Bartholomäus Grill, jahrzehntelang Afrika-Korrespondent für Die Zeit, den Spiegel und GEO hat mit seinen Artikeln tausende zitationswürdige Quellen geschaffen. Auch seine Bücher, darunter das bei manchen in den Afrikawissenschaften nicht sonderlich gelittene, weil angeblich zu stereotype Ach, Afrika (Grill 2003), machten ihn für viele in Deutschland zu einem der wichtigsten Vermittler eines aktuellen Afrikabildes.

Als Journalist verfügt Grill über rhetorische Register und Darstellungsformen, die die Analyse der politischen und sozialen Lage einzelner afrikanischer Staaten auch für eine außerfachliche Öffentlichkeit interessant und verständlich machen. Dass er zu schreiben versteht, zeigt sich in seinem neuen Buch einmal mehr. Der von Ferne an Kosellecks paradoxe Formel von der „vergangene[n] Zukunft“ erinnernde Titel Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents ist treffend, weil das Buch für Grill selbst ein „Rechenschaftsbericht“ sein soll. Hat doch der Autor (Jahrgang 1954) fast die Hälfte seines Lebens in Afrika verbracht. Nach seinem Abschied aus dem Berufsleben soll dieses Buch Auskunft nicht allein über Entwicklungen auf dem Kontinent in den vergangenen 10 bis 15 Jahren geben, sondern auch über sein Verhältnis zu Afrika. Dies schließt den kritischen Rückblick darauf ein, wie Grill und andere in der Vergangenheit Afrikas Zukunft imaginierten.

In 17 handlichen Kapiteln betreibt Grill auch, aber nicht nur, eine Gegenwartsdiagnose, die Regionen des afrikanischen Kontinents oder einzelne Staaten analysiert; ebenso aber dessen nichtafrikanische Beobachter*innen und ihre sich wandelnden Diagnosen, ihren Pessimismus, die Hoffnungen, „Besserwissereien“ und ihr „Nichtmehrweiterwissen“ mit einbezieht. So vieles scheint sich zu wiederholen, so vieles scheint schon gesagt zu sein über Hunger und Armut, Kriege, Krisen, Katastrophen und andere (negative) Stichwörter, die mit dem Wort „Afrika“ scheinbar unauflöslich verbunden sind. Insofern mag es empfehlenswert sein, die Lektüre mit Grills letztem, besonders selbstkritischen Kapitel („Von den Schwierigkeiten, über Afrika zu schreiben“) zu beginnen. Er will gegen Legenden, Romantisierungen, Zynismus, Rassismus und Stereotype anschreiben – selbst wenn er bei Interviews lügenden Diktatoren und anderen Kleptokraten gegenübersitzt. Wir erfahren, wie er, der engagierte und um Gerechtigkeit bemühte Journalist, aber einsehen muss, dass auch er nicht frei ist von Stereotypen. Er, der Reporterlegenden wie Ryszard Kapuscinski sein „Vorbild“ nennt (S. 262), wird sich bewusst, wie schwierig es für ihn, den weißen Mann aus Europa, ist, mit den Menschen in Kontakt zu treten; allein schon aus Gründen der sprachlichen Verständigung, die allzu oft nur über die Vermittlung eines – oder gleich mehrerer – Dolmetscher*innen funktionieren kann (oder tatsächlich nicht funktioniert, ohne dass der sprachunkundige Besucher das überhaupt einschätzen könnte). Und er gesteht: „manchmal, wenn ich Opfer der Gewalt und des Elends befragte, kam mir der Beruf des Journalisten unanständig vor“ (S. 269). Für seine gravierenden Fehleinschätzungen des Völkermords in Ruanda 1994, für seine darüber „aus der Ferne“ in Südafrika geschriebenen „unverzeihlichen Texte“ schämt er sich bis heute (S. 108).

Nur weil sich das Buch an eine außerakademische Leserschaft richtet, wird es aber für die zu Afrika arbeitende Fachöffentlichkeit nicht weniger relevant. Grills analytisch scharfsinnige Reportagen etwa über das „schnelle Bevölkerungswachstum“ (S. 158), das „Hirngespinst“ einer „Massenflucht aus Afrika“ (S. 173) oder den „islamistischen Terror“ (S. 204) mögen nicht jede*n in den Afrika- oder Politikwissenschaften zufriedenstellen. Aber sie gewähren doch auf knappem Raum Einsichten, die für die Außen- und Sicherheitspolitik unbedingt beachtenswert sind. Dies ist durchaus anerkannt – so, wenn jüngst der Politikwissenschaftler Rainer Tetzlaff (2018, S. 16, 275) ausdrücklich auf die Relevanz von „Afrika-Journalisten“, darunter auch Grill, für die Forschung verweist. Konkret greift Tetzlaff etwa für die Darstellung der jüngsten Zeitgeschichte Südafrikas (die Korruption des Präsidenten Jacob Zuma) auf Grills Artikel zurück. Und Grill, der seit Jahrzehnten in Kapstadt wohnt, hat auch in seinem neuen Buch viel über den „Aufstieg und Niedergang des Hoffnungslandes Südafrika“ zu berichten (S. 82). Seine Erörterungen über „State capture“ durch eine Clique hoher Funktionäre des ANC (African National Congress), die endemische Korruption, atemberaubende Ignoranz, die „Fettlebe der Neureichen“ (S. 87) in ihren „Prunkvillen“, Armut und Ungleichheit und Gewalt durch Banden und allerhand (europäische) Illusionen über die „Regenbogennation“ sind erschütternd.

Auch sein Kapitel über Nigeria kann man nur als „ernüchternd“ charakterisieren. Es ist die Rede von geschätzten 380 Mrd. US-$, die die nigerianische Kleptokratie dem eigenen Land seit der Unabhängigkeit gestohlen habe (S. 65). Beim Lesen sieht man die sich verziehenden Münder der Afrika-Fachgelehrten förmlich vor sich, wenn sie mit Generalisierungen wie dieser konfrontiert werden: „die nigerianische Politik ist vollkommen hohl und frei von Ideologien. Es geht immer nur um Posten und Pfründe, Macht und Moneten“ (S. 76). Belegt vielleicht Grills eigene Reportage über Nuhu Ribadus Präsidentschaftskandidatur (2009–2011) etwas anderes? Jedenfalls wird offenkundig, dass er von der sich als progressiv verstehenden „Relativiererei“ und „Problem-Beschweigerei“ des Auswärtigen Amts unter Frank-Walter Steinmeier nichts hält (S. 73). Im Übrigen bleibt es der Forschung unbenommen, dem kritisch beobachtenden Zeitgenossen Grill das Gegenteil über die Politik in einzelnen afrikanischen Staaten nachzuweisen. Er selbst fragt zum Schluss – auch die Wissenschaft: „Was wissen wir schon über Afrika?“ (S. 270).

Kurz: Wer zur Politik einzelner Staaten oder Regionen Afrikas oder zur afrikanischen Zeitgeschichte forscht, ist gut beraten einen Blick in Grills Reportagen und insbesondere in dieses Buch zu werfen.