1 Einleitung

Der Begriff „Zeitenwende“ steht für eine Vielzahl von Entscheidungen, die die Bundesregierung in Folge des völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands auf die Ukraine in einer Reihe von Politikfeldern getroffen hat oder noch treffen will. Dazu gehört ein mehrfaches und entschlossenes Bekenntnis zur Landes- und Bündnisverteidigung (Scholz 2022, Auswärtiges Amt 2023, S. 13, 30–31). Parallel dazu hat die Nordatlantische Allianz auf ihren Gipfeln in Madrid (2022) und Vilnius (2023) Beschlüsse gefasst, mit der sich ihre Mitgliedstaaten auf die Umsetzung neuer Verteidigungsziele verpflichten. Diese sind aus der Bedrohungsanalyse abgeleitet und notwendig, um wieder glaubwürdig abschreckungsfähig zu werden. Gleichzeitig sind sie zeitlich, finanziell und organisatorisch hoch ambitioniert. Der Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) Christopher G. Cavoli nennt diese Aufgabe folgerichtig einen „Wiederaufbau“ („rebuild“) der NATO-Verteidigung (NATO Military SHAPE 2023).

In Bezug auf Deutschlands Beitrag zur Allianz schlägt diese Formulierung nicht nur einen semantischen Bogen zur „Wiederbewaffnung“ der Bundesrepublik in den 1950er Jahren. Denn obgleich beide Begriffe sehr unterschiedlichen zeitlichen Kontexten entstammen, gibt es Parallelen, die für die Gegenwart relevant sind. 1) Deutschland und seine Verbündeten sind Bedrohungen ausgesetzt, gegen die sie sich nur gemeinsam angemessen verteidigen können (NATO 2023b; Auswärtiges Amt 2023, S. 31). 2) Deutschland hat sich verpflichtet, zu dieser „neuen Epoche kollektiver Verteidigung“ (NATO 2023b, Ziff. 32, eigene Übersetzung) einen bedeutenden Beitrag zu leisten (Auswärtiges Amt 2023, S. 32–33).

Man mag gegen den Vergleich einwenden, dass Deutschland heutzutage durchaus über Streitkräfte verfügt, während es bei der Wiederbewaffnung bei null anfing. Hier wird jedoch argumentiert, dass Deutschland heute wie damals keine Streitkräfte besitzt, die das Bündnis gemeinsam mit den Verbündeten gegen eine starke Militärmacht verteidigen können. Die Bundeswehr hat zwar über Jahre bewiesen, dass sie grundsätzlich in Kontingenten von wenigen Tausend Soldaten über große Entfernungen hinweg durchhaltefähig für Krisenmanagementaufgaben oder Dauereinsatzaufgaben zu Land oder auf See einsetzbar ist. Aber sie ist derzeit nach eigener Aussage der Bundesregierung nicht befähigt, mit großen Verbänden im Gefecht der Verbundenen Waffen und zudem ohne große Vorwarnzeit und quasi aus dem Stand heraus (also kaltstartfähig) gegen einen annähernd gleichwertigen Gegner zu bestehen (Scholz 2022, 2023; Pistorius 2023; Deutscher Bundestag 2023, S. 9–17; Mais 2022). Damals wie heute muss die Landes- und Bündnisverteidigung neu aufgebaut werden.

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage wird dieser Beitrag mit Verweis auf die Verfassungslage noch einmal hervorheben, was ohnehin Völkergewohnheitsrecht ist: Deutschland besitzt den im Grundgesetz (GG) verankerten Anspruch, sich verteidigen zu können. Und die Bundesregierung hat den Auftrag, dafür im Zusammenwirken mit dem Parlament funktionstüchtige Streitkräfte bereitzustellen. In einem zweiten Schritt wird in Erinnerung gerufen, warum die Streitkräfte ihre Verteidigungsfähigkeit dennoch verlieren konnten. Schließlich wird dargelegt, wie die NATO und in der Folge die Bundesregierung die Aufgabe wieder angenommen hat und sich an der Umsetzung der Bündnisverteidigung beteiligt. Der Beitrag endet mit einem Ausblick, wie es gelingen kann, dass nicht nur Begriffe wie Landes- und Bündnisverteidigung eine Renaissance erfahren, sondern auch die Verteidigung Deutschlands mit allem, was dazu gehört.

2 Verteidigung als Auftrag aus dem Grundgesetz

Beim Blick in die Kommentare zum GG und in einige Ausarbeitungen zur deutschen Wehrverfassung fällt auf, dass das GG seit den 1990er Jahren weit überwiegend zur Frage konsultiert wurde, welche Szenarien zusätzlich zur Landes- und Bündnisverteidigung als Einsätze im Sinne des Grundgesetzes zu werten sind (Wiefelspütz 2005; Raap 2021). Das Erkenntnisinteresse galt im Wesentlichen der Möglichkeit, Streitkräfte in internationalen Krisenmanagementoperationen oder zur Terrorismusbekämpfung einsetzen zu können. Der juristische Diskurs spiegelte also, wie auch jener der Politikwissenschaft, das sicherheitspolitische Weltgeschehen wider und legte die Möglichkeit eines Verteidigungskrieges in Europa quasi ad acta. Bezeichnend ist, dass einer der maßgeblichen Kommentare zum Grundgesetz diesbezüglich bis heute von „Wandlungen“ der Sicherheitsverfassung spricht, anstatt von deren Weiterungen oder Ergänzungen (Depenheuer 2023, Rn. 56). Der Kern des Verteidigungsauftrags und seine Ursprünge gerieten aus dem Blick.

