1 Einleitung

Der erneute und breit angelegte russische Angriff auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 erfordert ein grundlegendes Umdenken in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Bundeskanzler Olaf Scholz hat bereits drei Tage nach dem Beginn der russischen Aggression reagiert: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents (…) Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen“ (Bundesregierung 2022a). Zwar rief Olaf Scholz in seiner Rede in einer außerordentlichen Sitzung des Bundestages nicht eine Zeitenwende für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus; dennoch interpretieren viele Beobachter*innen seine Worte dahingehend, als müsse Deutschland einen tiefgreifenden sicherheits- und verteidigungspolitischen Wandel durchlaufen, um angemessen auf die veränderte Lage in Europa reagieren zu können.

Im vorliegenden Beitrag soll daher analysiert werden, inwiefern Deutschlands Sicherheits- und vor allen Dingen Verteidigungspolitik seit Februar 2022 angepasst wurde, und ob folgerichtig von einer Zeitenwende gesprochen werden kann. Zunächst werden beispielhafte Aspekte beleuchtet, die für einen Wandel sprechen („the good“), in einem nächsten Schritt werden Argumente herangezogen, die dagegensprechen, dass Deutschland bisher tatsächlich eine sicherheits- und verteidigungspolitische Zeitenwende erlebt („the bad“). In einem abschließenden analytischen Schritt werden Aspekte in den Fokus gerückt, die sich zwischen den zwei vorangegangenen Kategorien einordnen und mit den Worten „gute Absichten, mangelhafte Umsetzung“ umschreiben lassen („the ambiguous“).

2 The Good

In seiner als „Zeitenwende“-Rede bekannt gewordenen Regierungserklärung kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz einige Schritte an, die Beobachter*innen zurecht zu dem vorläufigen Schluss kommen ließen, dass Deutschland eine sicherheits- und verteidigungspolitische Revolution bevorstünde (Major und Mölling 2023). Das verteidigungspolitische Herzstück seiner Rede umfasste das Versprechen, ein Sondervermögen in Höhe von 100 Mrd. € aufzusetzen, um die deutschen Streitkräfte zu modernisieren. Die zusätzlichen Mittel für die Bundeswehr, finanziert durch Schulden, sollten laut Scholz im Grundgesetz verankert werden (Bundesregierung 2022a). Wenige Monate nach der Ankündigung des Kanzlers sicherten die drei Regierungsparteien bestehend aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gemeinsam mit der größten Oppositionspartei im Bundestag (CDU) den Geldtopf für die Bundeswehr im Grundgesetz ab (Deutscher Bundestag 2022b). Im Gesetzestext zur Errichtung eines „Sondervermögens Bundeswehr“ heißt es: „Das Sondervermögen hat den Zweck, die Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit zu stärken und dazu ab dem Jahr 2022 die Fähigkeitslücken der Bundeswehr zu schließen, um damit auch den deutschen Beitrag zu den geltenden NATO-Fähigkeitszielen gewährleisten zu können“ (Deutscher Bundestag 2022a, S. 4). Die Mittel des Sondervermögens sollten demnach herangezogen werden, um „bedeutsame […] Ausrüstungsvorhaben der Bundeswehr, insbesondere komplexe […] überjährige […] Maßnahmen“ zu finanzieren (Deutscher Bundestag 2022a, S. 4). Zu den Fähigkeiten, die zulasten des Sondervermögens gehen, gehören unter anderen Dingen das Mehrzweckkampfflugzeug F‑35, das hauptsächlich die Nachfolge des Tornado-Jets in der nuklearen Teilhabe antreten soll, an der Deutschland innerhalb der NATO beteiligt ist.

Neben dem Zweck, die Ausstattung der Bundeswehr voranzubringen, dient das Sondervermögen außerdem dem Ziel, das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen. Bereits 2014 versprachen alle Allianzmitglieder einander, sich bis 2024 dem Ziel zu nähern, jährlich 2 % des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes in Verteidigungsanstrengungen zu investieren (NATO 2014). Deutschland hat seinen Wehretat seitdem zwar angehoben, die NATO-Zielmarke jedoch bislang verfehlt. Folglich wurde der folgenden Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede großes Gewicht beigemessen: „Wir [Deutschland] werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“ (Bundesregierung 2022a).

