1 Einleitung

Am 24. Februar 2022 ging die Welt unter, an der Europa, der Westen insgesamt und zum Schein auch Russland gemeinsam gebaut hatten. Es sollte eine Welt der einvernehmlich geregelten Souveränität, völkerrechtlich gesicherter Grenzen und des Gewaltverbots sein. Krieg als Instrument der einseitigen, gewaltsamen Änderung der Machtverhältnisse galt als geächtet, ja undenkbar.

Allerdings hatte sich Russland diesem Konsens nur eingeschränkt und unter Vorbehalten angeschlossen. Seine Grenzen in der Moldau, in Georgien und der Ukraine waren strittig und international nicht anerkannt. Erstaunlicherweise hatten Europa und die USA dies völkerrechtliche Ausscheren Russlands zwar unter Protest, aber dennoch de facto akzeptiert. Russland nahm also eine Art geopolitische Sonderrolle als internationaler Paria in Anspruch. Als Nachfolger des Sowjetimperiums wurden Russland Sonderkonditionen eingeräumt, um seine Phantomschmerzen zu lindern. Russland wurde trotz seiner offensichtlich zur Schau getragenen Andersartigkeit als normaler Staat unter Staaten behandelt.

Jedenfalls schien es vor dem 24. Februar 2022 einen Minimalkonsens dahingehend zu geben, dass es die bedenkenlose Zerschlagung ganzer Länder, die Unterwerfung, ja Ausrottung seiner BewohnerFootnote 1, die in der europäischen Geschichte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gang und gäbe gewesen waren, nicht mehr geben würde. Dafür standen die vielen internationalen Friedensorganisationen, mit der UNO an der Spitze, und der humane Fortschrittsglaube im 21. Jahrhundert, der die Untaten früherer Jahrhunderte nicht mehr dulden würde. Inzwischen hat die blutige Realität alle eines Besseren belehrt. Russland hat bedenkenlos den Minimalkonsens verlassen und ist aus der Zivilisation ausgeschieden – nicht ohne eine lügenhafte Scheinbegründung für den Rückfall in die Barbarei zu liefern: Man habe die Russen in der Ukraine vor dem drohenden Genozid durch ukrainische Nationalisten schützen müssen.

Der Einmarsch von Zehntausenden von russischen Soldaten im Morgengrauen des 24. Februar gleichzeitig von Norden, Osten und Süden über die Grenzen der Ukraine war für die meisten Beobachter im In- und Ausland – offenbar einschließlich der ukrainischen Regierung – eine vollständige Überraschung, obwohl die Truppen seit Wochen an den Grenzen zusammengezogen worden waren – angeblich für Manöver. Die allermeisten Fachleute – der Autor eingeschlossen – waren davon ausgegangen, dass es im wohlverstandenen Eigeninteresse Russlands sei, zwar mit dem Säbel zu rasseln, dann aber die politischen Ziele mit politischen Instrumenten, z. B. der Erpressung der Ukraine im Donbas, durchzusetzen, ohne das Risiko einer vollständigen Isolierung Russlands von der gesamten westlichen Welt in Kauf zu nehmen.

Die einzigen, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine vorausgesagt hatten, waren die US-amerikanischen Geheimdienste und in deren Folge die Regierung der USA, die seit November 2021 auch öffentlich immer wieder vor einem Kriegsausbruch warnten (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen et al. 2022, S. 19–23). Wie lässt sich erklären, dass europäische Politik, Medien und Fachleute in weitgehender Eintracht die Augen schlossen und in die Irre gingen? Russland war schließlich kein Land mehr, das sich in vollständiger Isolierung hinter einem Eisernen Vorhang verbarg.

Aber Europa war und ist nicht bereit, das Anderssein Russlands ernst zu nehmen, obwohl Russland seit zwei Jahrzehnten mit zunehmender Lautstärke sein Anderssein betont. Russland unter Putin betrachtet sich als eigenständige und dem Westen überlegene Kultur. Der Westen gilt als dekadent; Liberalismus und Demokratie erscheinen als falsche Fassaden ohne Zukunftsfähigkeit. Ein „missionarisch-imperiales Verständnis von russischer Staatlichkeit“ beherrscht das politische Denken in Russland (Riefer 2020, S. 161).

