1 Einleitung

Eine Europareise des neuen US-Präsidenten Joe Biden mit ein paar schönen Worten zur transatlantischen Verbundenheit, ein Wohlfühl-Gipfel der NATO mit dem ersten gemeinsamen Kommuniqué seit 2018, der Beschluss der Alliierten, sich als Ergebnis eines Reflexionsprozesses ein neues Strategisches Konzept zu geben – es schien, dass ein strahlender Sommer genügte, um die dunklen Wolken über der Allianz zu vertreiben.

Nachdem das Schicksal der NATO während der vierjährigen Regierungszeit des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump dramatisch überzeichnet und über das Ende des politischen Westens orakelt wurde, verschwand das Thema binnen weniger Tage aus allen Schlagzeilen. Der politische Fokus in Deutschland war nur allzu gerne bereit, die Aufmerksamkeit weg von den komplizierten Aspekten der Sicherheitspolitik und den schwierigen Bündnisfragen der NATO und wieder auf andere Themen zu lenken: Die NATO ist gerettet, also reden wir jetzt nicht mehr darüber.

Als Ko-Vorsitzender einer Expertengruppe zum Reflexionsprozess der Allianz, die ich zusammen mit dem ehemaligen US-Diplomaten Wess Mitchell leiten durfte, hatten wir bereits Ende November 2020 unseren Bericht an NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg übergeben – unter dem Titel „NATO 2030: United for a new Era“ haben wir 138 Vorschläge zur Stärkung der politischen Dimension der Allianz gesammelt, vom Umgang mit globalen Machtverschiebungen und veränderten geopolitischen Konstellationen über Konsequenzen aus neuen technologischen Entwicklungen bis hin zur Anpassung von internen Konsultationsmechanismen und Entscheidungsprozessen (NATO 2020).

Die Diskussion in den Alliierten-Hauptstädten und im Brüsseler Hauptquartier lief danach auf vollen Touren – das freute uns natürlich als Expertengruppe, denn diese belebende Debatte war schließlich eines unserer Ziele. Im weiteren Verlauf hat der Generalssekretär aus unserem Input, dem Austausch mit den Alliierten und dem Feedback aus einer Reihe öffentlicher Veranstaltungen sukzessive seine eigenen Vorstellungen und Vorschläge verfeinert, die letztlich auf dem Juni-Gipfel angenommen wurden und eine prominente Rolle im Gipfel-Kommuniqué spielen – inklusive der Übernahme unserer zentralen Forderung: die Erstellung eines neuen Strategischen Konzepts (NATO 2021b).

So hätten wir uns also als ExpertenFootnote 1 auf die Schultern klopfen können: Auftrag ausgeführt, Allianz gerettet. Aber uns ging es im Laufe des Reflexionsprozesses nie um eine kurzfristige Scheinlösung, ein schnelles öffentlichkeitswirksames Pflaster, um die Lage nach außen hin zu beruhigen. Wir stehen vor systemischen Herausforderungen, einer globalen Zeitenwende mit Konsequenzen für die Zukunft der NATO und der Rolle Deutschlands.

Denn zum einen enthält unser Bericht eine Reihe von Analysen und Empfehlungen, die bisher nicht oder nur im Ansatz von den Alliierten und dem Generalsekretär aufgenommen wurden. Zentral sind dabei vier thematische Bereiche: die künftige Behandlung Chinas innerhalb der Allianz, die Zusammenarbeit von NATO und Europäischer Union, die mögliche Rolle der Allianz bei der internationalen Rüstungskontrolle sowie der Fortbestand der drei Kernaufgaben aus kollektiver Verteidigung, Krisenmanagement und kooperativer Sicherheit. In einem neuen Strategischen Konzept sollte die Ausgestaltung dieser Punkte eine zentrale Rolle spielen. Zum anderen geht es um einen notwendigen Prozess institutionellen Lernens und ständiger Anpassung. Mit einem Reflexionsprozess und einem neuen Konzept alle zehn Jahre ist es daher nicht getan. In unseren Vorschlägen finden sich zahlreiche institutionelle Punkte zur Beschleunigung von Entscheidungsprozessen und zur Effizienzsteigerung der internen Verhandlungsverfahren, die ebenfalls noch nicht Teil der Diskussion von Internationalem Stab und Alliierten sind. Die geopolitische Komplexität wird zunehmen, Reaktionszeiten werden immer weiter verkürzt – eine auf Konsens gebaute Institution mit nun 30 Mitgliedern muss sich Räume schaffen und Verfahren verschlanken, sonst entsteht Abnutzung durch zu viel Reibung, sie verknöchert, verliert an Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit. Für eine Stärkung von Relevanz, Vertrauen und Effizienz braucht es Bereitschaft zu handeln und politischen Willen bei allen Alliierten – nur so kann Kohäsion bewahrt und intensiviert werden.

