1 Einleitung

Viele unserer Konsummuster und unsere Art zu wirtschaften haben einen negativen Einfluss auf die Umwelt. Neben einem größeren Bewusstsein für das Verursachen von Müll und den steigenden Verbrauch unterschiedlichster Ressourcen hat sich insbesondere das Klimabewusstsein zuletzt deutlich geschärft. Dies schlägt sich auch beim Einkaufen nieder. So kann man beim Gang in den Supermarkt sämtliche Produkte finden – von Windeln über WC-Reiniger und Wachsmalstiften, bis hin zu Avocados, abgepacktem Hack und Almkäse –, die als „klimaneutral“ verkauft werden. Über den Klimaschutz hinaus erhoffen sich Unternehmen durch dieses Werbeversprechen Wettbewerbsvorteile.

Doch solche Klimaneutralitätsbekundungen sind nicht auf einzelne Produkte aus dem Supermarkt begrenzt. Sie sind auch in anderen Wirtschaftsbereichen und mit Bezug auf ganze Unternehmen zu finden. Die Deutsche Bahn und Amazon etwa wollen 2040 klimaneutral sein (Deutsche Bahn o.J.; Amazon o.J.). Seit der internationalen Verabschiedung des Pariser Klimavertrages im Jahr 2015 haben immer mehr Unternehmen Pläne vorgelegt, wie sie in Zukunft klimaneutral werden sollen (Black 2021). Der Zeithorizont ist hierfür meist bis 2050 – in Anlehnung an die Ziele des Klimavertrages, um die globale Erwärmung auf deutlich unter 2°C zu begrenzen (UNFCCC 2016). Mitunter bezeichnen sich einige Unternehmen und Organisationen bereits heute als klimaneutral.

Gemeinsames Element der Klimaneutralität von Unternehmen ist der Ausgleich von CO2-Emissionen, auch Offsetting genannt. Klimaschutzprojekte, die außerhalb der Wertschöpfungskette der Unternehmen liegen, wie z. B. das Aufforsten eines Waldes oder der Ausbau von Windenergie, sparen CO2 ein oder entziehen es der Atmosphäre. Sogenannte CO2-Zertifikate bescheinigen dann diese Einsparungen oder Reduktionen. Standardmäßig steht hier ein Zertifikat für eine vermiedene oder reduzierte Tonne CO2. Unternehmen können diese Zertifikate auf dem freiwilligen Kohlenstoffmarkt (Voluntary Carbon Market – VCM) erwerben, um ihre Emissionen auszugleichen. Aufgrund fehlender Regulierungen ist der VCM wenig transparent. Bereits bei den Preisen für die Zertifikate besteht eine große Spannbreite.

Während einzelne Unternehmen und private Konsument*innen zum Teil Preise von um die 20 € pro CO2-Zertifikat zahlen, können diese auch zu deutlich geringeren Preisen erworben werden. Einer Studie zufolge lag der Preis pro Zertifikat im Jahr 2020 bei unter 3 US-$ (Donofrio et al. 2021, S. 5). Diese Preise sind um ein Vielfaches niedriger als jene Kosten, mit denen die Unternehmen im Europäischen Emissionshandelssystem konfrontiert sind: Hier wurden Verschmutzungsrechte zuletzt für über 100 € gehandelt. Betrachtet man die sozialen und umweltbezogenen Folgekosten der Emissionen, so liegen diese nochmal deutlich höher: Für das Jahr 2021 hat das Umweltbundesamt diese auf 201 €/t CO2 in Deutschland beziffert (Umweltbundesamt 2021). Neben der Gesamtmenge der abgenommenen Zertifikate sind die Art der zugrundeliegenden Klimaschutzprojekte und deren Beiträge zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals – SDGs) der Vereinten Nationen bedeutende Einflussfaktoren der Zertifikatspreise auf dem VCM.

