1 Einleitung

Das Essay behandelt die These, dass Soziologie als wissenschaftliche Disziplin wenig zur Gestaltung einer sozial-ökologischen Transformation beiträgt und dass dies durch ihre begrifflichen Grundlagen verstellt ist. Derweil machen wissenschaftliche Studien und Gutachten deutlich, dass die Probleme der ökologischen Degradierung die Weltgesellschaft in den kommenden Jahrzehnten mit zunehmender Intensität betreffen werden.Footnote 1 Absehbar ist, dass Teile des Planeten immer weniger bewohnbar werden, erforderlich werden dadurch Migrationsbewegungen gesteigerten Ausmaßes, mit beiden Entwicklungen gehen zunehmende Auseinandersetzungen um den Zugriff auf Ressourcen einher. Der Krieg in der Ukraine, in dem menschliche Nahrung als Mittel im Kampf benutzt wird, lässt ahnen, welche Formen die Auseinandersetzungen noch annehmen können, wenn Gesellschaften mit entsprechenden Machtmitteln nicht mehr in gewohnter Weise über Ressourcen verfügen können.

Wissenschaft und Technik haben die Zuspitzung erst möglich gemacht, sie haben das Wirtschaften ungeheuer beschleunigt und die Steigerung der Standards befördert, die Menschen heute als Voraussetzung guten Lebens verstehen. Ein Richtungswechsel, eine sozial-ökologische Transformation erfordert also auch eine selbstkritische Überprüfung der Grundbegriffe und Grundannahmen von Wissenschaft. Dazu im eigenen Fach einen Diskussionsbeitrag zu liefern, ist unser Anliegen.

Wir diskutieren soziologische Begriffsbildung in zwei Kontexten. Aus der Gründungsgeschichte der Disziplin werden zentrale und bis heute wirksame Ideale und Grundannahmen der Soziologie daraufhin beleuchtet, wie sie sich zu Bedingungen sozial-ökologischer Nachhaltigkeit verhalten.

In Kap. 2 gehen wir auf die Debatte um Wertfreiheit und Wissenschaft in der Soziologie ein und argumentieren, dass Werturteilsfreiheit als wissenschaftliches Ideal eine Scheu der soziologischen Forschung vor Engagement befördert und verfestigt. In Kap. 3 kommen wir auf einige Grundbegriffe der Soziologie zu sprechen, in denen eine tiefgreifende Wertung enthalten ist. Die Abspaltung der Natur von Gesellschaft bestimmt den Mainstream soziologischer Forschung. Sie ist tief in christlichem Denken verwurzelt. Wir arbeiten heraus, dass diese Setzung in der Soziologie sich gravierend darauf auswirkt, wie Wechselwirkungen von Gesellschaft und Ökologie untersucht und verstanden werden. Dieser Teil endet, angelehnt an Latour, mit einem Plädoyer für eine wertebasierte Soziologie der Nachhaltigkeit.Footnote 2

In Kap. 4 thematisieren wir die praktischen Folgen der Diskrepanz zwischen ökologischen Herausforderungen einerseits und den Grenzen, in denen Soziologie operiert, andererseits und machen Vorschläge, wie ein anderes Verhältnis zur Wertfrage und ein anderer Naturbegriff diese Diskrepanz verringern könnte. Kap. 5 macht, auf Prämissen der Transformationsforschung bezugnehmend, praktische Vorschläge, was aus diesen Analysen für eine wirksame soziologische Nachhaltigkeitsforschung zu folgern ist.

2 Das Ideal der Werturteilsfreiheit

Die Soziologie ist in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden. Zwar wurde das Wort „Soziologie“ von Auguste Comte schon 1839 geprägt (Comte 1839, S. 252, Fn.), aber als eine akademische Disziplin verstand man Soziologie erst seit Ende des 19. Jahrhunderts. Das Verständnis von Umfang und Ausrichtung des neuen Faches war international sehr unterschiedlich. Fast überall in der westlichen Welt wurde eine Anwendung des neuen Faches mitgedacht, meist ging es um theoretische Grundlagen für Sozialpolitik, manchmal große geschichtsphilosophische Entwürfe, manchmal auch um Verbindungen zur Biologie, die nach Darwin für einige Jahrzehnte Leitwissenschaft war. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie vermied seit ihrer Gründung 1909 politische Anwendung soziologischen Wissens. Vielmehr wollte sie als eine Wissenschaft verstanden werden, die von weltanschaulichen Festlegungen und Werturteilen sich freihält.