Dabei war bereits für die Väter und Mütter des Grundgesetzes nach intensiver Diskussion klar, dass die junge Bundesrepublik selbstverständlich das in der UN-Charta verbriefte Völkergewohnheitsrecht auf Verteidigung (Artikel 51) auch für sich beanspruchen muss (Bartke 1991, S. 23–29). Die Vorstellung der Verteidigungsfähigkeit hat deshalb schon zu einem Zeitpunkt, da die Bundesrepublik noch gar keine Streitkräfte besitzen durfte, gleich an mehreren Stellen Eingang in das deutsche Grundgesetz gefunden: 1) im Verweis auf die Gültigkeit der allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Artikel 25 GG), 2) durch ein Verbot des Angriffskriegs in Abgrenzung zum Verteidigungskrieg, welcher als legitim betrachtet wurde (Artikel 26 GG; Bartke 1991, S. 29) und vorangestellt 3) mit dem individuellen Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Artikel 4 Absatz 3 GG), welches die Möglichkeit eines Wehrdienstes voraussetzt. Der Schutz der eigenen Sicherheit wurde über Artikel 24 Absatz 2 GG, der erlaubt, sich in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen, zunächst delegiert. Somit spiegeln sich hier gleichermaßen die sicherheitspolitischen Sorgen und Hoffnungen der Verfassungsgeber in Bezug auf die Wahrung des Friedens in Europa und der Welt wider (Wiefelspütz 2005, S. 10–44).

Die eigentliche Wehrverfassung der Bundesrepublik Deutschland wurde notwendig, nachdem ab 1950 vor allem die Erfahrung des Koreakrieges und der Konsolidierung Chinas als kommunistische Volksrepublik an Amerikas westlicher Gegenküste sowie die Konsolidierung der sowjetischen Herrschaft über die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, die sicherheitspolitische Lage für das freie Europa aber eben auch für die USA verschärfte. Heute ist fast vergessen, dass große Teile der US-Streitkräfte zu jenem Zeitpunkt Europa bereits wieder verlassen hatten, während die Sowjetunion mit ihren Truppen in Ostdeutschland und allen anderen besetzten Staaten präsent blieb. Weder Großbritannien und Frankreich noch viel weniger die kleineren westeuropäischen Staaten sahen sich in der Lage, eine inzwischen auch nukleare sowjetische Bedrohung abzuschrecken oder ihr militärisch zu widerstehen. Ein westdeutscher Wehrbeitrag wurde deshalb immer wohlwollender diskutiert (Bartke 1991, S. 30–36).

Die Lage für die 1949 gegründete Bundesrepublik war noch bedrohlicher. Denn Deutschland war entwaffnet und geteilt. Aufgrund des Besatzungsstatuts war die junge Bundesrepublik vollkommen von der Bereitschaft ihrer Besatzungsmächte abhängig, sie im Ernstfall zu verteidigen. Genau an dieser Bereitschaft aber bestanden erhebliche Zweifel. Denn zunächst sahen die US-amerikanischen Überlegungen vor, Europa erst an Rhein und Ijssel zu verteidigen und verlorene Gebiete nach einem Angriff zurückzuerobern, nicht jedoch, bereits West-Deutschland aktiv zu verteidigen. Deutschland forderte deshalb über Parteigrenzen hinweg und im Einklang mit den europäischen Alliierten eine Vorneverteidigung an der Ostgrenze der Allianz, d. h. an der innerdeutschen Grenze (Thoß 2006, S. 18–19).

Erst recht nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) war die im Jahr 1949 gegründete NATO die beste Möglichkeit, den Schutz der Bundesrepublik durch die Präsenz Verbündeter, vor allem US-amerikanischer Streitkräfte auf deutschem Boden, inklusive des nuklearen Schutzes durch die USA, zu gewährleisten. Im Gegenzug musste die Bundesrepublik eigene militärische Beiträge anbieten, d. h. sie musste Streitkräfte aufstellen, damit die NATO der konventionell überlegenen Sowjetunion starke Kräfte entgegensetzen konnte und bei einem Überraschungsangriff nicht auf den Einsatz von Atomwaffen zurückgreifen musste. Entsprechende NATO-Planungen waren offensichtlich nicht in Deutschlands Interesse, da Atomwaffen auch auf deutschem Boden eingesetzt worden wären (Thoß 2006, S. 114–150; Andrews Sayle 2019, S. 24). Eine später 450.000 Mann starke Bundeswehr (im Kriegsfall bis zu 1,3 Mio. SoldatenFootnote 1) konnte den erforderlichen konventionellen Beitrag leisten und war der entscheidende Baustein für eine starke Allianz, die Westdeutschland und weite Teile des freien Europas schützte. Die Wiederbewaffnung war also die Antwort auf eine existentielle Not des jungen Staates und die Möglichkeit, das eigene Sicherheitsdilemma mit Hilfe von Verbündeten zu lösen.