Die Logik der auf CO2-Kompensation beruhenden Klimaneutralität scheint auf den ersten Blick einleuchtend, effektiv und einfach zu kommunizieren. Ein Unternehmen gleicht nicht vermiedene Restemissionen durch den Zukauf von CO2-Zertifikaten aus und kann so verkünden, klimaneutral zu sein. Problematisch werden diese Bekundungen aber (spätestens) dann, wenn die erworbenen Kompensationszertifikate keine hohe Qualität aufweisen, z. B. wenn nicht gesichert ist, dass das gebundene CO2 in einem aufgeforsteten Wald in einigen Jahren durch Rodungen nicht wieder freigesetzt wird. Ein solcher Umstand kann zu mehr Emissionen führen, insbesondere dann, wenn potentielle Reduktionsmaßnahmen innerhalb der eigenen Wertschöpfungskette, mit Blick auf die vermeintlich einfachere und meist günstigere Kompensation, nicht umgesetzt werden. Die Gefahr, dass die Möglichkeit der CO2-Kompensation die eigenen Reduktionen in den Hintergrund rücken lässt ist ein prominenter Kritikpunkt am VCM und dessen Rolle bei der Umsetzung von Reduktionszielen. Die jüngsten Veröffentlichungen, die besagen, dass bei großen Mengen gehandelter CO2-Zertifikate die Wirkung der dahinterliegenden Klimaschutzprojekte überschätzt wurde, fachen diese Debatte weiter an und zeigen die Herausforderungen von Aussagen über Klimaneutralität nochmals auf (Greenfield 2023).

Diese Analyse erläutert die bisherige Funktionsweise des globalen Kohlenstoffmarkts und beleuchtet dessen Entstehung. Es wird nachgezeichnet, wie die internationale Klimapolitik, und insbesondere der Paradigmenwechsel des Pariser Klimavertrags, den VCM beeinflusst. Der Beitrag macht deutlich, warum der VCM durch den Pariser Klimavertrag, trotz tendenziell steigender Nachfrage, zunehmend weniger Zertifikate ausschütten kann und welche Aspekte der VCM berücksichtigen muss, um qualitativ hochwertige Zertifikate generieren und so effektiven Klimaschutz betreiben zu können. Der Beitrag endet mit einem Ausblick auf einen alternativen Ansatz, welcher die (strukturellen) Schwachstellen der bisherigen CO2-Kompensation und die Klimaneutralitätsbekundungen überwinden kann.

2 Die Entstehung des globalen Kohlenstoffmarktes und seine Funktionsweise

Derzeit existieren zwei Typen des globalen Kohlenstoffmarktes: Der zwischenstaatliche und der freiwillige Markt (VCM).Footnote 1 Beide Märkte haben sich parallel entwickelt, beeinflussen sich jedoch gegenseitig und eine klare Abgrenzung wird zunehmend schwieriger.

Der zwischenstaatliche Markt ist das Ergebnis internationaler Klimapolitik und soll zur Erreichung international ausgehandelter Klimaschutzziele beitragen. Dieser Markt hat seine Anfänge im Kyoto-Protokoll, welches 1997 auf der dritten Vertragsstaatenkonferenz des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (engl. United Nations Framework Convention on Climate Change – UNFCCC) verabschiedet wurde und 2005 in Kraft trat. Das Kyoto-Protokoll stellt den weltweit ersten völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zur Eindämmung des Klimawandels dar. Dieser verpflichtet die in Annex B des Protokolls aufgeführten Staaten, hauptsächlich die Industrieländer der OECD und Osteuropas, zur Minderung ihrer Emissionen. EntwicklungsländerFootnote 2 hatten keine Auflagen oder Reduktionsziele und Emissionen konnten, mit Sicht auf die enge Verbindung zwischen CO2-Emissionen und wirtschaftlicher Entwicklung, weiter zunehmen.