Weiterhin gab Deutschland mit Beginn des großangelegten, russischen Angriffs auf die Ukraine den viele Jahre währenden Grundsatz auf, Waffen nicht in Kriegsgebiete zu liefern. Zuvor hatte Deutschland zwar 2014 die kurdischen Peschmerga-Einheiten in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat mit Panzerfäusten, Gewehren und Munition ausgerüstet (Dewitz 2014). Allerdings lässt sich diese Unterstützungsleistung weder quantitativ noch qualitativ mit den Lieferungen an die Ukraine vergleichen. Die deutsche Bundesregierung hielt zunächst an ihrer selbst auferlegten Maxime fest, indem sie der Ukraine kurz vor Beginn des großangelegten russischen Angriffs lediglich die Lieferung von 5000 Militärhelmen in Aussicht stellte (Zeit Online 2022). Für dieses Angebot zog Deutschland zum Teil heftige Kritik aus dem In- wie Ausland auf sich (Kolb und Krüger 2022; Spiegel Online 2022). Im Lichte dieser Episode ist umso erstaunlicher, dass die deutsche Bereitstellung von Militärhilfe für die Ukraine mittlerweile höher ausfällt als von jedem anderen europäischen Staat (Institut für Weltwirtschaft 2023). Angefangen von Panzerwehrraketen, Flugabwehrsystemen bis hin zu Kampfpanzern hat Berlin eine erstaunliche Entwicklung durchlaufen und wird inzwischen nur noch von den Lieferungen der USA übertroffen (Institut für Weltwirtschaft 2023).

Zusätzlich, und auch das lässt sich als Indikator für eine Zeitenwende deuten, spielt Deutschland eine zunehmend gewichtige Rolle im Abschreckungs- und Verteidigungskontext der NATO. Bereits seit 2017 dient Deutschland als Rahmennation eines multinationalen Gefechtsverbands im litauischen Rukla und führt in dieser Funktion Truppen verschiedener Allianzmitglieder im Rahmen der sogenannten enhanced forward presence (eFP) (Matlé 2023b, S. 2). Die „Vornepräsenz“ entlang der Nordostflanke der Allianz beschlossen die NATO-Mitglieder auf einem Gipfeltreffen in Warschau 2016. Dem Beschluss zufolge verständigten sich die Alliierten darauf, multinationale Gefechtsverbände (battlegroups) im Umfang eines verstärkten Bataillons in Estland, Lettland, Litauen und Polen in sechsmonatiger Rotation aufzustellen (Matlé 2023b, S. 4). Zweck der eFP-Kräfte war und ist es, das Abschreckungsdispositiv gegenüber Russland zu stärken: Moskau soll(te) zu verstehen gegeben werden, dass bereits ein begrenzter militärischer Übergriff als Angriff auf alle NATO-Mitglieder gewertet würde – inklusive der drei Atommächte Frankreich, Großbritannien und USA.

Der russische Frontalangriff auf sein Nachbarland hat die Einsicht in vielen Mitgliedsstaaten der NATO, besonders im Baltikum, erhöht, dass alliiertes Territorium erst gar nicht in russische Hände fallen dürfe. Stattdessen haben die Alliierten mehrfach betont, sie würden jeden Zentimeter des Bündnisgebiets verteidigen. Eine Warnung, die auch Olaf Scholz und Joe Biden gegenüber Putin äußerten (Bundesregierung 2023; The White House 2023). In das Bild einer Allianz, die sich nicht nur auf Abschreckung verlassen möchte, sondern verstärkt auch auf die Verteidigung ihres Territoriums setzt, passte schließlich die Ankündigung Deutschlands im Frühsommer 2022, eine Kampfbrigade für die Verteidigung Litauens bereitzustellen. Den ursprünglichen deutschen Plänen zufolge, sollte diese – mit Ausnahme eines 60 Personen umfassenden Kommandostabs – auf deutschem Boden verharren (Tagesschau 2023c). Verteidigungsminister Boris Pistorius revidierte diesen Kurs jedoch ein gutes Jahr später, als er versprach, die „Litauen-Brigade“ dauerhaft in den baltischen Staat entsenden zu wollen (Spiegel Online 2023).