Diese Hintergründe erklären, warum Deutschland zu jenem Zeitpunkt eine Wehrverfassung benötigte,Footnote 2 in der „die genuine Staatsaufgabe das Gemeinwesen zu verteidigen ihre verfassungsrechtliche Ausformung“ erhält (Depenheuer 2023, Rn. 8). Ihr Hauptsatz heißt: „der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“ (Artikel 87a Absatz 1 GG, S. 1). Dieser Satz macht die militärische Verteidigung gegen äußere Feinde zu einer verpflichtenden Aufgabe des Bundes, dem die Wahrung der äußeren Sicherheit im föderalen System exklusiv übertragen wird. Zusätzlich schuf der erst 1956 mit der Wehrnovelle ins GG gelangte Satz die Voraussetzung dafür, dass die Bundesrepublik ihre Pflichten nach Artikel 3 des Nordatlantikvertrages erfüllen konnte. Diese lauten: „Um die Ziele dieses Vertrags besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln“ (Nordatlantikvertrag, Artikel 3; Depenheuer 2023, Rn. 67). Und schließlich enthält Artikel 87a S. 1 GG mit der Zweckbestimmung „zur Verteidigung“ eine eindeutige und für die Selbstbehauptung unabdingbare Leistungsbeschreibung: die vom Bund aufgestellten Streitkräfte müssen effektiv sein und funktionieren.

Unter anderem Epping stellt diesen Verfassungsauftrag nicht zuletzt mit Verweis auf zahlreiche Urteile des Bundesverfassungsgerichts klar heraus:

Art. 87a, Abs. 1, S. 1 ordnet durch die indikativische Formulierung nicht nur einer verpflichtenden Staatsaufgabe […] die Stellung von Streitkräften an, sondern stellt zugleich im Kontext mit den anderen auch nachträglich in das GG eingefügten Vorschriften der sog. Wehrverfassung […] die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung dar. Der Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Streitkräfte wird deshalb auch ein verfassungsrechtlicher Rang zugewiesen (Epping 2022, Rn. 4; Kment 2022, S. 998).

Um diesem Geltung zu verschaffen, fordert Depenheuer eine „wehrhafte Verfassungsinterpretation“, denn „die Bestimmungen der Sicherheitsverfassung dürfen nicht in einer Weise ausgelegt werden, durch die die Effektivität der Aufgabenerfüllung konterkariert wird“ (Depenheuer 2023, Rn. 52–53).

Der zweite Satz des Artikel 87a GG weist dem Bundestag zusätzlich zu Artikel 45a (Verteidigungsausschuss) und 45b (Wehrbeauftragte) eine Kontrollfunktion zu. Sie betrifft hier den Umfang und die Organisation der Bundeswehr, die der Bundestag über das Haushaltsrecht wahrnehmen soll. Dies ist jedoch nicht im Sinne einer Detailsteuerung oder konkurrierenden Gestaltungsmacht gedacht, sondern als Mitsprache über die Zweckbestimmung von Haushaltsmitteln oder grundlegende Organisationsentscheidungen. Ein Beispiel dafür ist die Aussetzung der verpflichtenden Einberufung zur Wehrpflicht und der Umbau der Bundeswehr zu einer Berufsarmee im Jahr 2011. Das Parlament hat das Wehrrechtsänderungsgesetz (WehrRÄndG) auf Vorschlag der Bundesregierung beschlossen, weil diese plausibel darlegen konnte, dass die (damaligen) Aufgaben der Bundeswehr ohne Wehrpflichtige effektiver zu bewältigen seien. Die Mitbestimmung des Parlaments muss stets konstruktiv sein, denn die Effektivität der Landes- und Bündnisverteidigung und damit eine funktionsfähige Bundeswehr als leitende Norm darf nicht in Frage gestellt werden (Kokott und Hummel 2021, S. 1559).

Dies verweist darauf, dass zum Beispiel ein möglicher Zielkonflikt zwischen den im GG verankerten Zielen Schuldenbremse einerseits und einer funktionstüchtigen Bundeswehr andererseits nicht zu Lasten einer dauerhaften Unterfinanzierung der Bundeswehr zu lösen ist. Eine militärische Fähigkeitsplanung, die dem Verteidigungsauftrag gerecht wird, muss finanziell möglich bleiben. Ein Satz wie in den verteidigungspolitischen Richtlinien 2011, „der Verteidigungshaushalt [leiste] einen Beitrag zu der gesamtstaatlichen Aufgabe, den Bundeshaushalt zu konsolidieren und dadurch die Schuldenlast künftiger Generationen zu mindern“ (S. 20) ist somit verfassungsrechtlich systemfremd. Auch der jüngere Hinweis des SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich, dass es zwar die Verabredung von Vilnius, mindestens zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, gäbe, „aber der Bundestag […] alleine das Recht [habe] darüber zu entscheiden“ (Bethke und Schuster 2023), trägt deshalb nur für den Fall, dass die Funktionstüchtigkeit der Bundeswehr für die Landes- und Bündnisverteidigung dauerhaft auch mit weniger als diesem Anteil sichergestellt werden könnte.

Dennoch ist ein Dilemma unübersehbar: Obwohl das im Artikel 87a GG neu verankerte Sondervermögen beispielhaft zeigt, dass der Verantwortungsverbund von Bundesregierung und Bundestag in politisch extremen Lagen funktioniert, besteht die ständige Versuchung, Haushaltsmittel zu Lasten der Funktionstüchtigkeit der Bundeswehr und der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu priorisieren.

Dies illustriert insbesondere ein Blick auf die Entwicklung des Verteidigungshaushalts, also des Einzelplan 14 (EPL 14), als Anteil am Bundeshaushalt (siehe Abb. 1). Er stieg von 1955 bis zum Maximum in den 1960er Jahren steil an und pendelte sich in den 1980er Jahren bei 18 bis 19 % am Bundeshaushalt ein. Seit den 1990er Jahren liegt der Anteil lediglich bei um die 10 %. Diese Umverteilung von Haushaltsmitteln zu Lasten der Verteidigung gilt bis heute. Rechnet man in 2023 20 Mrd. € aus dem Sondervermögen hinzu, läge der Anteil immerhin bei knapp 15 %, was impliziert, dass selbst die Erfüllung des 2‑%-Zieles (angenommener Anteil, EPL 14 ca. 75 Mrd. € in 2024) nicht zu einer anteilig höheren Belastung des Bundeshaushalts führen würde als in jedem Jahr zwischen 1956 und 1989.