Mit dem Kyoto-Protokoll wurden die sogenannten flexiblen Mechanismen eingeführt, die den verpflichteten Staaten zu mehr Flexibilität bei der Erreichung ihrer Klimaschutzziele verhelfen sollten. Neben dem direkten zwischenstaatlichen Handel, welcher aufgrund politischer Widerstände de facto keine Bedeutung erlangte, führten die Vertragsstaaten zudem die sogenannten projektbasierten Mechanismen ein (Sterk und Arens 2010): die Joint Implementation (JI) und den Clean Development Mechanism (CDM). Bei beiden Mechanismen geschieht die Kooperation auf der konkreten Projektebene von Klimaschutzmaßnahmen. Während JI die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen in Staaten mit Kyoto-Verpflichtungen ermöglichte, konnten unter dem CDM Projekte und Programme in Ländern implementiert werden, die keine Verpflichtungen unter dem Kyoto-Protokoll eingegangen waren. Durch diese flexiblen Mechanismen eröffnete sich den verpflichteten Staaten die Möglichkeit, die Minderung nicht nur im eigenen, sondern auch in einem Drittland zu erreichen. Insbesondere mit dem CDM, unter dem mittlerweile knapp 8000 Klimaschutzaktivitäten registriert wurden, konnten erste wichtige praktische Erfahrungen gesammelt werden (UNFCCC 2023).

Parallel dazu hat sich in den frühen 2000er-Jahren der VCM entwickelt. Dieser wird von einem Mix aus nichtstaatlichen Organisationen und Unternehmen aus dem privaten Sektor strukturiert. Die Regeln und Standards des zwischenstaatlichen Marktes sind nicht bindend für den VCM. Allerdings hat der zwischenstaatliche Markt aufgrund der Einbettung in das Klimaregime der Vereinten Nationen eine große Strahlkraft. So beeinflussen die internationalen Klimaverhandlungen und die daraus resultierenden Regeln und Dynamiken auch den VCM und seine Akteure.

Ein mittlerweile etablierter Akteur für die Zertifizierung von Klimaschutzprojekten ist etwa der Gold Standard. Dieser wurde 2003 vom WWF und weiteren internationalen NGOs mit dem Ziel gegründet, Projekte zu identifizieren, die Treibhausgase reduzieren, ein hohes Maß an Umweltintegrität aufweisen und zur nachhaltigen Entwicklung beitragen. Darüber hinaus haben sich in der Zwischenzeit weitere Standards gebildet, die definieren, was qualitativ hochwertige CO2-Zertifikate sind. Eine häufige Unterscheidung zwischen den Standards ist u. a. die Frage, welche Art von Klimaschutzprojekten überhaupt erst in den Standard aufgenommen werden. Aber auch die Durchführungsvorgaben unterscheiden sich und die Standards setzen bisweilen unterschiedliche Schwerpunkte. Während beispielsweise der Plan Vivo Standard als Nischenstandard nur für Land- und Forstwirtschaftsprojekte anwendbar ist, legt der Gold Standard ein besonderes Augenmerk auf die Nachhaltigkeitswirkung von Maßnahmen in unterschiedlichsten Sektoren.

Der VCM ist nicht ausschließlich für Unternehmen und andere Organisationen nutzbar. Auch Privatpersonen können auf dem Markt CO2-Zertifikate von Anbietern erwerben. So reichen die Motivationen auf dem VCM zu agieren von ethischen Erwägungen bis zur Erfüllung von Corporate Social Responsibility-Richtlinien und Werbezwecken. Letztere, gepaart mit Zertifikaten, die auf zweifelhaften und unambitionierten Klimaschutzmaßnahmen fußen, sind oft Einfallstor für Greenwashing-Vorwürfe gegenüber Unternehmen.

3 Der Paradigmenwechsel

Im Jahr 2015 ist es den Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention in Paris gelungen, einen völkerrechtlich bindenden Vertrag mit globaler Reichweite zu schließen. Der Pariser Klimavertrag markiert einen Wendepunkt der internationalen Klimapolitik und hat auch die Rahmenbedingungen für die marktbasierte Kooperation zwischen Staaten maßgeblich verändert. Auch die Voraussetzungen, unter denen sich der VCM entwickelt hat und die seine Funktionsweise bestimmen, haben sich grundlegend gewandelt. Dazu beigetragen haben vor allem der transformative Anspruch und die universelle Reichweite des Pariser Klimavertrags.