Dafür gab es mehrere Gründe. Der erste ist strategisch auf die Durchsetzung der neuen Disziplin gerichtet: Die Entscheidung zur Werturteilsfreiheit sollte den Wissenschaftscharakter der Disziplin belegen. Naturwissenschaften galten als Vorbild. Sie seien nicht von Wertentscheidungen, sondern durch die Aufdeckung von Zusammenhängen geprägt, die dann als „Naturgesetze“ gelten. Ein Bewerten durch Menschen ändert nichts an den Naturgesetzen, sie wirken.Footnote 3

Der zweite ist, dass das Fach Soziologie sich von den sozialpolitischen Diskursen der Zeit fernhalten wollte, um eine Konkurrenz zwischen Institutionen zu vermeiden. Der einflussreiche Verein für Socialpolitik hatte das Feld der sozialen Politik fest besetzt. Auch hier war allerdings ein heftiger „Werturteilsstreit“ geführt worden. Der dritte Grund ist, dass Fachvertreter*innen nicht zu Unrecht fürchteten, Ängste und Präferenzen einzelner Fachkolleg*innen könnten einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Soziologie stark prägen. Als noch vor dem ersten Weltkrieg eine Sektion für Sozialbiologie gegründet wurde, zeigte sich, wie berechtigt solche Überlegungen waren: Die Gründer dieser Sektion wollten von der Untersuchung von Vererbung in Gesellschaft gleich zu einem Programm zur „Erbgesundheit“ voranschreiten, also zu einer eugenischen Reform. Eine Selbstverpflichtung zur Werturteilsfreiheit konnte solche auf politisch und ethisch umstrittenen Wertungen beruhende Anwendung von Wissenschaft verhindern.

Die Entscheidung zur Werturteilsfreiheit aus der Gründungszeit der Soziologie ist eine strategische und eine ethische Entscheidung, sie beruht ihrerseits auf Wertungen. Max Weber hat die Frage der Werturteile in der Soziologie aus zwei Perspektiven behandelt. In seinem Aufsatz „Wissenschaft als Beruf“ argumentiert er, warum Wertungen nicht vom Lehrkatheder her verkündet werden dürfen (Weber 1919). Dies sei eine Frage der Berufshygiene an der Hochschule; die Vermittlung von Wissenschaft soll den Studierenden, denen die eigene wissenschaftlichen Reife und das Wissen noch fehlen, um Fakten von Werturteilen überall sicher zu unterscheiden, die Freiheit zum eigenen Urteil belassen und somit die Urteilsfähigkeit schulen. Hier geht es um ein Ethos der Lehre.

In seinen weiteren Einlassungen zur Werturteilsfreiheit (Weber 1904, 1917) zielt Weber nicht auf Themenwahl oder auf persönliche Wertüberzeugungen von Wissenschaftler*innen, seine Vorstellung von Werturteilsfreiheit ist vielmehr operativ. In der Wissenschaft solle nicht über Ziele, sondern nur über Mittel der Zielerreichung diskutiert werden. Ziele erwachsen aus der Weltanschauung, hier lägen die Werte. Über Mittel zur Zielerreichung, ihre Wirksamkeit, ihre Nebenfolgen, ihre Kontingenz, ihre Umsetzbarkeit hingegen könnten wissenschaftlich geübte Menschen rational verhandeln, auch wenn deren Ziele, politische Einstellungen, Werthaltungen konträr liegen. Solches macht für Weber den Kern der Werturteilsfreiheit aus (Weber 1904, 1917).

Weber befindet sich mit seiner Position in einer Auseinandersetzung mit akademischen Kontrahenten, die davon überzeugt sind, dass es objektive Werte gebe, auf die sich Menschen vernünftigerweise einigen können. In diesem letzten Urteil kann man auch hundert Jahre später Weber zustimmen. In der Tat gibt es heute noch weniger einen Kanon geteilter Werte. Ob das vorgeschlagene Verfahren, Ziele und Mittel zu unterscheiden, tatsächlich zu einer werturteilsfreien Wissenschaft führt, lässt sich nicht so einfach beantworten. Wichtiger für unsere Frage nach den Funktionsmechanismen einer wirksamen Soziologie der Nachhaltigkeit ist, ob eine so operativ aufgefasste Werturteilsfreiheit, und ob Werturteilsfreiheit überhaupt, angemessen ist.

Werturteilsfreiheit ist ein Ideal und eine Wertentscheidung. Die Praxis von Wissenschaft in Gesellschaft wird damit nicht erfasst. Wissenschaftliche Ergebnisse drängen auf Anwendung. Politische Interessen, soziale Bewegungen, nehmen wissenschaftliche Ergebnisse selektiv auf, buchstabieren sie im eigenen Interesse aus und machen sie so zum Teil von Auseinandersetzungen, die die Schranken und Selbstkontrollen eines nur wissenschaftlichen Diskurses transzendieren. Wissenschaft wird so Teil von Politik, Politik aber funktioniert nicht unter Aussparung, sondern auf Basis von Werten, meist Werten, die sich aus Interessen ableiten, sie substantiieren oder camouflieren.