Abb. 1
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Entwicklung EPL14 anhand Haushalts-Soll-Zahlen (ab 1991 Gesamtdeutschland) (Quelle: eigene Abbildung)

Die Differenz zwischen dem damaligen und dem aktuellen Anteil des EPL 14 entspricht übrigens der sogenannten „Friedensdividende“. Denn im Sprachgebrauch bezeichnet diese den Unterschied zwischen dem, was ursprünglich für Verteidigung verwendet wurde, in Friedenszeiten aber für andere Aufgaben ausgegeben werden konnte. Dass dieser Transfer übertrieben wurde und die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr seit geraumer Zeit nachhaltig belastet, ist inzwischen offensichtlich. Dies zu korrigieren und entsprechende Investitionen nachzuholen, steht nun an.

3 Militärische Schwäche nach Plan

Vor dem Hintergrund der eindeutigen Verfassungsvorgaben stellt sich die Frage, wie die Bundeswehr überhaupt ihre Funktionstüchtigkeit verlieren konnte. Tatsächlich folgte der jahrzehntelange Abschied vom genuinen Verteidigungsauftrag des GG längeren Entwicklungslinien. Sie sind das Ergebnis vieljähriger und wiederholter politischer Entscheidungen verschiedener Bundesregierungen sowie des Deutschen Bundestages und Ausdruck eines jahrelangen politischen und wohl auch gesellschaftlichen Konsenses. Zudem ist der Zustand der Bundeswehr „nur“ die deutsche Variante einer Entwicklung, die sich in fast allen Streitkräften der Allianz abspielte, wie die Entwicklung alliierter Verteidigungsausgaben illustriert (NATO 2023a, S. 4; Schwegmann 2014, S. 50–53; Bardt et al. 2023).Footnote 3

Denn wie das Strategische Konzept 2010 der NATO („the Euro-Atlantic area is at peace“) als Ergebnis vorheriger Entwicklungen veranschaulicht, hatten kollektive Abschreckung und Verteidigung über Jahre hinweg weder für die Allianz noch für die Mitgliedstaaten Priorität (NATO 2010). In Deutschland legte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck unter dem Eindruck der Balkaneinsätze und der Mission in Afghanistan bereits im Jahr 2003 in Verteidigungspolitischen Richtlinien fest:

Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung – einschließlich des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus – sind für deutsche Streitkräfte auf absehbare Zeit die wahrscheinlicheren Aufgaben und beanspruchen die Bundeswehr in besonderem Maße. Diese Aufgaben prägen maßgeblich die Fähigkeiten, das Führungssystem, die Verfügbarkeit und die Ausrüstung der Bundeswehr. Sie sind strukturbestimmend (BMVg 2003, Ziff. 78, Hervorhebung des Autors).

Diese bundeswehrplanerische Vorgabe machte sich drei Jahre später die große Koalition im „Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr für die Bundeswehr“ wörtlich zu eigen (BMVg 2006, S. 12). Die 2010 von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg betriebene und vom Deutschen Bundestag 2011 beschlossene Aussetzung der verpflichtenden Einberufung zur Wehrpflicht war letztlich eine Konsequenz aus diesen Entscheidungen. Denn kurzdienende Wehrpflichtige konnten in militärischen Verbänden, die für den Einsatz ausgebildet und im Ausland eingesetzt wurden, nicht sinnvoll verwendet werden. Sie wurden daher für eine auf Kriseneinsätze optimierte Bundeswehr nicht benötigt (Bericht des Generalinspekteurs 2010). Vollständig strukturell umgesetzt wurde dieser Kurs aber erst von Verteidigungsminister Thomas de Maizière mit seiner „Neuausrichtung der Bundeswehr“. Sie vollendete den Umbau der Streitkräfte auf allen Ebenen und schloss die Schließung von weiteren Standorten, Material- und Munitionsdepots ein. Zudem war sie der planerische Abschied von der Vollausstattung; Heeresverbände sollten sich nun beispielsweise ihre Panzerfahrzeuge teilen („dynamisches Verfügbarkeitsmanagement“). In der Führungsstruktur führte sie zur Herauslösung von Truppenteilen der Einsatzunterstützung aus den Teilstreitkräften und ihrer Bündelung in der Streitkräftebasis (SKB) sowie zur Aufstellung des Zentralen Sanitätsdienstes (ZenSanDBw), der die Sanitätsdienste von Heer, Luftwaffe und Marine aufnahm. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Jahr 2011 (S. 27) lieferten für diese Veränderungen die sicherheitspolitische Ableitung, in dem sie einmal mehr festlegten: „Die wahrscheinlicheren Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung bestimmen die Grundzüge der neuen Struktur der Bundeswehr.“ Drei Jahre später kam die Allianz auf ihrem Gipfel in Wales mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine und die mögliche Bedrohung des NATO-Territoriums zur Erkenntnis, dass die kollektive Verteidigung wieder die erste Stelle unter den drei Kernaufgaben der Allianz, zu denen auch Krisenmanagement und kooperative Sicherheit gehören, einnehmen muss (NATO 2014).

