehr persönlich generalisierte Sicht auf qualitative Sozialforschung. Zeitschrift für qualitative Bildungs‑, Beratungs- und Sozialforschung, 6(2), 211–248.
Simonson, J., Vogel, C., & Tesch-Römer, C. (2017). Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden: Springer VS.
Strauss, A. L. (1998). Grundlagen qualitativer Sozialforschung (2. Aufl.). München: W. Fink.
Weinbach, H. (2016). Soziale Arbeit mit Menschen mit Behinderungen. Das Konzept der Lebensweltorientierung in der Behindertenhilfe. Weinheim, Basel: Belz Juventa.
Weiß, A. (2017). Soziologie globaler Ungleichheiten. Berlin: Suhrkamp.
West, C., & Fenstermaker, S. (1995). Doing difference. Gender and Society, 9(1), 8–37.
Wiertz, D. (2016). Segregation in civic life. Ethnic sorting and mixing across voluntary associations. American Sociological Review, 81(4), 800–927.
Wilson, J. (2012). Volunteerism research. A review essay. Nonprofit and Voluntary Sector Quarterly, 41(2), 176–212.
Wimmer, A. (2008). The making and unmaking of ethnic boundaries: a multilevel process theory. American Journal of Sociology, 113(4), 970–1022.
Winker, G., & Degele, N. (2010). Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit (2. Aufl.). Bielefeld: transcript.
Zolberg, A. R., & Long, L. W. (1999). Why islam is like Spanish: cultural incorporation in Europe and the United States. Politics & Society, 27(1), 5–38.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Munsch, C., Kewes, A. Anders als gedacht. Migrationsspezifische Kategorisierungen in Narrationen über beendetes bürgerschaftliches Engagement. Soz Passagen 11, 99–118 (2019). https://doi.org/10.1007/s12592-019-00313-5
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s12592-019-00313-5
Schlüsselwörter
- Narrative Interviews
- Migrationsbezogene Kategorisierung
- Bürgerschaftliches Engagement
- Resonanz
- Widerspruch
- Wohlfahrt