Für Soziolog*innen insbesondere sollte die Vorstellung einer werturteilsfreien Wissenschaft problematisch sein. Menschen handeln in sozialen Zusammenhängen, sie sind durch Interessen, Werte, Vorlieben geprägt. Denken, auch wissenschaftliches Denken, ist von solchen Prägungen nicht frei, vielmehr fließen diese Prägungen schon in die Formulierung von Forschungsfragen: Nur was von sozial-ökonomisch überformten Interessen, Werten, Vorlieben gestützt ist, wird Forschungsgegenstand. Dass die Fachentwicklung durch Forschungsaufträge, Drittmittelprojekte, Politikberatung geprägt wird, ist ein Charakteristikum des Wissenschaftssystems nicht nur in der Soziologie. Vielmehr prägen überall öffentliche und private Geldgeber mit, welche Themen und Fragen bearbeitet werden. Unter diesen ökonomischen Prämissen an Werturteilsfreiheit als Ideal der Soziologie festzuhalten, erscheint realitätsfern und strukturblind. Was nicht interessiert, mobilisiert keine Ressourcen, gerät nicht in den Fokus, wird nicht beforscht. Bevor die wissenschaftliche Arbeit beginnt, hat bereits Wertung stattgefunden.

3 Das Mensch-Natur-Verhältnis

Eine weitere Setzung ist für eine Soziologie der Nachhaltigkeit problematisch. Sie prägt die dominanten Strömungen in der Soziologie seit ihrer Gründung und geht zurück auf den französischen Soziologen Émile Durkheim. Die theoretische Grundentscheidung lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Soziales soll aus Sozialem erklärt werden. Diese Entscheidung ist folgenreich. Sie blendet aus, dass Einflüsse jenseits menschlichen Handelns auf soziale Gebilde und ihre Entwicklung wirken. Und sie grenzt sich von Ansätzen und Erklärungen ab, in denen als Zusammenhang sozialer Phänomene nicht-soziale Umstände herangezogen werden. Diese Entscheidung wurde zugespitzt in der Systemtheorie, etwa bei Luhmann, hier funktioniert das Soziale als System subjektlos.Footnote 4 In andere Richtung, aber im Rahmen derselben Grundentscheidung, geht die konstruktivistische Soziologie, für die Soziales eine Konstruktion von Menschen ist; sie entscheiden mit solcher Konstruktion, was sozial wahr und wirkmächtig ist.Footnote 5 In diesen Strömungen sind Menschen Akteure, alleinige Akteure zumal, und sei es im Vollzug von Systemen.

Die begriffliche Grundentscheidung, Soziales aus Sozialem zu erklären, ruht auf einem tieferliegenden Muster: Dies ist die Vorstellung von einem äußerlichen Verhältnis von Natur und Mensch als einem Verhältnis von Natur und Geist. Die christliche Prämisse, dass Menschen am Göttlichen teilhaben mit ihrem Geist, eben nicht Natur sind wie andere Lebewesen, sondern unter diesen herausgehoben, steht mehr oder weniger offen hinter diesem Denkansatz. Es geht dann um eine Menschenwelt oder eine soziale Welt, die nicht Teil von Natur ist, sondern die auf Natur zugreifen kann. Die Biologie menschlicher Wesen, ihr Austausch als Körperwesen mit den sie umgebenden Mitlebewesen, rückt an den Rand der soziologischen Aufmerksamkeit, wenn solche Phänomene überhaupt wissenschaftlich thematisiert werden. Eine weitere Steigerung solchen Denkens zeigt sich in transhumanen Utopien, in denen Menschen der Körperlichkeit entkleidet nur noch als Geist existieren sollen.

Die theoretische Grundentscheidung zu einer Abspaltung von Natur findet sich auch bei Weber, etwa wenn er in seiner Arbeit zur „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis das Gegenstandsfeld sozialwissenschaftlichen Denkens bestimmt. Er ist überzeugt, hier keine weltanschaulich vorgeprägte Begriffsbildung vorzunehmen:

Daß unsere physische Existenz ebenso wie die Befriedigung unserer idealsten Bedürfnisse überall auf die quantitative Begrenztheit und qualitative Unzulänglichkeit der dafür benötigten äußeren Mittel stößt, daß es zu ihrer Befriedigung der planvollen Vorsorge und der Arbeit, des Kampfes mit der Natur und der Vergesellschaftung mit Menschen bedarf, – das ist, möglichst unpräzis ausgedrückt, der grundlegende Tatbestand, an den sich alle jene Erscheinungen knüpfen, die wir im weitesten Sinne als ‚sozial-ökonomische‘ bezeichnen (Weber 1904, S. 161–162).

Natur ist für ihn Äußeres, sie ist unzulänglich, ihr muss ein Nutzen entrungen werden. Eine solche Begrifflichkeit ist getränkt vom religiösen Imperativ des „Machet euch die Welt untertan“, welcher Menschen als Geistwesen und Gottesebenbild anspricht.