4 Die Wiederentdeckung der Verteidigung

In Folge des ersten Angriffs Russlands auf die Ukraine im Jahr 2014, namentlich der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und des von Russland begonnenen Krieges im Donbass, hatte die NATO auf ihren Gipfeln in Wales 2014 und insbesondere Warschau 2016 Abschreckung und Landes- und Bündnisverteidigung wieder eindeutig Priorität zugewiesen und einen Planungsprozess aufgesetzt, über den die jeweiligen nationalen Beiträge zum NATO-Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv festgelegt und eingefordert wurden. Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatten zuvor auf der Münchner Sicherheitskonferenz unisono bekräftigt, dass Deutschland in dieser Situation bereit sei, mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen. Mit dem Rückenwind dieses „Münchner Konsenses“ (Giegerich und Terhalle 2016) vollzog die Bundesregierung die Beschlüsse der NATO im „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ (BMVg 2016) national nach und setzte die Fähigkeitsanforderungen der Allianz – an sich vorbildlich – mit der Konzeption der Bundeswehr (KdB) in Vorgaben für die Bundeswehrplanung um (BMVg 2018; zum vorausgegangenen „Bühler-Papier“ Glatz und Zapfe 2017).

Ein Ziel war unter anderem im Rahmen des von Deutschland propagierten Framework Nation Concepts bis zum Jahr 2032 drei mechanisierte multinationale Divisionen mit jeweils bis zu fünf Brigaden im Rahmen multinationaler Verbände mit Deutschland als Rahmennation einsetzen zu können (Glatz und Zapfe 2017, S. 5). Die erste Division sollte im Jahr 2027 voll einsatzbereit sein (DBWV 2017), wobei sogenannte Trendwenden bei Material, Personal und Finanzen die notwendigen Bedingungen liefern sollten. Diese sind bis heute jedoch nicht weit gediehen; v. a., weil die zu geringe Anhebung des EPL 14 größtenteils von Kostensteigerungen für Personal (Tarifsteigerungen), Materialerhalt, Technologie und durch die Inflation aufgezehrt wurden. Der Investitionsetat erreichte nie die von NATO und EU vorgesehene Quote von 20 % der Verteidigungsausgaben (Bardt et al. 2023, S. 11–12).

5 Zeitenwende zur Wehrhaftigkeit?

Bereits drei Tage nach dem Beginn des umfassenden Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 stellte Bundeskanzler Scholz in seiner vielbeachteten Regierungserklärung fest, angesichts der Bedrohung durch „Putins Russland“ sei klar: „Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen“ (Scholz 2022). Wie inzwischen die Nationale Sicherheitsstrategie ausführt, bedeutet dies die ausreichende Finanzierung der Bundeswehr und die Leistung entsprechender deutscher Beiträge zur Bündnisverteidigung (Auswärtiges Amt 2023, S. 30–36). Damit bekommt die in den Jahren 2014 bis 2016 lediglich postulierte Zeitenwende in einer sicherheitspolitisch verschärften Lage eine zweite Chance.

Deutschland geht hier einmal mehr keinen Sonderweg. Vielmehr marschiert es im Gleichschritt mit der NATO und ihren Verbündeten, die bereits im neuen Strategischen Konzept der NATO gleich im ersten Absatz unterstrichen: „NATO is determined to safeguard the freedom and security of Allies. Its key purpose and greatest responsibility is to ensure our collective defence, against all threats, from all directions. We are a defensive Alliance“ (NATO 2022a, Ziff. 1). Diese Betonung war notwendig, weil dem neuen Strategischen Konzept eine gänzlich andere Lageeinschätzung der Alliierten zugrunde liegt als dem Vorgängerdokument von 2010. Damals hieß es: „Today, the Euro-Atlantic area is at peace and the threat of a conventional attack against NATO territory is low“ (NATO 2010, Ziff. 6). Heute dagegen teilen die NATO-Mitglieder die Überzeugung:

The Euro-Atlantic area is not at peace. The Russian Federation has violated the norms and principles that contributed to a stable and predictable European security order. We cannot discount the possibility of an attack against Allies’ sovereignty and territorial integrity. Strategic competition, pervasive instability and recurrent shocks define our broader security environment. The threats we face are global and interconnected (NATO 2022b, Ziff. 6).