Hinzu kommt die Notwendigkeit der fortgeführten öffentlichen Debatte. Der Generalsekretär hat sich trotz Pandemie-Einschränkungen in seinen NATO-2030-Veranstaltungen sehr um einen öffentlichen Outreach bemüht. Auch die Erstellung eines neuen Strategischen Konzeptes muss eine öffentliche Komponente beinhalten. Das ist nicht nur eine Frage des Einsammelns von Ideen und kritischem Input, sondern es geht auch um Legitimation der künftigen sicherheitspolitischen Ausrichtung. Das Erklären und Veranschaulichen von komplexen geopolitischen Herausforderungen und den möglichen Antworten darauf sollte dabei im Vordergrund stehen, um die Bevölkerung in den alliierten Nationen mitzunehmen.

Es gibt also zahlreiche Gründe, sich für eine fortgesetzte Reflexion und kontinuierliche Anpassungen auszusprechen. Mit dem Ende der Resolute Support Mission und dem Verlauf des Truppenabzuges aus Afghanistan kamen weitere dazu. Die Aufarbeitung von Entscheidungen und Abläufen, die Evaluierung des Einsatzes in seinen verschiedenen Phasen müssen stattfinden und werden Aufschlüsse geben für die Zukunft der Allianz. Und wir sollten zudem kritisch betrachten, inwieweit innenpolitische Dynamiken unsere außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen unsachgemäß beeinflusst, wenn nicht sogar dominiert haben. Es sollte sich daraus auch eine wichtige Debatte ergeben zur Krisenmanagementfunktion der Allianz, zur künftigen Rolle von Auslandseinsätzen und Stabilisierungs- bzw. Trainingsmissionen. Auch dies wird ein zentraler Punkt für das neue Strategische Konzept sein, der nicht einfach fortgeschrieben werden sollte, um schmerzhaften Fragen aus dem Weg zu gehen.

In Deutschland zeigten sich sowohl in der Nicht-Debatte zur Zukunft der Allianz direkt nach dem Gipfel als auch in der aktuellen Kommentierung zu Afghanistan (Stichwort: Scheitern des Westens), die sich mehr um Schuldzuweisungen kümmerte als um Analyse und Strategieentwicklung, die typischen Verallgemeinerungen und Verkürzungen in der deutschen sicherheitspolitischen Diskussion.

In ihrer Absolutheit sind viele dieser Kommentare und ultimativen Forderungen zu kurz gedacht und in ihrer einfachen Betroffenheit keine angemessene Reaktion auf die zunehmende Komplexität des geopolitischen Umfeldes. Ja, der Westen muss sich neu aufstellen, aber er darf sich nicht selbstverzwergen angesichts der globalen Machtkonstellationen. Ja, die NATO muss sich anpassen, aber sie kann Relevanz und Vertrauen nicht durch Verstecken wiedergewinnen, sondern nur durch kontinuierliche Anpassung und Kommunikation. Ja, Deutschland muss seine eigene Rolle definieren, die aber nicht zu einem Rückzug auf die herbeigesehnte Insel der Glückseligen führt, sondern eine aktive Übernahme von Verantwortung in der Allianz und in der EU als Brückenbauer des Multilateralismus in der Sicherheitspolitik beinhaltet.

Bei allen tagespolitischen Reflexen, routinierter Gipfel-Diplomatie und der Notwendigkeit zum unmittelbaren operativen Handeln in einer Krisensituation dürfen wir die mittel- und langfristige Perspektive nicht aus den Augen lassen – auch und vor allem nicht, wenn diese uns schwere Entscheidungen abringt. Denn der Rahmen für diesen Reflexionsprozess und die nun anstehenden Reformschritte bleibt unverändert: Erstens, wir erleben eine außen- und sicherheitspolitische Zeitenwende mit multidimensionalem Charakter; zweitens, um ihre Aufgabe auch in Zukunft wirkungsvoll zu erfüllen, um handlungs- und gestaltungsfähig zu bleiben, muss die Allianz sich inhaltlich und institutionell anpassen; und drittens, Deutschland muss sich zu diesen tektonischen Verschiebungen positionieren, seine Rolle in der Allianz als aktiver Brückenbauer definieren und die entsprechende Verantwortung schultern.

2 Globale Zeitenwende

Wir beobachten momentan eine globale Zeitenwende. Diese findet nicht von heute auf morgen oder linear statt, sondern schrittweise und wellenförmig. Nach der durchaus zynischen Stabilität der Bipolarität während des Kalten Krieges und der weitgehend trügerischen Ruhe während des sogenannten unipolaren Momentes der 1990er- und frühen 2000er-Jahre sind wir jetzt auf dem Weg zu einer multipolaren Ordnung. Wobei Ordnung vielleicht eine unzutreffende Bezeichnung dafür ist. Denn das sich abzeichnende multipolare System ist eher unordentlich, komplex und kompliziert – und es ist gefährlicher, weil unberechenbarer und nicht mehr klar ausbalanciert.