Im Gegensatz dazu war und ist westliche Politik stolz darauf, nach dem Ende des Kommunismus, Russland „Modernisierungspartnerschaften“ aufzureden, um es auf den Pfad der westlichen Tugenden zu führen und Russland international einzubinden. Es fehlt das Verständnis dafür, dass Russland nicht integriert werden will, sondern sich selbst für das Zentrum einer Integration hält. Ähnliches gilt übrigens für große Teile der islamischen und überhaupt der außereuropäischen Welt, die sich keineswegs für „erlösungsbedürftig“ durch westliche Kultur halten.

Während Europa das postkommunistische Russland bis zum 24. Februar 2022 wahrnahm als Experimentierfeld für die Integration nach Westen, hatte Russland sich längst dafür entschieden, seiner eigenen imperialen Tradition zu folgen und sie zur Grundlage seiner Zukunft zu machen. Das schließt Krieg und Gewaltherrschaft ausdrücklich ein.

2 Der Krieg als ein normales Instrument der Politik

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts galt Krieg in der europäischen Geschichte als ein mehr oder weniger konventionelles Instrument zur Lösung von Machtkonflikten zwischen Staaten. „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, lautete die bekannte Formulierung des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Clausewitz 2008, S. 47). „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (Clausewitz 2008, S. 29). Dabei musste nach seiner Kriegstheorie das Militärische stets der politischen Zielsetzung untergeordnet sein: „denn die politische Absicht ist der Zweck, der Krieg ist das Mittel“ (Clausewitz 2008, S. 47).

Die totalen Kriege und Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben – jedenfalls in der Theorie – zur Ächtung des Krieges generell geführt und zur rechtlichen Festschreibung des Allgemeinen Gewaltverbots der UN-Charta. Auch wenn das Gewaltverbot in der politischen Wirklichkeit ständig verletzt wird, kann die Vision eines Gewaltverzichts einen Beitrag leisten zur Gestaltung einer besseren Zukunft – allerdings unter einer Voraussetzung: dass die Staaten sich zumindest rhetorisch und dem Prinzip nach dazu bekennen. Russland hat sich sogar von der Rhetorik verabschiedet.

Sergej Karaganov, der Vorsitzende des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und einflussreicher Sprecher der Putin-Führung, resümiert die postkommunistische Entwicklung Russlands und seinen jetzigen Standort folgendermaßen: Wir haben „unsere Fähigkeit, Kriege zu führen, […] wiederhergestellt“. Und „wir können aus der heutigen Konfrontation [mit dem Westen] als Sieger hervorgehen“. Denn Russland ist heute „ein Land des Nicht-Westens“ mit einer dem Westen überlegenen autoritären Ordnung. „Dabei zerfallen die westlichen Demokratien […] von alleine“ (Karaganov 2021, S. 15, 22, 25).

Die Fähigkeit, Krieg zu führen, ist aus der Sicht der Putin-Führung die zentrale Errungenschaft des postkommunistischen Reformprozesses, ja dies markiert die Überwindung der Schwächeperiode in der Zeit der untergehenden Sowjetunion und die Erwartung der neuen Weltmachtrolle für das postkommunistische Russland. In der Zukunftsperspektive ist damit jener Tiefpunkt der Geschichte des 20. Jahrhunderts überwunden, den Russlands Präsident Wladimir Putin 2005 auf den Begriff gebracht hatte: Das Ende der Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Putin 2005; eigene Übersetzung).

Die Bereitschaft, Krieg zu führen, und der prioritäre Ausbau der Rüstung seit 20 Jahren markieren allerdings zugleich die Unfähigkeit Russlands zu internationaler Konkurrenz und Innovation in allen anderen Bereichen. Das Land bewegt sich in der sowjetischen Tradition, die lediglich im militärischen Bereich konkurrenzfähig war. Russland betrieb in postkommunistischer Zeit eine „kostengünstige und äußerst effektive Stärkung seines militärischen Potenzials“, die nach Einschätzung Karaganovs „der jahrhundertelangen Dominanz des Westens […] offenbar endgültig das militärische Fundament entzogen hat.“ (Karaganov 2021, S. 22).

Vor dem Hintergrund dieser russischen Selbsteinschätzung erscheint es umso weniger plausibel, dass scheinbar alle Welt von der Invasion in die Ukraine am 24. Februar überrascht war. Tatsächlich ist dies nichts anderes als die Folge der falschen, besonders in Deutschland seit 20 Jahren verbreiteten Perspektive von Russland als einem „normalen“ Land, das nur darauf wartet, vom Westen integriert zu werden.