Das dieser Lage angepasste Verteidigungskonzept der Allianz rückt Deutschland wegen seiner Größe, Bedeutung und geographischen Lage wieder mit ins Zentrum der kollektiven Verteidigungsbemühungen, wie sie auf den Gipfeln von Madrid (NATO 2022b, Ziff. 9) und kurz nach Veröffentlichung der Nationalen Sicherheitsstrategie in Vilnius beschlossen wurde (NATO 2023b, Ziff. 34–37). Das hier zugrundliegende Konzept besteht aus mehreren Plänen, die bereits im Jahr 2020 von den NATO-Verteidigungsministern als Concept for Deterrence and Defence of the Euro-Atlantic Area (DDA) gebilligt wurden (Covington 2023). Der Paradigmenwechsel zwischen den strategischen Konzepten wird darin planerisch umgesetzt, indem die NATO erstmals seit dem Kalten Krieg nicht mehr nur generische Annahmen über einen abstrakt definierten militärischen Herausforderer zugrunde legt. Stattdessen orientiert sich die Verteidigungsplanung mit konkreten „Regionalplänen“ an den tatsächlichen militärischen Bedrohungen in einer 360-Grad-Perspektive mit dem Ziel, deterrence by denial zu praktizieren. Dies bedeutet, ein potentieller Angreifer soll durch das Konzept der Vorneverteidigung (forward defence), welches die Vornestationierung von Truppen mit hohem Bereitschaftsgrad sowie von Material und Munition einschließt, zur Überzeugung gelangen, dass jeder Angriff von Beginn an zum Scheitern verurteilt wäre, weil er auf die sofortige, umfassende Gegenwehr der gesamten NATO treffen würde (Major und Swistek 2022, S. 5). In drei Großräumen, „Nordwest“ (der Nordatlantik mit Island, Großbritannien und Norwegen), „Zentrum“ (Ostmitteleuropa, Ostsee und Baltikum) und „Südwest“ (Mittelmeerraum und Schwarzes Meer), weisen die Regionalpläne den Streitkräften der Alliierten eine spezifische räumliche Verantwortung zu. Es ist zu erwarten, dass diese Räume zusätzlich mit eigenen Hauptquartieren für die Landstreitkräfte versehen werden, die unterhalb des Strategischen Hauptquartiers in Mons und dessen operativen Joint Forces Commands in Norfolk, Brunssum und Neapel angesiedelt wären und in der Lage sein würden, mehrere Korps zu führen.

Diese Pläne folgen dem auf dem Gipfel in Madrid beschlossenen New Force Model (NFM). Im sogenannten Tier 1 (der ersten Bereitschaftsstufe) verfolgt die NATO den Anspruch, 100.000 Soldaten innerhalb von zehn Tagen nach Erteilung des Marschbefehls (notice to move) einsatzbereit zu haben, weitere 200.000 innerhalb von 30 Tagen (Tier 2) und darüber hinaus bis zu 500.000 innerhalb von 180 Tagen (Tier 3). Damit stünden 300.000 Soldaten in höchster und hoher Einsatzbereitschaft. Der bisherige Anspruch für die NATO Response Force (NRF) einschließlich der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) sah lediglich einen Umfang von 40.000 Truppen in dreifach abgestufter Einsatzbereitschaft von wenigen Tagen bis 30 und 45 Tagen vor, davon als Heeresanteil drei verstärkte Brigaden (NATO 2023c). Eine schnelle militärische Eingreiffähigkeit vermutlich in Größe einer Heeresdivision wird künftig von der Allied Reaction Force (ARF) abgebildet, die dem SACEUR ständig, also auch außerhalb einer konkreten Krise, unterstellt ist und absehbar eher leichte Kräfte umfassen wird.

In einem ersten Umsetzungsschritt muss die NATO diese großen Zahlen im Rahmen eines force sourcing mit Zusagen der einzelnen Mitgliedstaaten hinterlegen. Deutschland, das die Bundeswehr im Krisen- und Kriegsfall traditionell nahezu komplett der NATO unterstellt, hat bereits umfangreiche Zusagen gemacht. Es will bereits im Jahr 2025 eine Division zur Verfügung stellen. Deutschland verfügt nominell über zwei mechanisierte Divisionen (1. und 10. Panzerdivision) von denen eine nach dem bisherigen Konzept des Heeres als Mittlere Kräfte (u. a. Radpanzer; Radhaubitzen) ausgestattet werden soll, um eine schnelle Verlegefähigkeit zu garantieren. Es wäre plausibel, wenn die für die Stationierung in Litauen vorgesehene Brigade Teil der für Tier 1 vorgesehenen Division würde. Auch werden die Niederlande vermutlich mit ihren in die Bundeswehr integrierten Heereskräften zu den von Deutschland angebotenen Divisionen beitragen. Welche Einheiten konkret eingeplant werden, wird allerdings zum Zeitpunkt, an dem dieser Beitrag geschrieben wird, erst ausgeplant.

Zusätzlich zu den Heereskräften hat Deutschland der Allianz 85 Flugzeuge und Schiffe für Tier 1 und 2 zugesagt, die sich auf zwei Air Wings (Geschwader) der Luftwaffe (ca. 65 Flugzeuge) in Deutschland für Tier 1, Patriot-Flugabwehrsysteme sowie eine Fregatte und eine Minenabwehreinheit für Tier 1 sowie eine ganzjährige Präsenz in der Nordsee bzw. dem Nordatlantik mit zwei Fregatten, einem Seefernaufklärer und in der Ostsee mit zwei Korvetten, zwei U‑Booten, zwei Minenabwehreinheiten und einem Seefernaufklärer aufteilen könnten. Hinzu kommen Spezialkräfte der Bundeswehr (Wiegold 2022; BMVg 2022).

Bei der Umsetzung dieser Vorhaben wird die neue räumliche Zuordnung den Bundeswehrplanern entgegenkommen. Anders als bei der VJTF und der NRF oder auch Krisenmanagementeinsätzen ist der Einsatzort innerhalb des NATO-Operationsgebietes nicht mehr unbestimmt, sondern im Wesentlichen auf den nordöstlich von Deutschland liegenden Einsatzraum festgelegt. Dies erleichtert grundsätzlich die Planung der Verlegung und Logistik, wenngleich die Größe der Aufgabe und das Transportvolumen um ein Vielfaches anwachsen. Ein weiterer Vorteil entsteht, wenn die Verbände nicht mehr rotieren, sondern fest zugeordnet werden. Historisch betrachtet sind zwei schwere (oder eine schwere und eine mittlere) (Müller 2022) sowie eine leichte Division mit je nur zwei bis drei deutschen Brigaden recht bescheidene Größen. Mit Blick auf ein funktionierendes Gesamtsystem Bundeswehr scheint es jedoch zwingend, dass mindestens die beschlossene Zielgröße der Bundeswehr von 203.000 Soldaten in wenigen Jahren tatsächlich erreicht wird, um alle auf die Bundeswehr zukommenden Aufgaben im Rahmen der NATO-Verteidigungsplanung erfüllen zu können.