Die vergangenen vier Jahre und der globale außen- und sicherheitspolitische Rückzug der USA haben diesen Prozess noch beschleunigt. In die Leerstellen sind teilweise Akteure wie China und Russland vorgestoßen – die EU und Deutschland eher nicht, weil wir uns bevorzugt mit uns selbst beschäftigen. Wir sehen konkrete Konsequenzen dieser Multipolarität: regionale Spannungen und ein globales Ordnungssystem unter Druck. Unsere Vorstellungen einer regel- und wertebasierten internationalen Ordnung sind nicht mehr unangefochten, werden aktiv zurückgedrängt. Systemrivalen des Westens versuchen, auf der internationalen Ebene wieder das Recht des Stärkeren einzuführen, statt sich auf die Stärke des Rechts zu einigen.

In dieser multidimensionalen Herausforderung kommt als weiterer zentraler Punkt die Rückkehr der geopolitischen Rivalitäten hinzu: Neben der militärischen Bedrohung durch Russland nimmt auch der Aufstieg Chinas aus sicherheitspolitischer Perspektive an Bedeutung zu. Zu den globalen Herausforderungen zählt zudem die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, aber auch Auswirkungen des Klimawandels auf die Sicherheit, zum Beispiel durch Verschärfung von Fragilität und Konflikten um Ressourcen.

Dabei verschwimmt hinsichtlich der Sicherheitsherausforderungen immer weiter die Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Bereichen. Um auf Cyber- und Hybridbedrohung zu reagieren, wird die Resilienz der Alliierten immer wichtiger. Schließlich beobachten wir dramatische Entwicklungsschritte im Bereich der neuen Technologien. Im Vergleich zu früheren Modernisierungsschüben finden diese nicht im staatlichen Sektor statt, sondern im Privatsektor – und in hohem Maße bei den genannten Systemrivalen.

Die Sicherheitslage ist gekennzeichnet von „strategischer Gleichzeitigkeit“. Das heißt wir haben geographische Überlappungen, zeitliche Parallelität, hybride Bedrohungen entlang des zivil-militärischen Spektrums sowie Wechselwirkungen zwischen all diesen Bedrohungen. Diese Entwicklung findet vor dem Hintergrund einer zunehmenden Ressourcenknappheit statt, die sich angesichts der Pandemie-Folgen weiter verschärft.

3 Anpassung der Allianz

Um sich auf die sich verändernde Gesamtlage einzustellen, bedarf es eines gemeinsamen Verständnisses und einheitlichen Handelns der Alliierten. Die Herausforderung ist aber, dass die „strategische Gleichzeitigkeit“ zu unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen und divergierenden Prioritätensetzungen führt. Um sich diesem Spannungsfeld zu stellen und den internen Zentrifugalkräften entgegenzuwirken, bedarf es der Anpassungsfähigkeit der Allianz: um Vertrauen zwischen Alliierten zu stärken, Effizienz zu garantieren und Relevanz für alle unter Beweis zu stellen.

Und diese Anpassungsfähigkeit ist nichts Neues für die NATO – auch darauf weisen wir in unserem Bericht hin. Es hat immer wieder Reflexionsprozesse und Berichte wie den unsrigen gegeben, um die politische Dimension der Allianz an sich verändernde Anforderungen anzupassen: der sogenannte Three Wise Men Report von 1956 (NATO 1956), der Harmel-Bericht von 1967 (NATO 1967), zuletzt der Albright-Bericht (NATO 2010a) und in dessen Folge das Strategische Konzepte von 2010 (NATO 2010b). Die militärische Anpassung der Allianz seit 2014 hat ebenfalls ihre Handlungsfähigkeit demonstriert. Anpassung ist also Teil der Allianz-DNA. Aber mit mittlerweile 30 Alliierten, multilateralen Ordnungssystemen unter grundsätzlichem Druck und einer teilweisen Rückbesinnung aufs Nationale wird die Aufgabe nicht einfacher. Heute und in Zukunft bedarf es einer robusten, handlungs- und gestaltungsfähigen Allianz, um die Sicherheit unserer Bürger zu schützen. Kein Alliierter kann dies im Alleingang schaffen – nicht einmal die Größten unter ihnen.

Wir haben unseren Empfehlungen einen analytischen Teil vorangestellt, in dem wir Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre rekapitulieren und einen Blick auf die kommende Dekade werfen. Denn die Herausforderungen für die Allianz ergeben sich aus einer veränderten globalen Gesamtlage, nicht aus temporären oder personellen Fragen – wir müssen klar zwischen punktuellem Anlass und systemischen, strukturellen Ursachen unterscheiden.