3 The Bad

Zwar war es wichtig und ein längst überfälliger Schritt, erheblich mehr Mittel für die Modernisierung der Bundeswehr bereitzustellen, – nun in Form eines Sondervermögens – allerdings sind die Gelder aufgrund bürokratischer und ministerieller Hürden und Überregulierung bislang kaum verausgabt worden (Matlé 2023a). Zwar wurden bereits Verträge über den Kauf von militärischem Großgerät abgeschlossen, beispielsweise für das Mehrzweckkampfflugzeug F‑35 und Überschneefahrzeuge (Fleischer 2022), Geld kann allerdings erst fließen, „wenn die Industrie die bestellten Waren liefert, sie abgenommen werden können und die Rechnungen als Zahlungsgrundlage vorliegen“ (Tagesschau 2023b). Die langsamen, auf Friedenszeiten ausgerichteten Beschaffungsprozesse wurden im ersten Jahr der „Zeitenwende“ im In- wie Ausland kritisiert (Besch und Fix 2022). Ein Grund für die Trägheit wurde im Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (kurz Beschaffungsamt der Bundeswehr) ausgemacht (Bosen 2022), ebenso wie in der Person der damaligen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, der unterstellt wurde, sie habe kein großes Interesse an ihrem Posten (Gaschke 2023; Hinck 2022). Seit der Nachbesetzung an der Spitze des Wehrressorts im Januar 2023 scheinen manche Prozesse an Fahrt aufgenommen zu haben. So verkündete die Präsidentin des Beschaffungsamtes, Annette Lehnigk-Emden, die im April 2023 den Posten übernahm, dass bis Juni 2023 Rüstungsgüter im Wert von rund 33 Mrd. € bestellt worden seien (Gatzke und Friederichs 2023). Sie fügte hinzu, dass zwei Drittel des Sondervermögens bis Ende 2023 vertraglich gebunden sein werden, das restliche Volumen solle bis Ende des ersten Quartals 2024 in Verträgen zugeordnet sein (Tagesschau 2023d). Ein weiterer Indikator für eine verstärkte Geschwindigkeit in der Verausgabung der zusätzlichen Mittel für die Bundeswehr lässt sich daran ablesen, dass 91 Beschaffungsvorhaben mit einem Finanzvolumen von mehr als 25 Mio. € dem Finanzausschuss des Bundestages vorgelegt werden sollen (Bickel und Wiegold 2023).

Zugleich, und selbst wenn die Mittel, die zulasten des Sondervermögens gehen sollen, alsbald vertraglich gebunden sein sollten, ist bereits absehbar, dass die Mittel nicht ausreichen werden, um die Bundeswehr in ihrer Gesamtheit zu modernisieren (Dorn et al. 2022, S. 39). Dieser Umstand ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich die tatsächliche Kaufkraft des 100-Milliarden-Fonds aufgrund von Zinsbelastung, Mehrwertsteuer und Inflation auf 70 bis 80 Mrd. € beläuft (Jungholt 2023). Aus diesem Grund fordern einige Beobachter*innen, darunter die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags Eva Högl, dass etwa 300 statt der bisherigen 100 Mrd. € zur Verfügung gestellt werden müssten, um die Ausrüstungslücken innerhalb der Bundeswehr zu schließen (Georgie und Schuller 2023). Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich in ähnlicher Weise geäußert (Ismar et al. 2023). Die Höhe der Summe ist nicht willkürlich gewählt, sondern entspricht den Einsparungen, die die Bundeswehr in den zurückliegenden drei Jahrzehnten in Kauf nehmen musste. Einer Berechnung zufolge sparte Deutschland im Verteidigungsbereich seit 1990 394 Mrd. € ein (Röhl et al. 2022, S. 7).

Vor diesem Hintergrund ist nicht verwunderlich, dass Deutschland Prognosen zufolge selbst unter Zuhilfenahme des Sondervermögens Schwierigkeiten haben wird, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen (Mölling und Schütz 2023). Der Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist zum einen darauf zurückzuführen, dass bislang nicht klar ist, ob es ein weiteres Sondervermögen für die Bundeswehr geben wird. Zum anderen ist bereits jetzt klar, dass der reguläre Wehretat nach derzeitigen Plänen bis 2027 bei 52 Mrd. € eingefroren sein wird (Deutscher Bundestag 2023b, S. 28).