Der transformative Anspruch des Klimavertrages ist in dessen langfristigen Zielen implizit enthalten. Das Ziel, die globale Erwärmung auf „deutlich unter 2 °C über dem vorindustriellen Niveau“ (UNFCCC 2016, Art. 2.1a des Übereinkommens von Paris) zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C zu begrenzen, stellt eine Spezifizierung und Neuinterpretation des Ziels des Klimarahmenkonvention dar, nämlich die Vermeidung des gefährlichen Klimawandels. Damit macht das langfristige Ziel des Pariser Klimavertrages deutlich: Jede weitere Erderwärmung ist gefährlich. Eine schrittweise Reduktion der Emissionen ist nicht ausreichend, Treibhausgasemissionen müssen gänzlich vermieden werden. Nicht nur die Langfristziele des Klimavertrages spiegeln den transformativen Anspruch wider. Auch die Klimaziele, die die Vertragsstaaten mit ihren Nationally Determined Contributions (NDCs) einreichen, müssen ambitioniert sein: Der im Vertrag angelegte Mechanismus sieht vor, dass die von den Vertragsstaaten alle fünf Jahre festgelegten NDCs nicht hinter den bis dahin geltenden Zielen zurückfallen dürfen und die höchstmögliche Ambition widerspiegeln müssen (UNFCCC 2016, Art. 4.3 des Übereinkommens von Paris).

Diese Ambitionssteigerung stellt sowohl den zwischenstaatlichen Kohlenstoffmarkt als auch den VCM vor ein grundsätzliches Dilemma: Wie lässt sich unter diesen Umständen sicherstellen, dass die unterstützenden Maßnahmen über das hinausgehen, was Staaten ohnehin machen müssen, sie also „zusätzlich“ sind? Die Gewährleistung dieser Zusätzlichkeit ist eine wesentliche Anforderung an Klimaschutzmaßnahmen, deren Minderungsleistungen zur CO2-Kompensation genutzt werden. Doch werden damit nicht nur höhere Anforderungen an Klimaschutzmaßnahmen gestellt, sondern auch die Legitimation der Kompensation als Instrument des Klimaschutzes wird zunehmend in Frage gestellt. Denn wenn alle (staatlichen) Akteure nach maximaler Ambition streben, bleibt dann noch Raum für CO2-Kompensation?

Ein zweites Merkmal des Pariser Klimavertrages, welches einen grundlegenden Wandel für die internationale Klimapolitik im Allgemeinen und den globalen Kohlenstoffmarkt im Besonderen nach sich zieht, ist die universelle Reichweite des Vertrags: Er verpflichtet erstmals alle Vertragsstaaten zum Klimaschutz und zur Einreichung eines NDC – auch Entwicklungsländer. Die Staaten sind völkerrechtlich nicht dazu verpflichtet, ihre NDCs zu erreichen, sie müssen jedoch Klimaschutzmaßnahmen unternehmen, die zum Erreichen der erklärten Klimaschutzziele beitragen und zudem regelmäßig über den Fortschritt der Umsetzung berichten.

Durch die globale Reichweite unterscheidet sich der Vertrag grundlegend vom Kyoto-Protokoll, welches, wie oben beschrieben, im Wesentlichen nur Klimaschutzziele für die Industriestaaten vorsieht. Durch die geringe Reichweite des Kyoto-Protokolls war in der Vergangenheit ein Großteil der Weltwirtschaft unreguliert, das sogenannte Uncapped Environment. In der Vergangenheit stellte dieses Uncapped Environment die Hauptquelle für CO2-Zertifikate dar, sowohl für den verpflichtenden als auch den freiwilligen Kohlenstoffmarkt. Für Staaten ohne internationale Klimaschutzziele war es besonders attraktiv, als Gastgeber von Klimaschutzprojekten zu fungieren. Denn das Land profitierte von den positiven Nachhaltigkeitsbeiträgen, die mit den meisten Klimaschutzprojekten einhergehen. Zugleich konnte sich der Export der CO2-Minderungen nicht negativ auf die Umsetzung nationaler Klimaziele auswirken. Diese Situation hat sich im Rahmen des Pariser Vertrages grundlegend geändert, da nun auch ehemalige Gastgeberländer dazu verpflichtet sind, NDCs zu entwickeln und zu kommunizieren. Das Uncapped Environment wird damit deutlich kleiner sein als in der Vergangenheit und zukünftig weiter schrumpfen, da alle Vertragsstaaten zu wirtschaftsweiten NDCs übergehen sollen, wie es der Pariser Klimavertrag vorsieht (UNFCCC 2016, Art. 4.4 des Übereinkommens von Paris in). CO2-Zertifikate werden somit zukünftig zwangsläufig in Wirtschaftsbereichen generiert werden müssen, die eigentlich bereits von nationalen Klimaschutzzielen abgedeckt sind. Dies stellt insbesondere den VCM vor große Herausforderungen.