Im Gegensatz dazu lässt sich die Politik Russlands seit der Machtübernahme Putins lesen als die Vorbereitung auf den Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 (Gordon 2022). Russland hat seit Sommer 1999 – damals war Putin nur Ministerpräsident und erst auf dem Weg zur Präsidentschaft – zahlreiche Kriege geführt und damit die russische Gesellschaft darauf eingestimmt, dass die Wiedergewinnung einer Großmachtrolle ohne Krieg nicht denkbar ist. Im Zentrum standen und stehen die Kriege auf dem Territorium der früheren Sowjetunion, die alle darauf gerichtet sind, die Verluste von damals zu begrenzen und Voraussetzungen für eine Machterweiterung über die Grenzen der Russländischen Föderation von 1991 hinaus zu schaffen. Grundlage aller Zukunftsplanung ist also eine Revision des Status quo, d. h. eine Restauration der Vergangenheit.

Es begann mit dem brutalen und verlustreichen Krieg gegen die Tschetschenen (1999-2009), der das Kaukasusvolk zurück in die Unterwerfung unter Moskau zwang und mit Präsident Ramsan Kadyrov einen menschenverachtenden tschetschenischen Gewaltherrscher als Kollaborateur an der Seite Putins etablierte.

Im August 2008 spaltete die russische Armee dann in einem kurzen Feldzug die beiden Provinzen Abchasien und Südossetien von Georgien ab. Mit knapper Not konnte durch westliche diplomatische Bemühungen der Einmarsch der russischen Armee nach Tiflis verhindert werden. Die beiden Provinzen wurden von Russland zu international nicht anerkannten pseudostaatlichen Entitäten erklärt (Asmus 2010).

Die Halbinsel Krim und die separatistischen Teile des Donbas wurden 2014 unter Einsatz militärischer Gewalt von der Ukraine abgetrennt. Die Krim wurde von Russland annektiert. Die okkupierten Teile des Donbas wurden de facto russische Protektorate, die von Russland nicht als selbständig anerkannt wurden.

Die russische Kriegsführung zeichnete sich seit 1999 durch besonders brutale Züge aus. Raub, Mord, Plünderungen und sexuelle Gewalt bestimmten damals wie heute das Kriegsgeschehen. Die Zivilbevölkerung war und ist von den Kriegshandlungen massiv betroffen; die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist zumeist höher als unter den Soldaten. Die eigenen Opfer wurden und werden kleingeredet oder geleugnet, um mögliche politische Rückwirkungen in der eigenen Bevölkerung zu vermeiden.

Kriegsverbrechen bis hin zu Akten des Völkermords sind seit dem Tschetschenienkrieg von russischen Menschenrechtsorganisationen wie Memorial detailliert dokumentiert worden (Hassel 2003). Auch insofern ist der jetzige Krieg die Fortsetzung einer zwanzigjährigen Tradition. Allerdings ist Memorial inzwischen ebenso verboten wie eine freie Presse. Die unabhängige Berichterstattung aus Russland wurde in die Illegalität verbannt.

Alle genannten völkerrechtswidrigen Maßnahmen wurden zwar vom Westen mehr oder weniger lautstark kritisiert, aber im Interesse einer als höherrangig erachteten Zusammenarbeit mit Russland bald „vergessen“. Nach dem 24. Februar 2022 zeigte sich, dass das „gemeinsame europäische Haus“ ein Luftschloss war, und die „gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur“ ein russischer Betrug (Welt 2022).

3 Putins Krieg – Russlands Krieg. Ziele und Motivation der Invasion in die Ukraine

Dem Einmarsch in die Ukraine unmittelbar voraus ging die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk als selbständige Staaten durch Russland am 21. Februar. Damit schuf Russland zwei weitere pseudo-unabhängige staatliche Gebilde auf fremdem Territorium und beendete zugleich die jahrelange diplomatische Hängepartie mit dem Westen und mit der Ukraine, denen mit den Minsker Verträgen Friedensmöglichkeiten vorgegaukelt worden waren.