Hinweise auf die finanzielle Mittelausstattung der Bundeswehr sind deswegen entscheidend, weil ohne die monetäre Unterfütterung die deutschen Streitkräfte nicht modernisiert werden können. Nach jahrzehntelanger Sparpolitik ist die Bundeswehr heute nicht vollumfänglich einsatzfähig. Die Defizite in der Truppe, über Teilstreitkräftegrenzen hinweg, reichen von maroder Infrastruktur bis hin zu mangelhafter Ausrüstung. Nach Angaben der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages sind allein für die Modernisierung der Infrastruktur, z. B. Kasernen, 50 Mrd. € erforderlich (Deutscher Bundestag 2023a, S. 90–95). Darüber hinaus erweisen sich Waffensysteme immer wieder als nicht einsatzfähig. Beispielhaft steht dafür eine Episode aus dem Dezember 2022: Damals fielen alle 18 Schützenpanzer Puma bei einer Wehrübung wegen technischer Probleme aus. Diese Fahrzeuge waren für die Schnelle Eingreiftruppe der NATO (VJTF) ab Januar 2023 vorgesehen. Aufgrund der Panne mussten die moderneren Puma durch ein älteres Modell ersetzt werden – zumindest vorübergehend (BMVg 2023). Ein weiteres Problem, von dem die Bundeswehr betroffen ist: Munitionsknappheit. Die Truppe könnte über alle Teilstreitkräfte hinweg momentan in einem Gefecht nur wenige Tage durchhalten, bis die gesamte Munition der Truppe aufgebraucht wäre (Heimbach 2022). Eine NATO-Vorgabe sieht allerdings vor, dass die Mitgliedstaaten „bis 2031 Munition für 30 Tage vorhalten müssen“ (Tagesschau 2023a). Nach Angaben des Verteidigungsministeriums müssten mindestens 20 Mrd. € in die Hand genommen werden, um diesen Bedarf zu decken (Gebauer und Traufetter 2023) – für 2023 sind allerdings lediglich 1,1 Mrd. € eingeplant (Deutscher Bundestag 2023c). Diese Exemplare stehen beispielhaft für die Unterfinanzierung der Bundeswehr und deren mangelhafte Ausrüstung.

4 The Ambiguous

In den zwei vorangegangenen Abschnitten wurden Argumente dargestellt, die auf der einen Seite für, auf der anderen Seite gegen eine Zeitenwende in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sprechen. Die Ausführungen im folgenden Abschnitt bewegen sich zwischen den Kategorien „the good“ und „the bad“: Die richtigen Absichten sind erkennbar, die Umsetzung jedoch noch mangelhaft.

Auf der Bundeswehrtagung im September 2022 wählte Kanzler Olaf Scholz sehr klare Worte, um die Aufgabe der deutschen Streitkräfte zu beschreiben: „Der Kernauftrag der Bundeswehr ist die Verteidigung der Freiheit in Europa – oder etwas weniger lyrisch ausgedrückt: die Landes- und Bündnisverteidigung. Alles andere leitet sich aus diesem Auftrag ab. Alle anderen Aufgaben haben sich diesem Auftrag unterzuordnen. Das ist mein Anspruch als Bundeskanzler, und daran werde ich mich auch messen lassen“ (Bundesregierung 2022b). Außerdem, so der Kanzler weiter, solle die Bundeswehr „zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“ (Bundesregierung 2022b). Ein solcher Anspruch schließt ein, dass die deutsche Armee kaltstartfähig sein muss, d. h., sie muss ohne langfristige Vorbereitung verlegbar und einsatzbereit sein – und das im Rahmen größerer Verbände ab Brigadestärke (bis zu 5000 Soldat*innen) aufwärts (BMVg 2022, S. 10; Mössbauer 2022). Von diesen Zielsetzungen ist Deutschland bislang weit entfernt. Um die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit beispielhaft zu unterstreichen: Im Streitkräfteprofil der Bundeswehr aus dem Jahr 2018 heißt es: „Aufgrund der Zusagen an die NATO soll bis 2023 eine komplette Heeresbrigade ohne Rückgriff auf Kapazitäten anderer Truppenanteile einsatzbereit sein und jederzeit für die Speerspitzenbrigade VJTF (…) herangezogen werden können“ (Dreifke 2021, S. 2). Dieses Vorhaben konnte die Bundeswehr bislang nicht in die Realität umsetzen. Ein weiteres Versprechen, dass Deutschland seinen Alliierten gegenüber abgegeben hat, wird ebenfalls schwer einzulösen sein: Das Heer soll ab 2025 über eine voll ausgerüstete Division verfügen, eine weitere soll zwei Jahre später bereitstehen (Seliger 2023). Die fristgerechte Verwirklichung dieser Ziele wird selbst von Heeresinspekteur Alfons Mais in Zweifel gezogen (Mössbauer 2023). Zudem wies er daraufhin, dass es Jahre dauern werde, bis die Mittel des Sondervermögens flächendeckend innerhalb der Truppe Wirkung entfalten werden (Szymanski 2022). Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius rechnet nicht damit, dass die Ausrüstungslücken der Bundeswehr in absehbarer Zeit (frühestens 2030) geschlossen werden können (Jungholt et al. 2023). Vor diesem Hintergrund unterstrich Pistorius, dass Prioritäten gesetzt werden müssten: „Eine dieser Prioritäten ist der Schutz der Ostflanke der NATO“ (Jungholt et al. 2023). Diese Prioritätensetzung deckt sich mit den Erwartungen der Alliierten an Deutschland, eine herausgehobenere Rolle in der NATO einzunehmen – und das aus mehreren Gründen. Erstens spielt Deutschland aufgrund seiner zentralen Lage in Europa eine wichtige Rolle in den Verteidigungsplänen der NATO; im Falle eines russischen Angriffs auf Bündnisgebiet entlang der Nordostflanke würden die meisten Verstärkungstruppen durch Deutschland verlegt werden. Diese Logistikaufgabe müsste Deutschland mitorganisieren, genauer gesagt das Joint Support and Enabling Command der NATO mit Sitz in Ulm.