4 Internationale Kooperation unter Art. 6

In Art. 6 des Pariser Vertrages sind die Kooperationsmechanismen als rechtliche Basis für den marktbasierten und zwischenstaatlichen Klimaschutz verankert (UNFCCC 2016, Art. 6 des Übereinkommens von Paris). Konkrete Inhalte des Artikels wurden seit der Klimakonferenz von Paris immer weiter ausformuliert. Nach jahrelangen Verhandlungen wurde auf der Klimakonferenz in Glasgow 2022 das Regelwerk für Art. 6 verabschiedet. Dadurch liegen nun detaillierte Vorgaben für drei unterschiedlichen Ansatzpunkte zur internationalen Kooperation vor. Alle Ansatzpunkte erfüllen dabei den Anspruch der Ambitionssteigerung und fördern eine nachhaltige Entwicklung sowie die Umweltintegrität.

Unter Art. 6.2 sind direkte zwischenstaatliche Kooperationen geregelt. Dabei können Minderungsmaßnahmen in einem Land erbracht, aber an das Klimaziel von einem anderen Land angerechnet werden. Voraussetzung dafür ist ein transparentes Verfahren und eine konkrete Buchhaltung der Minderungsleistung. Doppelzählungen werden hier vom Regelwerk untersagt. Eine internationale Aufsicht für diese Kooperation ist nicht vorgesehen, dafür gelten aber umfassende Berichts- und Bilanzierungsvorschriften. So muss etwa dargestellt werden, wie die Aktivität mit der nachhaltigen Entwicklung innerhalb des Gastgeberlandes vereinbar ist und wie negative Auswirkungen vermieden und (Menschen‑)Rechte geachtet werden.

Als Mechanismus zur Vermeidung von Treibhausemissionen und zur Förderung nachhaltiger Entwicklung wird der Art. 6.4 geführt. Dieser ist ein Nachfolger des CDM aus dem Kyoto-Protokoll. Auch hier können Minderungsleistungen zwischen den Ländern transferiert werden, wie unter Art. 6.2 beschrieben. Im Gegensatz zur zwischenstaatlichen Kooperation, bei der lediglich gemeinsame Leitlinien gelten, wird der Mechanismus von Art. 6.4 von dem sog. Supervisory Body, einem durch die Vertragsstaatenkonferenz beauftragten Gremium, überwacht. Zudem wurden Regeln, Vorgehen und Verfahren bestimmt, die bei der Durchführung von einem Klimaschutzprojekt beachtet werden müssen. Dazu gehört auch ein unabhängiger Beschwerdemechanismus, der auf soziale und ökologische Auswirkungen einer Minderungsaktivität reagieren soll. Eine Besonderheit von Art. 6.4 ist, dass auch nichtstaatliche Akteure zur Teilnahme an Klimaschutzaktivitäten bewegt werden sollen. Der Mechanismus muss nicht nur zur Steigerung der Ambition der beteiligten Staaten führen. Zusätzliches Ziel ist es, die Bilanz der globalen Treibhausgase zu reduzieren. So muss beim ersten Transfer der ausgestellten Zertifikate ein Anteil von 2 % gelöscht werden. Darüber hinaus wird ein Beitrag zur Unterstützung besonders verwundbarer Staaten durch die Finanzierung eines globalen Anpassungsfonds geleistet.