In einer langen Ansprache am 24. Februar um 6:00 morgens benannte Putin (2022a; eigene Übersetzung) die Ziele des als „militärische Spezialoperation“ bezeichneten Krieges: Ziel sei die „Demilitarisierung“ und „Denazifizierung“ der Ukraine. Das Land wurde zu einer totalen militärischen und politischen Unterwerfung aufgefordert. Eine Konkretisierung hielt Russland nicht für nötig. Sehr rasch machten die militärischen Aktionen deutlich, dass eine Zerschlagung der Ukraine in mehrere Landesteile beabsichtigt war. Der Staat sollte von der Landkarte verschwinden. Seit 1939, als die Deutschen unter Hitlers Führung Europa in Brand steckten, hatte keine Macht mit einer solchen Unverfrorenheit seinen Nachbarn zur Selbstaufgabe aufgefordert.

Putin (2022a; eigene Übersetzung) begründete diesen Ausstieg aus der Zivilisation damit, dass die „ukrainischen Faschisten“, die in Kiew unter amerikanischer Anleitung die Macht durch Putsch an sich gebracht hätten, die russisch sprechende Bevölkerung im Donbas mit Völkermord bedrohen würden. Darüber hinaus betreibe die Ukraine seit langem eine massive Aufrüstung und plane, Russland anzugreifen. Die jetzige russische Militäraktion sei deshalb ein notwendiger Präventivschlag. Seit langem bedrohe die Nato Russland mit der Osterweiterung. Die bevorstehende atomare Bewaffnung der Ukraine bedeute die Ausschaltung Russlands als Großmacht (Putin 2022a).

Es erscheint ausgeschlossen, eine Verbindung zwischen diesem Lügengewebe, der damit verbundenen Realitätsverweigerung und der Wirklichkeit herzustellen, wie sie in den allgemeinen Informationskanälen auftritt. Russische Propaganda schafft seit Jahren eine Welt, die es nicht gibt, die aber dennoch nicht weniger real ist.

Real sind vor allem die Kriegsfolgen: Seit dem 24. Februar trägt Russland die Verantwortung für Zehntausende von zivilen und militärischen Opfern in der Ukraine. Ganze Städte werden in Schutt und Asche gelegt. Die von den Besatzungstruppen verübten Kriegsverbrechen stellen offenbar das Grauen des Krieges gegen Tschetschenien vor 20 Jahren in den Schatten.

Nicht nur die Ukraine als Staat, sondern auch die Ukrainer als Volk sollen ausgelöscht werden, wie russische Propaganda in nie dagewesener Offenheit vor aller Welt ausbreitet. Der Filmproduzent und Politologe Timofej Sergejzev fordert in einem Beitrag der offiziellen Nachrichtenagentur Ria Novosti Aktionen des Völkermords gegen die Ukrainerinnen und Ukrainer: Die „Unterstützer des nazistischen Regimes“ – und das sei die „Mehrheit“ des Volkes – müssten, „soweit sie nicht mit dem Tod bestraft oder zu Freiheitsstrafen verurteilt“ würden, „zur Zwangsarbeit herangezogen werden“. Die Maßnahmen einer Denazifizierung dürften nicht „weniger als eine Generation“ dauern. Es gehe darum, eine „De-Ukrainisierung“ und „De-Europäisierung“ zu erzwingen. Der Name „Ukraine“ müsse verboten werden. Der „Ukronazismus“ sei „eine größere Bedrohung für die Welt und für Russland als es der deutsche Nazismus Hitlerschen Typs“ gewesen sei (Sergejzev 2022; vgl Venjakiv 2022).

Ein offizielles staatliches russisches Organ publizierte also ein „Programm zur Auslöschung der ukrainischen Nation“, eine „Anleitung zum Völkermord in der Ukraine“ (Snyder 2022). Damit macht Russland noch einmal deutlich, dass es sich außerhalb der Völkergemeinschaft stellt. Es wird damit zur tödlichen Bedrohung für diese Völkergemeinschaft und nicht nur für die Ukrainer. Um seine Weltmachtansprüche durchzusetzen, ist Russland nicht nur bereit, Krieg zu führen, sondern auch Maßnahmen des Völkermords ins Werk zu setzen.