Die kurzen Zeitlinien zur Bereitstellung eines voll funktionstüchtigen militärischen Großverbandes in Divisionsstärke (Panzer- und Panzergrenadierbataillone, Artillerie, Logistik, Pioniere und Führungsunterstützung, d. h. Informations- und Kommunikationstechnik) für Tier 1 und sukzessive Tier 2 stellen für die Bundeswehr eine Herausforderung dar, da funktionierende, kohärente und voll ausgestattete Großverbände bisher nicht existierten und entsprechend weder das Zusammenwirken ihrer Teile als Division geübt wurde, noch das Zusammenwirken einer Division mit anderen Großverbänden im Gefecht verbundener Waffen.

Zu diesen kurzfristigen Anforderungen an die Bundeswehr werden in den kommenden Monaten weitere im Rahmen des NATO-Streitkräfteplanungsprozesses (NATO Defence Planning Process, NDPP) hinzukommen. Mit dem NDPP wird das für die Verteidigungspläne benötigte Fähigkeitsdispositiv der Allianz auf die Verbündeten heruntergebrochen, denen daraufhin entsprechend ihrer Möglichkeiten ein angemessener Anteil als nationale Fähigkeitsziele auferlegt werden. Die Staaten können Änderungen an diesen Zielen oder die Art ihrer Implementierung aushandeln, müssen aber liefern. Denn am Ende muss ein starkes kollektives Kräftedispositiv stehen, zu dem jede Nation ihren fairen Anteil beiträgt (Deni 2020). Dabei wird auch das Schlachtfeld der Zukunft in den Blick genommen, denn viele der geforderten Fähigkeiten werden erst mittel- bis langfristig verfügbar werden und dann etliche Jahre im Dienst sein. Die Bedeutung dieses Prozesses äußert sich auch darin, dass in der Nationalen Sicherheitsstrategie gleich mehrmals auf ihn verwiesen wird (Auswärtiges Amt 2023, S. 32–33) und die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien ihn folgerichtig zur wesentlichen Planungsgrundlage erklären: „Die strategischen Vorgaben und Ergebnisse des NATO-Verteidigungsplanungsprozesses […] samt dem daraus abgeleiteten Gesamtfähigkeitsdispositiv der Allianz sind daher von grundlegender Bedeutung für das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr“ (BMVg 2023, S. 23).

Dies zeigt, Deutschland ist einmal mehr an einem Scheideweg. Wie bei der Wiederbewaffnung kann es nun die Kraft aufbringen, zügig alle Kräfte und Mittel zu mobilisieren, um den eigenen Ansprüchen und jenen der Partner voll und über lange Zeit gerecht zu werden oder diese sogar zu übertreffen. Oder es kann, wie in den letzten zehn Jahren, an der Umsetzung der eigenen Pläne scheitern, womit es auch den Vorgaben der Verfassung nicht gerecht würde und der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATO schweren Schaden zufügen würde. Die Nationale Sicherheitsstrategie, die Verteidigungspolitischen Richtlinien, wie auch viele Bekenntnisse der Bundesregierung sprechen dafür, dass sich Deutschland für eine Renaissance der Verteidigung entscheidet. Aber es besteht auch Skepsis, dass dies gelingen wird (Mölling und Schütz 2023; Bardt et al. 2023).

6 Fazit: Eine Renaissance der Verteidigung

Der Begriff „Renaissance“ meint kulturgeschichtlich die Wiedergeburt der Antike in einer neuen Zeit. Das letztere ist zu unterstreichen, wenn hier metaphorisch von einer Renaissance der Verteidigung gesprochen wird. Die Parallelen zum und die Erinnerung an den Kalten Krieg sind wichtig, denn sie zeigen, wie die Standhaftigkeit der Alliierten in der NATO letztlich den Kalten Krieg entschied und so den Frieden gewann. Aber das Bündnis, Deutschland mit seinem politischen und gesellschaftlichen System sowie insbesondere die Bundeswehr müssen sich an den Konflikten und Bedrohungen der Gegenwart und projizierten Zukunft ausrichten. Hierbei spielen neue Möglichkeiten der Gegner zum Beispiel im Cyber- und Informationsraum oder dem Weltraum ebenso eine Rolle wie aktuell zu beobachtende Formen der Kriegsführung, wozu u. a. der umfängliche Einsatz unbemannter Systeme verschiedener Art für Aufklärung und Wirkung aus der Luft und im Wasser (Drohnen) gehören. Die nationalen Planungsprozesse und die der NATO bilden solche Entwicklungen und die Annahmen für künftige Kriege ab.Footnote 4

Ebenso wichtig ist der Blick auf die eigenen Möglichkeiten. Das Geld ist hier kein wirklich limitierender Faktor. Deutschland ist unverändert eine der wohlhabendsten Nationen der Welt. Geld ist vorhanden. Es folgt politischen Prioritäten, die Politik und Gesellschaft entsprechend setzen können. Der historische Blick auf den Anteil vom EPL 14 am Bundeshaushalt oder in Prozent des BIP zeigt, dass diese Prioritäten durchaus zu Gunsten der Verteidigung verschoben werden können. Ein Beitrag von 2 % des BIP oder wenig mehr wäre historisch immer noch günstig. Die solidarische Organisation der Verteidigung im Bündnis ist zudem ein enormer Beitrag zur Effizienz. Namentlich die USA tragen immer noch einen v. a. qualitativ beträchtlichen Beitrag zur Sicherheit Europas bei, darunter die nukleare Abschreckung.Footnote 5 Deutschland kann sich also auf das konzentrieren, was von ihm verlangt wird, wobei sich aus der neuen geografischen Lage im Bündnis eine recht andere Rolle ergibt als jene der Bundesrepublik als Frontstaat im Kalten Krieg.