Der dritte Ansatzpunkt unter Art. 6 ist gelistet unter 6.8 und beschreibt nicht-marktbasierte Ansätze. Wie der Name deutlich macht, finden marktbasierte Klimaschutzinstrumente hier keine Anwendung. Neben dem Regelwerk zu Art. 6 wurde in Glasgow beschlossen, dass sich ein Ausschuss für nicht-marktbasierte Ansätze finden und das Arbeitsprogramm für Art. 6.8 bis 2027 umsetzen soll. In diesem Zuge wird die Maßnahme zur Förderung der nicht-marktbasierten Ansätze in bestimmten Schwerpunktbereichen beschrieben. Erste Ergebnisse des Ausschusses identifizieren Anpassung, Resilienz und Nachhaltigkeit, Minderungsmaßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels und als Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung sowie Entwicklung nachhaltiger Energiequellen. Weitere Schwerpunkte können noch dazu kommen.

5 Die Gefahr der Doppelzählung und ihre Folgen

Sogenannte Doppelzählungen gehören mit zu den größten technischen Herausforderungen auf dem globalen Kohlenstoffmarkt. Wenn ein Klimaschutzprojekt in einem Wirtschaftsbereich umgesetzt wird, das von einem nationalen Klimaschutzziel abgedeckt ist, trägt das Projekt (zumindest theoretisch) automatisch zur Umsetzung dieses Ziels bei. Die CO2-Minderungen des Projekts werden auf das nationale Ziel angerechnet. Wenn dieselben Minderungen auch auf der Nachfrageseite durch den Investor der Minderungsmaßnahme (ein anderes Land oder ein privater Akteur) geltend gemacht werden, kommt es zu einer doppelten Inanspruchnahme, die als eine Form der Doppelzählung angesehen wird (Hood et al. 2014, S. 19; Schneider und La Hoz Theuer 2018, S 389). Bei der marktbasierten Kooperation zwischen Staaten führt die doppelte Inanspruchnahme unmittelbar zu einer Doppelzählung der CO2-Minderungen: Die Minderungen tragen zum einen zur Reduktion der Emissionen des Gastgeberlandes bei, während die entsprechenden Zertifikate zugleich von dem Käuferland zur NDC-Umsetzung verwendet werden. Eine solche zweifache Anrechnung hätte zur Folge, dass beide Staaten ihre Klimaziele auf dem Papier erreichen, während die Treibhausgasminderungen dem globalen Klima nur einmal zugutekommen. Die Integrität des Pariser Klimavertrages würde somit untergraben. Wenn die CO2-Minderungen hingegen für freiwillige Zwecke verwendet werden, sind die Auswirkungen der doppelten Inanspruchnahme indirekter. Allerdings könnte auch hier ein Anstieg der globalen Emissionen die Folge sein, beispielsweise wenn freiwillige Klimaschutzmaßnahmen das Gastgeberland dazu veranlassen, eigene Klimaschutzmaßnahmen zurückzufahren. Und auch die Emissionen in dem Land, in dem der Käufer ansässig ist, könnten ansteigen, weil die Nachfrage nach klimaschädlichen Produkten und Dienstleistungen steigt, wenn diese als klimaneutral vermarktet werden (Kreibich und Hermwille 2021, S. 944–945).

Bei der zwischenstaatlichen Kooperation unter Art. 6 schließt der Pariser Klimavertrag die Doppelzählung explizit aus (UNFCCC 2016, Art. 4.13 und Art. 6.2 des Übereinkommens von Paris). Das auf der Klimakonferenz in Glasgow 2021 verabschiedete Regelwerk für Art. 6 sieht vor, dass die an einer Kooperation beteiligten Staaten hierfür buchhalterische Anpassungen ihrer berichteten Emissionsbilanzen durchführen (sog. corresponding adjustments): Während der Käufer seine Bilanz nach unten korrigiert, passt der Verkäufer seine Bilanz nach oben an, indem er die Menge an exportierten Minderungen in Form von Emissionen auf seine gemessenen Emissionen aufschlägt.