Wer trägt die Verantwortung? „Dieser Krieg ist Putins Krieg“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz mit großem Nachdruck in seiner Regierungserklärung am 27. Februar, drei Tage nach Ausbruch des Krieges (Bundesregierung 2022). Das ist jedoch eine unzulässige Entlastung Russlands und des russischen Volkes. Meinungsumfragen und viele individuelle Gespräche und Eindrücke bestätigen, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung den Krieg unterstützt. Die Popularität Putins ist sogar gestiegen, auch wenn eine Kriegseuphorie wie 2014 („Krym nasch“ – „die Krim gehört uns“) ausgeblieben ist (Vindman 2022). Die Ukraine wird von Millionen Russen als Bedrohung wahrgenommen und ihre Unterwerfung wird gebilligt. Das jahrelange propagandistische Trommelfeuer zeigt Wirkung (Rustamova 2022, S. 235–241). Zwischen 70 % und 80 % der Bevölkerung sagen bei Umfragen, sie unterstützen persönlich die „Spezialoperation“ der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Diese Zahlen sind seit März 2022 weitgehend stabil (Rosijski ZMI 2022; Gudkov 2022).

4 Großmacht Ukraine

Ein Paradox ist zu konstatieren: Die Ukraine ist durch den Krieg zu einem zentralen Schauplatz der europäischen Geschichte geworden. Wahrscheinlich hat das Land noch niemals so stark im Mittelpunkt der internationalen Konflikte, Solidarisierungen und Verwünschungen gestanden wie derzeit – vielleicht abgesehen vom frühen Mittelalter im 10./11. Jahrhundert. Die derzeitigen Ereignisse in der Ukraine werden voraussichtlich weitreichende Auswirkungen auf ganz Europa, den Westen und Russland haben.

Auf der anderen Seite: Die Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der Ukraine wird bis heute, wenn nicht rechtlich, so doch politisch in Frage gestellt. Das gilt in Russland, wo Staat und Gesellschaft in der Ukraine keinen gleichberechtigten Partner sehen. Aber auch in manchen westlichen Ländern wie Frankreich oder Deutschland ist der „Russia first“ Komplex keineswegs überwunden. Russland und die Ukraine werden nicht mit gleichem Maß gemessen. Ein Beispiel: Der französische Präsident Emmanuel Macron hielt es für angemessen, in einer Rede in Straßburg am 9. Mai 2022 angesichts der täglich neuen Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine davor zu warnen, Russland wegen des Krieges in der Ukraine zu demütigen (Grobe 2022).

Nirgendwo stehen die Überschätzung der Ukraine und die Leugnung ihrer Bedeutung so unverbunden und unerklärlich nebeneinander wie in der russischen politischen Rhetorik und in der persönlichen Sprache Putins. Einerseits wird die Ukraine als tödliche Bedrohung für die Existenz Russlands dargestellt, die angeblich das sofortige militärische Eingreifen verlangte. Auf der anderen Seite spricht Putin der Ukraine in seiner Rede an die Nation vom 21. Februar 2022 die Tradition „einer gefestigten authentischen Staatlichkeit“ ab. „Eine stabile Staatlichkeit ist […] bis heute nicht entstanden.“ Vielmehr sei das Land „zu einem politischen und wirtschaftlichen Protektorat“, ja zu einer „Kolonie“ [des Westens] geworden, das „auf einen kompletten Souveränitätsverlust zusteuert“ (Putin 2022b). Bezeichnete der Kreml- Herrscher damit drei Tage vor Kriegsbeginn sein eigenes Kriegsziel?

Überblickt man die seit 2014 zahlreichen, zumeist umfangreichen Äußerungen Putins zur Ukraine, so entsteht der Eindruck einer manischen Besessenheit. Aber das Ukraine-Thema hat durchaus einen rationalen politischen Kern. Der US-amerikanische Politologe Zbigniew Brzezinski formulierte schon vor 25 Jahren den viel zitierten Satz: „Ohne die Ukraine ist Russland keine Großmacht“ (zit. n. Lehming 2022). Die Wiedergewinnung einer Weltmachtrolle hängt für Russland davon ab, ob es gelingt, die Ukraine erneut auf einen Vasallenstatus zu drücken.