Die Kritik des ehemaligen US-Präsidenten Trump, die Allianz sei „obsolet“ (zit. n. Diekmann und Gove 2017), hat die grundsätzliche Relevanz-Frage der NATO aufgeworfen – nicht nur für die USA, sondern auch für andere Alliierte. Diese Frage ist nicht neu, wir haben sie uns schon früher gestellt – zum Beispiel Anfang der 1990er-Jahre unter dem Motto „out of area, or out of business“. Die zugespitzte Äußerung des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zum „Hirntod“ der Allianz (The Economist 2019, eigene Übersetzung) hat auf eine grundsätzliche Problematik des Vertrauensverlust untereinander angespielt – das Fehlen von Konsultationen zwischen Alliierten vor zentralen nationalen Entscheidungen.

Weil es um grundsätzliche und nicht um punktuelle Herausforderungen geht, hatten auch die US-Wahlen für unseren Prozess inhaltlich keine entscheidende Rolle gespielt. Denn in zentralen Fragen, zum Beispiel zum Umgang mit China oder zur Einschätzung der NATO-EU-Zusammenarbeit, gibt es sicherlich im Ton Unterschiede, aber kaum in der Substanz. So wurde die letzte Drafting-Woche der Expertengruppe bewusst nach den US-Wahlen angesetzt. Daraus haben sich aber keine wichtigen Änderungen ergeben.

Damit sind wir auch am roten Faden angekommen, der sich (hoffentlich sichtbar!) durch unseren Expertenbericht zieht: Die Einheit unter den Alliierten ist und bleibt das Gravitationszentrum der NATO. Systemische Veränderungen führen zu externen und internen Spannungen – und letztlich zu einer abnehmenden Solidarbereitschaft, kurzfristige nationale Partikularinteressen den mittel- bis langfristigen übergeordneten gemeinsamen Zielen unterzuordnen.

Unsere Vorschläge bringen keine Lösung über Nacht, selbst wenn man sie alle sofort implementieren würde. Sie bilden aber einen Rahmen, um die Relevanz der NATO für alle Alliierten zu verdeutlichen, das Vertrauen untereinander zu stärken oder wiederaufzubauen, und somit die Effizienz im Handeln zu intensivieren.

4 Empfehlungen der Expertengruppe

Grundsätzlich haben wir darauf geachtet – wir haben es zumindest versucht –, die richtige Balance im Ton zu wahren: Unsere Vorschläge sind ambitioniert, aber zugleich realistisch. Wir sind durchaus kritisch im Ton, aber immer konstruktiv. Der Bericht konzentriert sich sowohl auf Inhalte als auch auf Mechanismen und Verfahren. Wir fordern heraus, fordern aber nichts Unzumutbares. Von diesem analytischen Ansatz leiten sich all unsere Empfehlungen zur Anpassung ab: ein fokussierter Austausch zwischen den Alliierten zu China; die Suche nach neuen Wegen für einen konstruktiven Dialog mit Russland aus einer Position der Stärke heraus; Offenheit gegenüber dem Privatsektor hinsichtlich neuer Technologien; Resilienz als Querschnittsthema; Intensivierung der NATO-EU-Zusammenarbeit bei gleichzeitiger Vermeidung von überflüssigen Doppelungen; mehr informelle Konsultationen jenseits der „üblichen Verdächtigen“; mehr Flexibilität bei Entscheidungsprozessen ohne Aufgabe des Konsensprinzips. Damit seien nur ein paar Beispiele aus der langen Liste genannt.

Unsere erste und zentrale Empfehlung, der Startpunkt, regt eine Aktualisierung des Strategischen Konzepts an, die alle weiteren Aspekte beinhalten sollte. Einige der genannten Punkte der Analyse – China, neue Technologien, Terrorismus – finden sich im aktuellen Konzept gar nicht; oder wurden durch Entwicklungen überholt – so wird etwa Russland in 2010 noch als strategischer Partner charakterisiert. Zugleich wird ein aktualisiertes Strategisches Konzept einen Beitrag zur Kohäsion leisten: eine gemeinsame Bedrohungsanalyse mit klar konsentierter Prioritätensetzung – mit dem übergeordneten Ziel, die Allianz als primäre transatlantische Plattform für alle sicherheitsrelevanten Themen zu nutzen. Auf dem NATO-Gipfel im Juni 2021 hat Generalsekretär Stoltenberg dafür den Startschuss gegeben.