Deutlich wird, dass schon die Grundbegriffe solcher Soziologie durch eine anthropozentrische Vorstellung getränkt sind. Die Idealisierung von Menschen als Akteur an der Natur führt analog häufig zu einem Verständnis von Natur als einem passiven Objekt, das dem Zugriff menschlicher Akteure verfügbar ist. Es gibt durch die Geschichte der Soziologie hiervon abweichende Vorstellungen, Ideen, Ansätze, die allerdings fast immer randständig blieben (Schroer 2022). Bruno Latour hat mit einigen „posthumanistischen“ Theoretiker*innenFootnote 6 mit der Übernahme des Bildes von Gaia für den Planeten und seine Oberfläche einen Versuch gemacht, eine Terminologie für eine andere Denkweise zu entwickeln. Gaia steht für die lebendige Eigengesetzlichkeit der Erde, will dieser Sichtbarkeit und Stimme verleihen. Gleichzeitig transportiert der Begriff seine eigene Problematik, Latour selbst warnt davor, „Gaia“ als einen systemischen Zusammenhang zu verstehen, also eine Vorstellung von einer Allgemeinheit zu entwickeln, die den Akteur Mensch durch den der „Natur“ oder eben „Gaia“ ersetzt. Damit seien anthropozentrische Vorstellungen nicht überwunden, sondern nur umgekehrt. Impliziert ist das Bild, dass (nur) Menschen „Gaia“ verstehen.

Baruch de Spinoza hat in seiner Ethica eine allgemeine Bestimmung von Leben versucht, die hier weiterführen kann: Leben sei dadurch gekennzeichnet, dass es nach einer Vermehrung von „lætitia“ (Freude, Fröhlichkeit) und einer Verminderung von „tristitia“ (Trauer, Traurigkeit) strebe.Footnote 7 In diesem Willensantrieb sieht er das Kennzeichen des Lebendigen, alles Lebendigen. Von hier aus lässt sich eine begriffliche Grundlage schaffen, die nicht anthropozentrisch ist, die den Gegensatz Natur und Mensch oder Natur und Geist aufzulösen in der Lage ist. Der Zusammenhang der Natur (oder, wenn man diesen Begriff verwenden möchte: Gaia) ist hiernach hergestellt von lebendigen Wesen, die Lust zu erlangen und Schmerz zu vermeiden suchen, dabei auf das zugreifen, was ihnen dafür erreichbar ist. Nach diesem Grundverständnis zeichnen sich menschliche Lebewesen dadurch aus, dass sie auf der Basis ihrer biologischen Ausstattung ihre Zugriffsmöglichkeiten fortlaufend erweitern konnten, dass sie immer neue Methoden entwickelt haben, um ihren Schmerz zu vermeiden und ihre Lust zu steigern. Regenwürmer tun dasselbe, ihre Möglichkeiten nutzend.

Der „Geist“, der Verstand der Lebewesen, ist aus dieser Sichtweise ein bei verschiedenen Lebensformen mehr oder weniger ausgeprägtes Mittel des Willens und der Wille das, was Lebendiges von Nicht-Lebendigem unterscheidet. Bei Spinoza heißt es hierzu konsequent: „Voluntas, et intellectus unum, et idem sunt“, oder auf Deutsch: „Wille und Verstand sind ein und dasselbe“ (de Spinoza 1967, S. 242–243; Ethica 2,49 (cor.)). Ferdinand Tönnies, Zeitgenosse Max Webers und einer der Gründer des Faches Soziologie, buchstabiert aus, was ein solches Verständnis einer Kontingenz von Lebensformen für soziologisches Denken bedeuteten kann:

Es ist die Erkenntnis der überwiegend vegetativ-animalischen Natur des vernünftigen Menschen in und trotz seiner Vernünftigkeit. Jene Selbsterkenntnis, die den Menschen demütig und bescheiden zu machen geeignet ist und eben deswegen von idealistischem Dünkel und Wahn als materialistische Irrlehre verabscheut zu werden pflegt. In dieser Ansicht des Menschen als eines hochentwickelten Säugetieres, das aber, wie andere Säugetiere, durch seine Bedürfnisse bedingt und bestimmt wird, deren dringendste es mit allen anderen Tieren gemein hat – in dieser Erkenntnis kommen die biologische Abstammungslehre, durch den Darwinismus weltläufig geworden, die Schopenhauersche Willenstheorie, psychologisch, nicht metaphysisch verstanden, die materialistische Geschichtsauffassung, ebenfalls psychologisch, nicht metaphysisch, aber auch nicht mechanisch und ledern verstanden, überein (Tönnies 1927, S. 194).

Unser Plädoyer ist, einen solchen Ansatz für eine Soziologie der Nachhaltigkeit zu nutzen. Relevant ist daran, dass das Handeln von Menschen hiernach wie das anderer Lebewesen durch Willensantriebe mehr beschrieben ist als durch geistige Unabhängigkeit. Nicht (nur) der aus Überlegung entstandene Plan, sondern die stets wirkenden Antriebe zur Steigerung der Annehmlichkeiten des Lebens zeigen sich dann als starker Einfluss auf soziale Prozesse und lassen sich als solche theoretisch fassen. Menschliches Handeln, zunächst das Handeln aller Individuen, dann auch menschlicher Kollektive, ist im menschlichen Körper zentriert.