5 War die Invasion vorgezeichnet?

Das Ende der Sowjetunion bedeutete das Ende der Weltmachtrolle Russlands. Mit dem Referendum über die Unabhängigkeit am 1. Dezember 1991 schied die Ukraine aus der Sowjetunion aus. Innerhalb und außerhalb des Landes galt ein Fortbestand der UdSSR ohne die Ukraine als ausgeschlossen. Diese traumatische Erfahrung prägt bis heute die russische Wahrnehmung. Das überrascht auf den ersten Blick, denn die Ukraine war zunächst keineswegs der wichtigste Motor beim Zerfall der Sowjetunion. Theoretisch ist eine Art Union aus Russland und den asiatischen Bestandteilen der UdSSR als Fortsetzer der Sowjetunion denkbar. Die gegenwärtigen, von Russland dominierten eurasischen Projekte gehen tatsächlich in diese Richtung.

Dennoch bedeutete der Austritt der Ukraine aus dem Verbund mit Russland einen kaum zu übertreffenden Bruch mit der Geschichte. Denn seit dem 17. Jahrhundert hatte sich im Russländischen Reich die Vorstellung herausgebildet, die Ukraine und die Ukrainer seien Teil einer einheitlichen großrussischen Nation und insofern nicht eigenständige Subjekte der Geschichte.

Nach 1917 schufen die Bolschewiki mit der Ukrainischen SSR erstmals ein staatliches Gebilde mit dem Namen Ukraine, in dem nach und nach alle von Ukrainern bewohnten Territorien vereinigt wurden. Diese Ukraine war zusammen mit der Russländischen SSR die Basis für die Weltmachtstellung der Sowjetunion. Die Wiedergewinnung des Weltmachtstatus ist deshalb im russischen politischen Denken nur durch die Wiederherstellung des Verbundes Russlands und der Ukraine, bzw. durch die Einverleibung der Ukraine in Russland vorstellbar. Russland hat in diesem Sinne keine geopolitische Alternative.

In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zerfall der Sowjetunion war zunächst nicht klar, wieweit die Ukraine und Russland unterschiedliche Wege in die Zukunft gehen würden, oder ob die Ukraine in einer Grauzone zwischen dem Westen und Russland verharren würde. In der Ukraine selbst gab es starke prorussische Kräfte. Auch im Westen bestand eine Meinungsführerschaft derjenigen, die es ablehnten, die Ukraine vor die Alternative Russland oder der Westen zu stellen. Stattdessen wurde die Metapher von der Brücke favorisiert und idealisiert.

Trotz der formalen Anerkennung der Unabhängigkeit war Russland in den 1990er-Jahren nicht bereit, in der Ukraine ein gleichberechtigtes Mitglied der internationalen Völkerfamilie zu sehen. Stattdessen wurde die Doktrin vom „nahen Ausland“, von der legitimen Interessenssphäre Russlands und im Bereich des Kirchenrechts vom „kanonischen Territorium“ entwickelt (Simon 1994).

Die Wende in der russischen Politik von der Drohung zur Aggression kam 2014 mit der Majdan-Revolution, der Flucht von Präsident Wiktor Janukovyč und der Annexion der Krim. Die Putin-Führung gelangte zu der Einsicht, dass nur noch der Einsatz militärischer Gewalt die endgültige Trennung der Ukraine von Russland würde verhindern können. In Putins Rede zur Annexion der Krim am 18. März 2014 standen zwei Grundgedanken im Mittelpunkt: „Die Krim war und bleibt immer ein integraler Bestandteil Russlands“ (Putin 2014, S. 88). Zweitens, Russen und Ukrainer „sind […] ein Volk“ (Putin 2014, S. 96). Beide Thesen sind falsch, können aber als Handlungsmaximen ein erhebliches zerstörerisches Potential entwickeln. Die These von dem „einen Volk“ hat Putin (2021) dann breit in einem Essay im Sommer 2021 entfaltet, der den Titel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ trägt. Man kann den Beitrag als eine Aufforderung zur Zerschlagung der Selbständigkeit der Ukraine lesen, als ein Kriegsprogramm.

In einer weit ausholenden Geschichtskonstruktion vertritt Putin die These von der 1000-jährigen Kontinuität der Geschichte. Danach gab es nur einen Staat, nur eine Sprache und eben nur ein Volk auf dem Territorium der Ostslaven. Und das war selbstverständlich das (groß-) russische. Die Ukrainer hätten weder eine eigenständige Sprache, noch Konfession, noch Kultur entwickelt. Ihre Unabhängigkeit sei eine „Tragödie“. Die Hauptstoßrichtung der Kritik des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstlers Putin richtet sich übrigens gegen Lenin und die Bolschewiki und nicht gegen die Zaren. Die Bolschewiki hätten der sowjetischen Ukraine viel zu viele Territorien im Osten und Süden der Ukraine überlassen und auf diese Weise Russland „beraubt“.