Neben dem Austausch mit der Expertengruppe hat der Generalsekretär auch den Dialog mit der jungen Generation gesucht und sich von einer kleinen Gruppe sog. Young Leaders, darunter auch die Bundestagskollegin Gyde Jensen (FDP), weitere Ideen zu spezifischen Themen eingeholt (NATO 2021a). Daraus sind insbesondere die Empfehlungen zu den Bereichen Resilienz und Klima hervorzuheben mit sehr ambitionierten Ansätzen. Dazu zählen etwa Resilienzcluster und messbare Resilienzziele, denen sich die Allianz – in Zusammenarbeit mit der EU – annehmen sollte. Die Ziele umfassen auch gesellschaftliche Resilienz und die Notwendigkeit einer besseren und proaktiven öffentlichen Kommunikation zu sicherheitspolitischen Herausforderungen. Resilienz muss stärker als eine umfassende Querschnitts- und Basisaufgabe verstanden werden. Vielleicht – wir haben dies diskutiert, aber letztlich nicht explizit mit aufgenommen – könnte es in einem künftigen Strategischen Konzept die vierte Kernaufgabe darstellen. Auch zum Thema Klima und Sicherheit haben die Young Leaders gute und konkrete Vorschläge beigesteuert – da waren sie mutiger als wir in unserem Expertenbericht. Aber zusammen mit dem von uns vorgeschlagenen Exzellenzzentrum für Klima und Sicherheit könnte das ein guter Startpunkt sein.

Seit der Veröffentlichung unseres Berichts haben wir eine Bandbreite an Rückmeldungen erhalten: Außenminister Heiko Maas hat ihn als „Frischzellenkur“ für die Allianz bezeichnet (Auswärtiges Amt 2021). In einem gemeinsamen Statement mit seinem französischen Kollegen Jean-Yves Le Drian haben die beiden uns ein typisch diplomatisches Lob gegeben: Unsere Empfehlungen hätten Substanz und seien sehr ausgewogen (Auswärtiges Amt 2020b). Rose Gottemoeller, ehemalige stellvertretende Generalssekretärin, hat in einem Artikel sehr ermutigend geschrieben: Die NATO sei nun nicht länger hirntot.

Eine Sprecherin des russischen Außenministeriums hat uns aggressive Kalte-Krieg-Rhetorik vorgeworfen (Außenministerium der Russischen Föderation 2020). Die Analyse und Empfehlungen würden dazu beitragen, dass die gegenwärtige konfrontative Gegenüberstellung für die nächste Dekade zementiert werde. Regierungsvertreter Chinas haben verlautbaren lassen, dass unsere Darstellung der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik auf falschen Annahmen basiere. Und dass Peking bereit stünde für den Dialog mit der Allianz, um dies zu korrigieren (Außenministerium der Volksrepublik China 2020).

Die üblichen NATO-Kritiker haben uns beschuldigt, eine militärische Mobilisierung gegen China zu propagieren, mit dem Indo-Pazifik als neuem Operationsgebiet, um die antiquierte NATO am Leben zu halten. Aber auch aus der NATO-Expertengemeinde haben wir unterschiedliche Reaktionen erhalten. Einige haben gesagt, dass unsere Vorschläge nicht innovativ genug seien, ohne strategische Zielsetzung – und dass die Empfehlung für ein neues Strategisches Konzept nur eine Routine-Übung sei. Andere haben kritisiert, wir seien zu detailverliebt – und wiederum andere fanden die Empfehlungen zu oberflächlich. Und die Neinsager haben bereits prognostiziert, dass alle unsere Vorschläge sowieso an den Bürokraten in den Hauptstädten der Alliierten scheitern werden.

Mit Blick auf die Analyse haben wir auch ein paar positive Noten aus dem Expertenkreis bekommen. Aber wir mussten feststellen, dass dies häufig ein Rosinenpicken entlang der bekannten nationalen Prioritäten war. Zum Beispiel: Osteuropäische Vertreter haben sofort die klare Beschreibung der aggressiven Haltung Russlands begrüßt. Andere Alliierte wiederum haben positiv hervorgehoben, dass wir ein klares Bekenntnis zum zweigleisigen Ansatz von Abschreckung und Dialog abgegeben haben. Aber keiner fühlte sich verantwortlich oder angesprochen hinsichtlich unserer Kritik an überritualisierten Konsultationen und Schwierigkeiten bei Entscheidungsprozessen. Alles in allem waren die Reaktionen wenig überraschend, obwohl es um einen so umfassenden Bericht mit detaillierter Analyse des Sicherheitsumfeldes und fast 140 Empfehlungen zur entsprechenden Anpassung geht.