Werden die CO2-Zertifikate zur Erfüllung freiwilliger Ziele im Rahmen des freiwilligen Kohlenstoffmarkts genutzt, ist eine solche Anpassung der Emissionsbilanz nicht zwingend vorgeschrieben. Es besteht jedoch die Möglichkeit, den Ansatz auch bei der Nutzung von CO2-Zertifikaten für freiwillige Ziele zu nutzen, indem der Verkäufer die Minderungen explizit für diese Verwendung autorisiert. Mit dieser Öffnung ermöglicht das Art. 6‑Regelwerk dem freiwilligen Kohlenstoffmarkt, die doppelte Inanspruchnahme bei der freiwilligen Nutzung der Zertifikate zu verhindern. Es besteht allerdings keine Verpflichtung, dies zu tun. Das internationale Klimaregime reguliert den freiwilligen Markt nicht, sondern gibt diesem lediglich die Möglichkeit, das buchhalterische Verrechnungssystem zu nutzen. Inwiefern der VCM dieses Instrument nutzen wird, wird maßgeblich von dessen privater Governance abhängen. Diese zeichnet sich durch eine große Vielfalt und stark gegensätzliche Positionen ab, die sich lange Zeit in zwei Lager fassen ließen:

Das eine Lager wird angeführt von dem Verband ICROA, der die Interessen der größten Anbieter von CO2-Zertifikaten vertritt, und Verra, der Organisation, die für den zahlenmäßig größten Zertifizierungsstandard Verified Carbon Standard (VCS) verantwortlich zeichnet. Das Lager sprach sich bisher gegen eine verpflichtende Durchführung von Corresponding Adjustments bei der Nutzung von CO2-Zertifikaten für freiwillige Ziele aus und verwies dabei unter anderem auf die Umsetzungsherausforderungen. Diese würden dem Wachstum des freiwilligen Kohlenstoffmarkts und einem entsprechenden Beitrag zum Klimaschutz im Wege stehen. Auch sei es für das Klima unerheblich, ob das CO2-Zertifikat mit einer solchen Anpassung versehen sei oder nicht (für einen Überblick über die zentralen Argumente siehe Brander et al. 2022).

Das Lager der Befürworter von Corresponding Adjustments versammelte Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler*innen, aber mit dem Gold Standard auch den zweitgrößten privaten Zertifizierungsstandard des freiwilligen Kohlenstoffmarktes hinter sich. Zentrales Argument für die Umsetzung von Corresponding Adjustments bei der Anrechnung von CO2-Zertifikaten auf freiwillige Ziele wie Klimaneutralität ist die Auffassung, dass die Zertifikate über bereits gemachte Zusagen und Zielsetzungen hinausgehen müssen, um tatsächlich für einen Ausgleich von Emissionen sorgen zu können. CO2-Zertifikate, die nicht mit Corresponding Adjustments versehen sind, tragen hingegen zur Umsetzung der bereits beschlossenen Klimaziele in den Gastgeberländern bei. Dies wird als wichtiger Beitrag anerkannt, insbesondere angesichts der klaffenden Lücke bei der Klimafinanzierung. Eine Förderung solcher Projekte mittels Zertifikate, die zum Ausgleich von Emissionen genutzt werden, soll jedoch nicht möglich sein. Unternehmen, die diese Zertifikate kaufen, sollen damit nicht ihre eigenen Emissionen ausgleichen können, sondern einen Beitrag zur Umsetzung von Klimazielen leisten. Dieser sogenannte Contribution Claim-Ansatz wird im letzten Kapitel näher dargestellt.

Nachdem sich die Lager jahrelang gegenüberstanden und keine Lösung in Sicht schien, könnte nun ein Signal der internationalen Ebene die Debatte aus der Sackgasse führen. Bereits auf der Klimakonferenz in Glasgow 2021 hatten die Vertragsstaaten beschlossen, dass es unter dem internationalen Marktmechanismus nach Art. 6.4 des Pariser Klimavertrages sowohl Einheiten mit Corresponding Adjustments als auch welche ohne diese Anpassungen geben solle. Die möglichen Nutzungsoptionen dieser nichtangepassten Einheiten (non-adjusted units) wurde auf der Klimakonferenz in Sharm-el Sheik im Dezember 2022 zu einem Schlüsselthema der Verhandlungen zum Art. 6.4-Mechanismus. Im Beschluss werden diese Einheiten als Mitigation Contribution A6.4ER bezeichnet. Bezüglich der möglichen Nutzungsoptionen wird eine Verwendung als Ausgleichszertifikat, beispielsweise zur Umsetzung von freiwilligen Klimaneutralitätszielen, nicht erwähnt. Explizit genannt und durch die Namensgebung unterstrichen ist hingegen deren Verwendung im Rahmen der ergebnisbasierten Klimafinanzierung, mit dem Zweck, einen Beitrag zur Senkung der Emissionsniveaus in den Gastgeberländern zu leisten, was dem Contribution Claim-Ansatz entspricht.