Anders gesagt: Diese Willensantriebe in ihrer Summe sind es, die unter der Dominanz menschlicher Wesen im Anthropozän den Planeten an seine Belastungsgrenze gebracht haben. Damit muss jede Nachhaltigkeitspolitik rechnen. Die dadurch entstehende Gefährdung der menschlichen Lebensgrundlagen ist ja nicht durch einen Plan entstanden. Die Willensantriebe in den Individuen wirken weiter – auch wenn das Problem, was sie in ihrer Massierung hervorgerufen haben, verbreitet erkannt und als menschengemacht akzeptiert ist. Vernunft wirkt erst an zweiter Stelle. Kollektive Vernunft, und damit eine gesellschaftliche Reaktion auf die existentielle Gefährdung, muss erst gegen diese individuellen Willensprägungen hergestellt werden.

Nun ist es nicht so, als gäbe es keine Wahrnehmung für die Gefährdung unserer Lebensgrundlagen. Die gibt es, und aus ihr entwickeln sich politische Strategien, die auf eine Absicherung oder Rückgewinnung der je eigenen Lebensgrundlagen zielen. Diese streben bis in den Weltraum. Jedoch findet sich kein Planet B, allem Suchen zum Trotz. „Planet B“ ist eine extraterrestrische Metapher. Die dominante Strategie des „green growth“ ist wie die Suche nach dem Planeten B auf unserem Planeten: Gesucht und erhofft wird die Ausweitung der ökologischen Spielräume dort, wo noch nicht entwickelte oder erprobte, vielleicht mögliche technische Veränderungen alle Probleme lösen sollen. Darin zeigt sich die Hoffnung auf ein „weiter so“.

Einer solchen Politik gehe es „in erster Linie darum, Zeit zu schinden, indem alle Zwänge aufgehoben werden, bevor das Volk begreift, dass es eine Welt, die diesem Amerika entsprichtFootnote 8, nicht gibt“ (Latour 2018, S. 45). Latour kennt die intellektuellen Debatten des 20. Jahrhunderts gut genug, um zu wissen, in welcher Theorietradition die Figur der „Entscheidung“ diskutiert wurde. In seinen Vorträgen „Kampf um Gaia“ (Latour 2020) arbeitet er heraus, wie sehr die Theorie der Moderne sich in das religiöse Bild von Geist versus Natur verstrickt hat, so dass sie für ökologische Fragen nicht empfänglich ist.Footnote 9 Dagegen geht es Latour darum, „unsere Auffassung von Ökologie zu repolitisieren“ (Latour 2020, S. 377, Hervorhebung im Original) und er geht so weit, von einem „Krieg“ zu sprechen (Latour 2020, S. 383). Den Menschen gehe jene Sicherheit verloren, die Thomas Hobbes im Leviathan vor dem Kampf Aller gegen Alle gefunden zu haben glaubte. Die bisherigen Mittel staatlicher Politik bieten keine Lösung in diesem neuen Kampf bzw. keinen Schutz vor der Bedrohung. In Latours Bild von einem neuen Krieg geht es nicht mehr um den Kampf von Menschen gegen Menschen, sondern um einen Krieg der Menschen gegen ihre eigenen Lebensbedingungen. An dieser Stelle greift Latour auf Überlegungen des „toxischen und gleichwohl unentbehrlichen“ Carl Schmitt zurück (Latour 2020, S. 386).Footnote 10 Latour interessiert an Schmitt, nach einer Exegese von dessen Nomos der Erde (1950), dass er nicht den Utopien der Moderne verfällt, keinen Fortschrittstraum verfolgt.

Latour zitiert die letzten Sätze des Vorworts bei Schmitt: „Das Denken der Menschen muß sich wieder auf die elementaren Ordnungen ihres terrestrischen Daseins richten“ (Latour 2020, S. 395).Footnote 11 Damit wird für Latour die elementare Unterscheidung von und die Notwendigkeit der Entscheidung über Freund und Feind, die Schmitts Denken prägt, in dem „Kampf um Gaia“ präsent:

An dieser Stelle sollte jeder für sich selbst entscheiden. Schmitt hat erkannt, daß man niemals von Frieden sprechen darf, wenn man nicht zuvor schon dazu entschlossen ist, die gegenwärtige Situation als Kriegszustand anzusehen – und folglich zu akzeptieren, Feinde zu haben (Latour 2020, S. 397).

Für Schmitt ist die Unterscheidung von Freund und Feind dann existentiell notwendig, wenn es keinen „unparteiischen Dritten“ gibt, der einen Konflikt zwischen zwei Parteien schlichten kann. Und genau diesen Zustand sieht Latour angesichts der ökologischen Lage im Anthropozän als gegeben an. Es muss also, davon ist Latour überzeugt, entschieden werden (Latour 2020, S. 401–402). Eine „Natur“ als unparteiisches Drittes, auf das Menschen in ihren Handlungen setzen können, ist im „neuen Klimaregime“ nicht vorhanden – und sie war es nie.