5 Gipfelbeschlüsse und Kommuniqué

NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat aus den genannten Empfehlungen seine eigenen Vorschläge destilliert und bei den Verteidigungs- und Außenministertreffen im ersten Halbjahr 2021 im Austausch mit den Alliierten weiter verfeinert. Als „transatlantische Agenda“ wurden die NATO-2030-Beschlüsse auf dem Juni-Gipfel konsentiert (NATO 2021c). Die darin gesetzten Akzente sind sehr zu begrüßen. Die zentralen Punkte unseres Berichtes wurden aufgenommen: zur Aktualisierung des Strategischen Konzepts; zur Intensivierung von Konsultation und der Allianz als zentraler sicherheitspolitischer Plattform; zum künftigen Umgang mit China; zu neuen Technologien, Partnerschaften, Klima und Resilienz. Und es wurden weiterführende Vorschläge eingebracht, zum Beispiel mit Blick auf zusätzliche Mittel für Gemeinschaftsfinanzierung von Verteidigungsaufgaben, die allerdings auf einen späteren Zeitpunkt vertagt wurden. In der Expertengruppe haben wir auf eine Stärkung der politischen Dimension der Allianz fokussiert und uns daher für eine Anhebung des zivilen Budgets ausgesprochen – das sollte nicht verloren gehen.

Vier zentrale Punkte aus unserem Bericht sind jedoch nicht ausreichend in den Gipfel-Beschlüssen dargestellt: Erstens nimmt die Frage der künftigen Behandlung des Aufstiegs Chinas nicht die Schlüsselrolle ein, die ihr in unserem Bericht zukommt. Zweitens findet sich zum Thema Rüstungskontrolle leider nur wenig. Drittens sind die Schritte zur NATO-EU-Zusammenarbeit viel zu zögerlich und kleinteilig. Viertens sollten die drei Kernaufgaben der Allianz auch in einem neuen Strategischen Konzept gleichberechtigt verankert werden.

China

China nimmt unterschiedliche Rollen für die einzelnen Alliierten ein: Handelspartner, Konkurrent, systemischer Rivale. Es geht nicht um militärische Antworten oder gar eine regionale Ausweitung des Handlungsfeldes der Allianz. Denn die NATO war schon immer ein regionales Verteidigungsbündnis mit einer globalen Sicherheitsperspektive: „think global, act regional“. Hinsichtlich des Aufstiegs Chinas geht es primär um das Erstellen einer gemeinsamen Strategie, um Austausch und Analyse von sicherheitspolitischen Verwundbarkeiten. Zudem geht es um die Erarbeitung von Antworten auf Chinas Verhalten, das einen direkten Einfluss auf die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur, auf die Verteidigungsfähigkeit der Allianz oder die Resilienz der Alliierten haben könnte (de Maizière und Mitchell 2021).

Natürlich zählt zu dieser gemeinsamen Positionierung auch das Angebot zum Dialog, der bislang eher informell und ad hoc stattfindet und daher formalisiert und verstetigt werden sollte. Das muss nicht sofort überdimensioniert als ein NATO-China-Rat aufgesetzt werden – angesichts der aktuellen Erfahrungen mit dem NATO-Russland-Rat fehlt dazu sicherlich auch der Appetit. Aber ein regelmäßiger Austausch im NATO-Rat untereinander und auch mit dem chinesischen Botschafter in Brüssel wäre schon mal ein Anfang.

Rüstungskontrolle

Wir hatten in unseren Empfehlungen sehr deutlich dargelegt, dass die Allianz auch bei Rüstungskontrolle eine stärkere Rolle einnehmen sollte: sowohl als Forum für einen Austausch zu Herausforderungen als auch als Konsultationsmechanismus für künftige Abkommen. Zusätzlich sollte die NATO eine Agenda entwerfen, um im Kontext einer modernen Rüstungskontrolle bei militärischer Nutzung von neuen und disruptiven Technologien Normen und Standards zu setzen (vgl. Sandl 2021).

Gerade angesichts der Erosion globaler Rüstungskontrollregime während der vergangenen Jahre kann die Allianz im Rahmen ihrer Kernaufgabe der kooperativen Sicherheit eine wichtige Rolle spielen, sowohl hinsichtlich konsultativer Prozesse als auch als innovativer Normenentwickler und -setzer.

NATO-EU-Zusammenarbeit

Mit Blick auf 2030 sollten NATO und EU angesichts der globalen Bedrohungen geleitet sein durch eine gemeinsame Vision transatlantischer Einheit. Dafür muss wechselseitiges Vertrauen und Verständnis gestärkt werden – und zwar über wohlwollende Rhetorik hinaus, die auch jetzt wieder als kleinster gemeinsamer Nenner die Kommuniqué-Sprache zur EU dominiert. Für die Zusammenarbeit von NATO und EU schlagen wir daher eine Intensivierung der Kooperation vor, zum Beispiel ein gemeinsames Gipfeltreffen, um den aktuellen Status zu evaluieren, wechselseitiges Vertrauen zu stärken und bestehende Hürden zu überwinden. Dabei sollten Bereiche zum Ausbau der Zusammenarbeit identifiziert und priorisiert werden. Und eine feste, institutionalisierte Liaison zwischen den Stäben sollte eingerichtet werden.