Zweitens erwarten die anderen Europäer*innen, vor allem aber auch die US-Amerikaner*innen, dass Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke mehr Material und Truppen zum Bündnis beisteuert – eine Erwartung, der Deutschland mit der Bereitstellung der bereits erwähnten Divisionen entgegenzukommen versucht.

5 Fazit

Während die Bereitstellung von Geld und damit von Fähigkeiten von großer Bedeutung ist, ist ein weiteres Element von mindestens ebenso entscheidendem Wert: eine lebhafte, strategische Kultur, die vorausschauende (und nicht reaktive) sowie den sicherheits- und verteidigungspolitischen Herausforderungen angemessene Politik ermöglicht. Um eine solche Kultur zu etablieren, müssen unter anderem regelmäßige Debatten über Sicherheit und Verteidigung in der Öffentlichkeit stattfinden, einschließlich der Frage, in welchen Situationen die Androhung, und im äußersten Fall, Anwendung militärischer Gewalt notwendig und geboten ist. Mandatsträger*innen sollten bei der Führung dieser Debatten zweifellos an vorderster Stelle stehen, da sie letztlich die Verantwortung für die Entscheidung tragen, wie Steuergelder ausgegeben werden, auch für die Verteidigung, ebenso wie für die Entsendung von Soldat*innen in Gefahrenzonen. Nichtsdestotrotz müssen auch andere Akteur*innen, die sich im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bewegen, den Mut haben, mit der breiten Bevölkerung über Themen zu sprechen, die die nationale Sicherheit Deutschlands betreffen – dazu zählen beispielsweise Mitarbeiter*innen politischer Stiftungen ebenso wie jene von Think Tanks. Freilich ist die Kultivierung regelmäßiger und offener Diskussionen über diese Themen eine Generationenaufgabe, folglich sind rasche Veränderungen nicht zu erwarten, unabhängig davon, ob eine Zeitenwende „von oben“ ausgerufen wird oder nicht. Während Umfragen in den ersten Tagen des Krieges gegen die Ukraine zeigten, dass der Großteil der Deutschen das Vorgehen der Regierung gegenüber Kiew (einschließlich Waffenlieferungen) unterstützte und sogar höhere Verteidigungsausgaben befürwortete, ist es noch zu früh, um zu beurteilen, ob diese Zahlen nur ein vorübergehendes Stimmungsbild widerspiegeln, das verblassen wird, sobald der Krieg zu einem wie auch immer gearteten Ende gefunden haben wird (und damit aus den Schlagzeilen verschwunden ist), oder ob sich Deutschland eine tatsächliche, langanhaltende Zeitenwende attestieren lässt.