Mehr Transparenz über den Zusammenhang zwischen Fähigkeitsplanung und deren Finanzierung könnte erreicht werden, wenn Deutschland etwa analog zu Frankreichs Militärprogrammgesetz ein Gesetz schaffen würde, das die mehrjährige militärische Fähigkeitsplanung und deren Finanzierung in einem bewilligt. Der Gedanke passt an sich gut zu Artikel 87a GG Satz 1. Das Gesetz über das Sondervermögen mit seiner langen Beschaffungsliste verfolgt sogar einen ähnlichen Ansatz. Eine Reihe von Experten und Politikern und zumindest zwischenzeitlich auch das Verteidigungsministerium haben deshalb für solch einen Systemwechsel geworben (BMVg 2021, S. 39; Lindner 2021; FAZ 2019).

Ein limitierender Faktor ist die Demographie. Die Kohorten der heute Achtzehn- bis Dreißigjährigen sind deutlich kleiner als jene der 1960er oder 1970er Jahrgänge. Sie haben vielfältige Möglichkeiten und nur ein kleinerer Teil von ihnen und noch zu wenig Frauen entscheiden sich für den Dienst in der Bundeswehr. Die angestrebte Steigerung des Personalumfangs von aktuell 183.000 auf 203.000 Soldaten kommt deshalb nicht voran. Zudem ist fraglich, ob die zur Verteidigung erforderlichen Streitkräftebeiträge mit dieser Personalstärke auskommen. Vollausgestattete und kampffähige Streitkräfte benötigen zum Beispiel zusätzliche Einsatzunterstützung auf Korpsebene, neu dimensionierte Logistik und Sanitätskräfte, aber auch die Instandhaltung und -setzung muss entsprechend der Aufgaben neu dimensioniert werden. Schließlich stellt sich die Frage einer ausreichend großen einsatzfähigen Reserve, die – auch als Beitrag zur Abschreckung – gut ausgebildet, voll ausgerüstet und nicht überaltert sein darf. Deshalb drängt die Frage eines verpflichtenden Wehrdienstes folgerichtig auf die Tagesordnung, da funktionstüchtige Streitkräfte im Sinne des GG voraussichtlich nur so darstellbar sein werden. Dies schließt die Prüfung ein, ob die bloße Reaktivierung der Wehrpflicht auf Basis des geltenden Rechts der sinnvolle Weg ist oder neue rechtliche Grundlagen geschaffen werden sollten, die spezifischer am Bedarf und den Rahmenbedingungen der Zeit ausgerichtet sind.

Ergänzend ist ein intensiveres Zusammenspiel mit zivilen und staatlichen Akteuren außerhalb der Bundeswehr erforderlich. Komplett und modern ausgestattete Streitkräfte, volle Munitionsdepots sowie deren schneller und gesicherter Nachschub sind Grundvoraussetzungen für funktions- und durchhaltefähige Streitkräfte. Der Ausbau und die Stärkung der europäischen und speziell deutschen verteidigungsindustriellen Basis ist deshalb eine Aufgabe, die in hoher Geschwindigkeit parallel zu meistern ist. Es bedarf aber zum Beispiel auch der Kooperation mit zivilen Firmen für gesicherte, d. h. auch redundante, Transportwege von Militärgütern auf Straße und Schiene oder dem Betrieb von Logistikdepots. Staatliche Akteure aus Bund, Ländern und Kommunen, wie Bundes- und Autobahnpolizei werden für Sicherungsaufgaben von Einrichtungen und Transporten benötigt. Das zivile Gesundheitswesen muss zum engen Partner werden, weil der Sanitätsdienst nah bei der Truppe gebunden sein wird.

Dies alles leitet über zur Frage der Gesamtverteidigung und eigentlichen staatlichen Resilienz, die Deutschland neu für sich beantworten muss und die u. a. mit der Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung adressiert werden wird (Auswärtiges Amt 2023, S. 34–36).

Letztlich geht es also um einen Bewusstseinswandel in Deutschland, dass sich in der Zukunft einmal die Notwendigkeit eines Verteidigungskrieges ergeben könnte und dieser am besten dadurch abzuwenden ist, dass die NATO eine glaubwürdige Abschreckung aufbaut und dauerhaft aufrechterhält. Keine feindliche Macht darf je glauben, dass ein Krieg gegen die NATO zu gewinnen wäre. Für die Bundeswehr bedeutete das früher, „kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“, was es unverändert gut trifft. Solch eine Verteidigungskriegstüchtigkeit ist keine Erscheinungsform von Militarismus. Sie kann sogar sehr friedlich daherkommen, wie das Beispiel unserer finnischen Verbündeten zeigt. Notwendig ist ein gesellschaftliches Bewusstsein, das Wehrhaftigkeit wieder als Ausdruck demokratischer Selbstbehauptung begreift.