4 Soziologie auf anthropologischer Grundlage

Kriege können nicht gewonnen werden, solange der Kriegsgrund nicht ausgeräumt ist, sie können nur durch Verhandlungen beendet werden. Man muss nun Latour nicht in allem Weiteren folgen und ihn zum Chefdiplomaten für Friedensverhandlungen mit Gaia machen. Jedoch unterstreichen seine Argumente die Notwendigkeit, das Programm der Soziologie an die wirkmächtigen Veränderungen im Anthropozän anzupassen. Nicht mehr nur die Frage, welche Bedingungen Gesellschaften zusammenhalten und wie sie sich entwickeln, ist dann ein adäquater Forschungsrahmen. Erkenntnisse der Naturwissenschaft zum katastrophalen Zustand der Ökosysteme machen die grundlegende Gefährdung der Existenzbedingungen menschlicher Gesellschaften und ihre Ursachen sichtbar und verstehbar. Wo die wissenschaftliche Betrachtung menschlicher Gesellschaften davon abstrahiert, kann sie kaum relevante und belastbare Erkenntnisse über gesellschaftliche Zustände und Entwicklungsrichtungen gewinnen. Wenn Soziologie als wissenschaftliche Disziplin die festgestellten Gefährdungen und Überschreitungen planetarer Grenzen nicht systematisch in ihr Forschungsprogramm einbezieht, bleibt das Fach insgesamt und bleiben seine begrifflichen Grundlagen hinter dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnis zurück.

Im Kontext von Nachhaltigkeitsforschung stellt sich für die Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin die Aufgabe, die Ausblendung der biologischen Natur der Menschen aus ihrem Zuständigkeitsbereich zu revidieren. Das heißt, menschliches Handeln eben nicht aus der Perspektive des vermeintlichen Vernunftwesens, sondern als das lebendiger Wesen im Sinne der von Spinoza angeregten Anthropologie zu verstehen. Gesellschaftliche Wirklichkeit entsteht durch menschliches Handeln. Handeln von Menschen ist, wie das anderer Lebewesen, auch durch Willensantriebe geprägt, geistige Unabhängigkeit ist für den Einzelnen schwer zu erreichen, Vernunft auch in menschlichen Kollektiven eine knappe Ressource.Footnote 12

Das Zusammenwirken der Willensantriebe unter der Dominanz menschlicher Wesen im Anthropozän bringt den Planeten an und über seine Belastungsgrenze. Dieses Problem steht im Zentrum von Nachhaltigkeitspolitik: Wie kann eine Lage hergestellt werden, in der eine kollektive Vernunft sich über die Willen der gesellschaftlichen Individuen durchsetzen kann – denn aus den individuellen Willen heraus erwächst kein nachhaltiges Handeln; dies gilt zumindest unter den herrschenden institutionellen Verhältnissen, das ist empirisch zweifellos belegt.

Nun kann man einwenden, dass es in der Soziologie nicht um die Beforschung planetarer Grenzen, sondern um die Arbeit an sozialen Phänomenen geht. Das ist in arbeitsteiliger Wissenschaft richtig, jedoch können weder Gesellschaften noch auch nur Soziologen längerfristig außerhalb der planetaren Grenzen operieren. Eine grundlegende Veränderung in den Naturbedingungen wirkt auf die Bedingungen des Sozialen, das ist nicht zu bestreiten. Diese Veränderung auszuklammern bzw. nicht systematisch zu berücksichtigen, macht soziologische Theoriebildung und Forschung kurzatmig, führt am dominanten gesellschaftlichen Problem vorbei.

Die planetare Krise erschüttert Selbstverständlichkeiten, auch Sicherheiten, an die Menschen im globalen Norden sich gewöhnt haben. Auswirkungen ökologischer Veränderungen, Hitze, Dürren, Überschwemmungen, Stürme, machen deutlich, dass es auch für Mitglieder industrialisierter Gesellschaften keine Abkopplung von ökologischen Prozessen und Bedingungen gibt. Menschen werden auf ihre Materialität, auf ihre Bedürftigkeit als Lebewesen zurückgeworfen, auf die Grundlagen biologischen Funktionierens. Die Selbststilisierung des Menschen als Vernunftwesen ist gestört, die Unzulänglichkeit dieses Bildes wird offenbar – eines Bildes und Verständnisses, welches tief in die Grundbegriffe der meisten soziologischen Theorien eingebrannt ist. Die Versprechen der Moderne, sich von der Naturhaftigkeit der eigenen Existenz zu emanzipieren, erweist sich als unhaltbar. Ohnehin galt dieses Sicherheits- und Wohlfühlversprechen nur einem Teil der Menschheit, der im globalen Norden lebt.

Vor diesem Hintergrund ist es fraglich geworden, ob eine Enthaltung von Werturteilen in dem Sinn, wie Max Weber sie vor mehr als hundert Jahren operativ fasste, funktionieren kann. Kann wirklich Sozialwissenschaft betrieben werden, die sich des Urteils über Ziele enthält und nur über sozio-ökonomische Handlungen im Sinne der Mittel und Nebenwirkungen der Zielerreichung argumentiert? Gleichgültig, welche Ziele Menschen sich vornehmen? Die planetaren Grenzen bleiben notwendiger Handlungsrahmen. Das aber heißt, dass viele der tatsächlichen und möglichen Ziele von Menschen nicht aufrechterhalten werden können. Gleichzeitig heißt es, dass eine Einpassung des sozio-ökonomischen Handelns in planetare Grenzen ein erstes Ziel von Wissenschaft und Politik sein muss.