Damit schafft die internationale Ebene nicht nur Klarheit über die mögliche Verwendung nicht autorisierter A6.4ER, sondern sendet auch ein klares Signal an den freiwilligen Kohlenstoffmarkt: Einheiten, die nicht mit Corresponding Adjustments versehen sind, sollten nicht zu Kompensationszwecken von Unternehmen verwendet werden, die Klimaneutralität oder ähnliche Aussagen treffen möchten. Die gewählte Terminologie der Entscheidung stützt das Contribution Claim-Modell. Anstatt verbleibende Emissionen mithilfe von Emissionsgutschriften auszugleichen und zu behaupten, klimaneutral zu sein, unterstützen Unternehmen und andere Organisationen Klimaschutzmaßnahmen außerhalb ihrer Wertschöpfungskette und leisten somit einen Beitrag zum globalen Klimaschutz. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Signal von der internationalen Regierungsebene auf den VCM auswirken wird. Es ist jedoch bereits eine Öffnung gegenüber alternativen Ansätzen erkennbar.

6 Der Contribution Claim als alternativer Ansatz für ambitionierten Klimaschutz

Die oben skizzierte Entwicklung verdeutlicht, dass sich der VCM in einem Spannungsfeld zwischen öffentlicher Regulierung und privater Governance bewegt. Durch die breite Etablierung der CO2-Kompensation unter dem Kyoto-Protokoll schaffte die internationale Politik die Möglichkeit, die CO2-Kompensation auch zur Umsetzung von freiwillig gesetzten Zielen zu etablieren. Der hierdurch entstandene VCM operierte in der vom Kyoto-Protokoll geschaffenen Welt und die durch private Governance etablierten Regeln orientierten sich an den Rahmenbedingungen des Protokolls.

Der VCM wurde in eine tiefe Sinnkrise gestürzt, als sich die Rahmenbedingungen der internationalen Klimapolitik durch die Verabschiedung des Pariser Klimavertrages grundlegend wandelten. Die private Governance des weitgehend unregulierten VCM war über Jahre hinweg nicht in der Lage, die Regeln des Marktes diesen neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Somit droht eine Fragmentierung des VCM, die dessen Glaubwürdigkeit weiter untergraben könnte. Die Beharrungskräfte und Pfadabhängigkeiten jedoch sind immens. Nur sehr zögerlich lassen einzelne Akteure das altbekannte Kompensationsmodell hinter sich und öffnen sich schrittweise einem neuen Ansatz, der nicht die Klimaneutralität einzelner Organisationen zum Ziel hat, sondern die globale Klimaneutralität in den Mittelpunkt stellt. Die jüngst von der internationalen Ebene ausgesendeten Signale könnten die Dynamik dieser Entwicklung intensivieren.

Es gilt nun, ein gemeinsames Verständnis für ein solches Zukunftsmodell zu entwickeln und dessen Umsetzung voranzutreiben. Damit soll nicht nur der VCM an die neuen Rahmenbedingungen des Pariser Vertrages angepasst und somit zukunftsfähig gemacht werden. Vielmehr bietet ein solches Modell auch Akteuren außerhalb des VCM die Chance, von den privaten Mitteln für den Klimaschutz zu profitieren und die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen voranzutreiben. Unternehmen und andere Organisationen wiederum können durch die Nutzung dieses Ansatzes ihrer Verantwortung nachkommen und einen wertvollen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Denn der Beitrag privater Akteure zur Finanzierung des Klimaschutzes ist angesichts des zunehmenden Voranschreitens des Klimawandels sowie der großen Umsetzungs- und Finanzierungslücke von zentraler Bedeutung. Dabei muss klar sein: Im Zentrum der Aufmerksamkeit müssen stets die eigenen Emissionen stehen, denn diese gilt es zu vermeiden und zu reduzieren, um den Pariser Klimavertrag zum Erfolg zu führen.