Auf Seiten der Allianz sollten EU-Bemühungen zu einer verstärkten Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik begrüßt werden. Zugleich muss sichergestellt werden, dass es keine unnützen Duplikationen gibt und sich EU-Fähigkeiten nicht parallel entwickeln, sondern als Beitrag für eine faire transatlantische Lastenteilung innerhalb der NATO zur Geltung kommen.

Es ist bedauerlich, dass etwas so Offensichtliches wie die Stärkung der NATO-EU-Zusammenarbeit ein ums andere Mal aufgrund von kurzfristigen nationalen Partikularinteressen gebremst und eingedampft wird. Dazu zählt auch der deutsche Reflex, zumindest in der öffentlichen Debatte, bei sicherheitspolitischen Fragen lieber auf die EU zu verweisen, wissend dass dort die Rhetorik weiter ist als die Praxis.

Kernaufgaben im neuen Strategischen Konzept

Schließlich stellt sich eine grundsätzliche Frage zum Fortbestand der drei Kernaufgaben der Allianz in einem neuen Strategischen Konzept. Wir haben uns als Expertengruppe explizit dafür ausgesprochen, dass der Dreiklang aus kollektiver Verteidigung, Krisenmanagement und kooperativer Sicherheit unverändert weiter gelten sollte.

Bündnisverteidigung wird immer der zentrale Kern des Allianzgeschäfts sein, die Raison d’Être, durch die die Alliierten sich einander verpflichtet fühlen und die sie auch nach außen demonstrieren müssen. Eine inhaltliche Verkürzung, wie sie beispielsweise von osteuropäischen Bündnispartnern vorgebracht wird aufgrund der unmittelbaren Bedrohung durch Russland, hieße jedoch die Allianz zu „depolitisieren“.

Auch wenn ich mich im Rahmen unserer Diskussionen während des Reflexionsprozesses immer wieder für eine Reduzierung von Aufgaben, für ein Back to the Basics ausgesprochen habe, so muss jedoch auch konstatiert werden: Die Komplexität der globalen Herausforderungen fordert von der Allianz mehr als „nur“ Bündnisverteidigung. Dabei geht es nicht um die ständige Suche nach neuen Aufgaben – eine Tendenz von Organisationen, die auch bei der NATO durchaus kritisch zu beobachten ist. Es sind vielmehr sowohl die externen Bedürfnisse als auch die internen Forderungen, die eine breite Aufstellung nötig machen.

Das in den vergangenen dreißig Jahren aufgebaute globale Netzwerk an Partnerschaften hat einen praktischen Nutzen wie die Informationsgewinnung und Stärkung der Analysefähigkeit. Es war auch fester Bestandteil, um Partner für Krisenmanagementeinsätze zu gewinnen und zu befähigen. Aber der politische Dialog und die Maßnahmen zur Stärkung von Interoperabilität erhöhen auch die Legitimität der Allianz und leisten einen Beitrag zu globaler Sicherheit. Dies gilt es zu bewahren und, so einer unserer Vorschläge, durch Priorisierung der Partnerschaften und stärkere Fokussierung auf die Allianzinteressen an den richtigen Stellen zu intensivieren und effizienter zu gestalten.

Die künftige Ausgestaltung der Krisenmanagementrolle der Allianz war nicht Teil unseres Mandats im Reflexionsprozess. Dennoch haben wir auch dazu diskutiert, da sich die Frage zur Verankerung und Positionierung gegenüber den anderen beiden Kernaufgaben in einem Strategischen Konzept stellt. Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan wird für diese Debatte in der Allianz zusätzliche Fragen aufwerfen.

Aus meiner Zeit als Innen- und Verteidigungsminister bin ich über den Einsatz deutscher Soldaten, Polizisten und meine zahlreichen Besuche vor Ort Afghanistan persönlich und emotional eng verbunden. Es fällt mir aus dieser Position heraus schwer, zum jetzigen Zeitpunkt bereits analytisch neutral Lehren und Empfehlungen für die Zukunft von Krisenmanagement-Einsätzen der NATO abzuleiten. Aber in der Allianz müssen sich diese Fragen in kommenden Monaten gestellt werden. Bereits in den vergangenen Jahren zeichnete sich ein Trend ab, der einen sukzessiven Rückgang und Wandel vorschattierte. Es wird wohl künftig kaum Out-of-area-Kampfeinsätze mehr über die NATO geben, weder der Appetit der Alliierten noch die Blockade im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen werden dies zulassen. Stattdessen verlagern sich diese Einsätze zu freiwilligen Koalitionen wie der Anti-IS-Koalition in Irak und Syrien oder Operation Barkhane im Sahel.