Die Enthaltung von Werturteilen hat für den Stil sozialwissenschaftlichen Argumentierens über Nachhaltigkeit noch eine andere Konsequenz. Manche Forschungsarbeit scheint in einem Bann gefangen, der sie immer wieder argumentativ ausbuchstabieren lässt, dass es eine menschengemachte ökologische Degradation gibt. Es wird offenbar einer unausgesprochenen Regel gefolgt, dass dies weiterhin als Behauptung zu behandeln ist und darum der Nachweis der Gültigkeit zumindest in Umrissen jedes Mal neu erbracht werden muss. Es scheint die Befürchtung zu wirken, dass es als Wertung wahrgenommen würde, von der anthropogenen Zerstörung von Ökosystemen als Tatsache auszugehen.

Geht sie von einer solchen Grundlage aus, muss sozialwissenschaftliche Forschung sich auf naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse stützen, denn die Zerstörungen können in Ausmaß und Tragweite zuverlässig nur auf Basis von Messungen beschrieben werden, die nicht in den fachlichem Gegenstandsbereich einer Soziologie gehören, die sich fachlich nur auf „Soziales“ begrenzt oder konstruktivistisch die ganze Welt als Soziales konzipiert. Anders gesagt: Soziologie muss ihre Verschränkung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen anerkennen, eine Grenze ihrer Kompetenz und Zuständigkeit auch in der eigenen, sozialen Welt akzeptieren. Die Analyse und Einordnung von ökologischen Folgen menschlichen Wirtschaftens, die Effekte auf verschiedene Ökosysteme, können nicht im Rahmen einer Bindestrich-Soziologie ins Fach integriert werden, sondern werfen Probleme auf, die bis ins begriffliche Grundverständnis der Soziologie hineinreichen.

5 Schlussfolgerung

Soziologie hat als Disziplin bisher nicht die Kraft entwickelt, die Perspektive ökologischer Nachhaltigkeit in ihre Grundannahmen zu integrieren. Was jedoch als Bedingung jeder Betrachtung von sozialen Prozessen nicht mehr ignoriert werden kann, ist die Tatsache, dass menschliche Gesellschaften ihre Möglichkeiten vergrößert haben und weiter vergrößern, die biologischen Systeme der Erde zu übernutzen und dadurch für das menschlich-gesellschaftliche Leben zu zerstören. Vor diesem Hintergrund ist eine Soziologie der Nachhaltigkeit eine engagierte Soziologie, die sich auf der Suche nach Lösungen dieses Grundproblems einbringt, hier ihre Erkenntnismöglichkeiten und Verfahren anbietet (Henkel 2016, S. 19).

Wissenschaft hat einen offenen Ausgang. An keiner Stelle kann ein Ergebnis vorgegeben sein. Jedoch ist der Prozess des Forschens nicht regellos, sondern vielmehr dynamisch mit dem sich entwickelnden Erkenntnisstand verbunden. Viel Erkenntnis wird in Spezialbereichen einer Disziplin gewonnen und ist nicht für jede Forscherin in einem anderen Bereich unmittelbar verfügbar oder relevant. Manche Erkenntnis hingegen verdichtet sich zu einem neuen Paradigma und beansprucht weitreichende oder sogar allgemeine Gültigkeit. Zu solchen Wechseln von Orthodoxie und Heterodoxie oder dem Entstehen neuer Orthodoxien in der Wissenschaft gibt es eine breite Forschung. Kuhn hat für die Beschreibung solcher Entwicklungen in Wissenschaft mit dem Begriff „Paradigmenwechsel“ eine hilfreiche Metapher gefunden, andere haben diese kritisiert und weiterentwickelt.

Die Überschreitung der planetaren Grenzen als Fundamentalproblem von Gesellschaft heute fordert ein neues Paradigma der Soziologie, weil die Bedingungen des Sozialen – die Bedingungen menschlichen Lebens auf der Erde – grundlegend verändert sind. Kuhn hatte über Paradigmen und Paradigmenwechsel vor allem in den Naturwissenschaften gearbeitet. Hiernach funktioniert ein Paradigma,

indem es dem Wissenschaftler von den Entitäten Kenntnis gibt, welche die Natur enthält oder nicht enthält, und von der Art und Weise, in der sich diese Entitäten verhalten. Durch diese Informationen entsteht ein Plan, dessen Einzelheiten durch reife wissenschaftliche Forschung erklärt werden. Und da die Natur viel zu komplex und vielfältig ist, um auf gut Glück erforscht zu werden, ist dieser Plan genauso wichtig für die kontinuierliche Weiterentwicklung der Wissenschaft wie Beobachtung und Experiment (Kuhn 1967, S. 149).