Das Argument von der angeblichen demographischen Dominanz der Russen in der östlichen und südlichen Ukraine spielt seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle in der russischen Propaganda. Es ist eindeutig falsch. Die Ukrainer waren und sind eine klare Mehrheit in allen Gebieten des Landes mit der einzigen Ausnahme der Autonomen Republik Krim. Hier wurden bei der letzten Volkszählung 1989 in sowjetischer Zeit 65,6 % Russen registriert, die ethnischen Ukrainer machten 26,7 % der Bevölkerung aus. In der Stadt Sewastopol lebten 74,4 % Russen (State Statistics Committee of Ukraine 2003–2004).

Noch eindeutiger im Sinne der Ukraine waren die Ergebnisse des Referendums über die Unabhängigkeit am 1. Dezember 1991. In allen Gebieten des Landes einschließlich der Krim votierte eine Mehrheit der Wähler für die Unabhängigkeit. Am geringsten war die Zustimmungsrate auf der Krim mit 54,19 %. Insgesamt stimmten 90,32 % der Wähler für die Unabhängigkeit (vgl. Helmerich 2003, S. 41).

Die Ukrainer sahen und sehen darin die demokratische Legitimation für den eigenen Weg. Aber für Putin wurde hier der Grund für das „Anti-Russland“ gelegt, das nach der Majdan-Revolution 2014 immer mehr die Oberhand gewann. „Anti-Russland“ hieß Abwendung von Russland und Hinwendung nach Westen.

Die historischen Wurzeln des „Anti-Russland“ verortet Putin in Polen und Österreich, zu denen viele Teile der heutigen Ukraine über lange Zeit gehört hatten. Heute seien die Russen in der Ukraine einem „erzwungenen Identitätswechsel“ ausgesetzt, der vergleichbar sei „mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen uns“ (Putin 2021, S. 62). Das „Anti-Russland“ Projekt haben – so behauptet Putin – „westliche Autoren“ geschaffen (Putin 2021, S. 64). Ein Diskurs über derartige Aussagen ist nicht möglich, denn es wird gezielt eine Realität erfunden, über die Streit ausgeschlossen ist, weil die Wirklichkeitsebenen sich nicht mehr berühren.

Überblickt man die Äußerungen Putins zur Ukraine seit 2014, so wird die Radikalisierung und wachsende Bedrohlichkeit deutlich. War der Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 auf diese Weise vorgezeichnet? Dagegen spricht nicht nur die generelle Erwägung, dass Kriege nicht angekündigt werden. Möglicherweise war die russische Führung aber gegen Ende des Jahres 2021 zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Chancen für einen siegreichen Krieg gegen die Ukraine in absehbarer Zukunft eher geringer werden würden und dass deshalb jetzt der richtige Zeitpunkt für die Invasion gekommen sei. Später könnte zu spät sein. Denn die Ukraine zeigte trotz der lautstarken Behauptungen der russischen Propaganda keine Anzeichen von wirtschaftlichem Kollaps oder politischer Instabilität, der Konsens zugunsten der Westintegration nahm zu. Hinzu kam: Die westliche Welt war 2021 weitgehend absorbiert von der Corona Pandemie, und die Konflikte innerhalb des Westens bewegten sich – wie fast immer – auf einem hohen Niveau. Erstaunlicherweise konnte die russische Führung Ende 2021/Anfang 2022 außerdem von einem Überraschungsmoment ausgehen, wenn die Armee jetzt in die Ukraine einmarschieren würde.

Russland wird – nach unserem gegenwärtigen Kenntnisstand (Mai 2022) – seine Kriegsziele nicht erreichen. Verantwortlich dafür sind nicht zuletzt Putins kolossale Fehleinschätzungen. Die heutige russische Führung, unterstützt von großen Teilen der Bevölkerung, will nicht wahrhaben, dass die „Tragödie“ des Landes nicht im Ende der Sowjetunion 1991 besteht, sondern in der Weigerung Russlands, in eine postimperiale Zukunft aufzubrechen. Eine Niederlage Russlands in diesem Krieg könnte die Chancen dafür verbessern.