Für einen Einbezug von Erkenntnissen über sich verändernde Naturbedingungen in die Sozialwissenschaft gibt es bereits Modellierungen. Der Begriff der Transformationsforschung wurde vom wissenschaftlichen Beirat globale Umweltveränderungen WBGU in seinem Bericht 2011 angeführt, um die Notwendigkeit zu unterstreichen, dass Wissenschaft und Forschung sich der multiplen Veränderungen, auch der Veränderungen der Naturbedingungen, annehmen, um die „bevorstehende Gestaltungsaufgabe der Transformation“, unter anderem die Anpassung von sozialen Strukturen an diese Veränderungen, zu unterstützen (WBGU 2011, S. 374). Ein Zusammenwirken von Sozial- und Naturwissenschaften wird in diesem Zusammenhang als so wichtig wie schwierig hervorgehoben:

Wichtig ist hier auch die Einbeziehung ingenieurwissenschaftlicher Expertise, die eine fundierte Abschätzung jeweiliger technologischer Potenziale und Implikationen abgeben kann, sowie die Beteiligung der Naturwissenschaften, welche Wechselwirkungen gesellschaftlicher Entwicklungspfade mit der Biosphäre zu analysieren helfen (WBGU 2011, S. 351).

Transformationsforschung ist transdisziplinäres Arbeiten. Sie impliziert aber noch mehr und setzt sich schon bei der Definition von Fragen von einem hegemonialen Wissenschaftsverständnis ab, nach dem Themen mit Blick auf das geltende Paradigma bestimmt werden. In der Transformationsforschung stehen mit Beteiligten definierte gesellschaftliche Problemlagen im Vordergrund (Antoni-Komar et al. 2017). Davon ausgehend sucht und analysiert sie handlungsorientierte Lösungsansätze, um Zielwissen zu erarbeiten und konkrete Veränderungspfade zu entwickeln und zu gestalten. Sie ist demnach gekennzeichnet durch eine Wirkungsorientierung. Dazu integriert dieser Ansatz verschiedene Wissensdimensionen: Zum einen Wissen über den Ist-Zustand, also Systemwissen, das zu generieren als Bestandteil jeglicher Wissenschaft angesehen werden kann. Zum zweiten sucht Transformationsforschung nach Wissen über den gewünschten Zustand, also Zielwissen (Hirsch Hadorn und Wölfing Kast 2022). Hier zeigt sich die normative Ausrichtung dieses Ansatzes: Es soll eine Zustandsveränderung erreicht werden.

Ausgangspunkte der Transformationsforschung sind somit eine Problemwahrnehmung und die Feststellung eines systematischen Bedarfs an Veränderung; sie hat eine normative Ausrichtung. Sie arbeitet mit einer starken Setzung, die mit jeweils herrschenden Regeln und Verhältnissen in Widerspruch geraten muss – denn sie impliziert die Infragestellung dieser Regeln und Verhältnisse.

Blühdorn et al. haben Mechanismen identifiziert, die verhindern, dass wissenschaftliche Erkenntnisse, auch und gerade der Transformationsforschung, zu einer effektiven Nachhaltigkeitspolitik führen. In seiner Beschreibung einer „Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit“ beschreibt Blühdorn die enorme Diskrepanz zwischen dem gut belegten Wissen über ökologische Folgen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise und den getroffenen politischen Maßnahmen (Blühdorn et al. 2020, S. 84–86). Er führt aus, dass Nachhaltigkeitspolitik bis heute wesentlich verstanden und umgesetzt wird als eine Politik der ökologischen Modernisierung, die die auftretenden ökologischen Schädigungen auffangen und überwinden soll. Die grundsätzlichen Versprechen der Moderne und die angelegten Pfade zu ihrer Einlösung stehen in solcher Politik nicht infrage. Angesichts der aufgerufenen politischen Maßnahmen und des Beitrags von Politik, die ökologischen Probleme Klimakrise und Biodiversitätsverlust aufzuhalten, kann man seiner Analyse nur zustimmen.

Bisherige Ansätze soziologischer Forschung haben, so muss man angesichts der Sachlage konstatieren, nicht wesentlich zu einer Nachhaltigkeitstransformation beigetragen, trotz des vorhandenen Wissens über das Ausmaß der gesellschaftlichen Bedrohung. Jedoch kann Soziologie dazu beitragen, die erforderlichen Verbindungen herzustellen zwischen dem Wissen über Degradation und Grenzen ökologischer Belastbarkeit einerseits und der politischen Gestaltung sozial-ökologischer Rahmenbedingungen andererseits.

Für eine solche Soziologie der Nachhaltigkeit, um Nachhaltigkeit als Aufgabe ernst zu nehmen, sind die oben diskutierten Grundbegriffe neu zu denken. Dass Menschen oder Menschenkollektive vernünftig handeln, ist mehr Hoffnung als Realität. Lebewesen wollen leben, Vernunft kann dabei helfen, Vernunft steuert aber nicht. Die Dominanz nicht-nachhaltiger Gesellschaften stellt dann für eine Soziologie der Nachhaltigkeit folgenden Problemzusammenhang in den Mittelpunkt: Wie können Gesellschaften lernen, die planetaren Grenzen einzuhalten, obwohl die Trieb- und Willensimpulse von Menschen dem entgegenstehen? Eine solche Frage zu stellen bedeutet auch, dass eine Soziologie der Nachhaltigkeit mit diesem Werturteil beginnen muss.