Gleichzeitig werden die Anforderungen an Unterstützung durch Ertüchtigung und Ausstattung im Rahmen von Trainingsmissionen, wie aktuell beispielsweise in der NATO-Trainingsmission im Irak, zunehmen. Der Generalsekretär hat dies bereits als „Training Alliance“ konzeptionell vorskizziert, und es würde nahtlos an die Initiativen der Allianz zu „Projecting Stability“ seit dem Wales Gipfel 2014 anknüpfen. Die Nachfrage wäre auf jeden Fall vorhanden. Mögliche Überschneidungen mit EU-Trainingsmissionen ähnlichen Zuschnitts könnten in der Praxis durch regionale oder institutionelle Arbeitsteilung gelöst werden.

Aber die Frage, ob sich hier eine Lücke in den Fähigkeiten und im militärischen wie politischen Instrumentarium der Allianz ergibt, steht auf einem anderen Blatt. Es bedarf einer konzeptionellen Anpassung ähnlich des UN-Reviews zu Peacekeeping-Missionen vor einigen Jahren. Eine Beschneidung dieser Kernaufgabe in einem neuen Strategischen Konzept wäre außen- und sicherheitspolitisch das falsche Signal.

6 Deutschland als Brückenbauer

Der Reflexionsprozess zur Zukunft der Allianz reicht über die NATO hinaus. Er ist Teil der größeren Debatte einer transatlantischen Erneuerung – oder, um es mit den Worten der Außenminister Deutschlands und Frankreichs zu sagen: eines „transatlantischen New Deals“ (Auswärtiges Amt 2020a).

Auf der Grundlage unserer engen Verbindungen, unserer gemeinsamen Werte und Interessen müssen wir die transatlantische Verbundenheit (den „Transatlantic Bond“) an die globalen Herausforderungen anpassen. Nicht nur die NATO muss repariert werden. Die Regeln und Institutionen unserer internationalen Ordnung, die so lange unsere Sicherheit und unseren Wohlstand garantiert haben, befinden sich unter massivem Druck oder werden gar angegriffen. Angesichts einer zunehmenden Anzahl von Akteuren, die unsere regel- und wertebasierte internationale Ordnung zu unterminieren versuchen, müssen wir wieder gemeinsam in multilaterale Ansätze investieren, um die zentralen Themen unserer Zeit anzugehen.

Dies bedeutet nicht, dass mit der neuen US-Regierung wieder alles „in Butter“ ist. Unterschiede bleiben und werden sicher auch in Zukunft wieder aufkommen. Aber es gibt jetzt einen neuen Impuls, ein Momentum und die politische Bereitschaft, gemeinsam an zukunftsorientierten Lösungen zu arbeiten, und es gibt eine jahrzehntelange Vertrauensbasis im transatlantischen Verhältnis, die trägt. Solch ein transatlantischer „New Deal“ wird es Europa und den USA ermöglichen, weiterhin als Garanten für Frieden und Sicherheit, für Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte in dieser Welt einzustehen. Die Anpassung der NATO kann dafür der Startpunkt sein, ein Funke, der das transatlantische Feuer wieder entzündet.

Deutschland kommt dabei die Aufgabe eines Brückenbauers innerhalb dieser transatlantischen Gemeinschaft zu. Auf keinen Fall darf dies mit einer passiven Rolle oder gar mit einer Rückkehr zur Pendeldiplomatie verwechselt werden. Den Überlegungen, wir könnten als Deutschland, als EU ein komplett unabhängiger Pol zwischen den USA und China sein, muss eine klare Absage erteilt werden. Diese Vorstellung verkennt den Ernst der sicherheitspolitischen Lage sowie den Ursprung der aktuellen und künftigen Herausforderungen. Es verklärt zudem die tatsächlichen Fähigkeiten der EU. Ich halte deswegen wenig von dem Begriff der strategischen Autonomie.

Brückenbauen und Gleichgewicht herstellen heißt für Deutschland: Geschlossenheit des Westens zur Gestaltung einer regelbasierten internationalen Ordnung – ohne Blockbildung mit harten Fronten; Abschreckung und Verteidigung gegenüber Russland – aber unverändert auf der Basis der NATO-Russland-Grundakte mit echter Dialogbereitschaft und Dialogangeboten; Investition in neue Technologien – aber gleichzeitig Erarbeitung von Normen und Standards im Sinne einer modernen Rüstungskontrolle; Intensivierung der verteidigungs- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der EU – aber nicht auf Kosten des transatlantischen Bündnisses; Diskussion zur Anpassung einer gerechten Lasten- und Verantwortungsteilung – aber keine Scheinmanöver, um unsere Beiträge schönzureden.

Für die Ausgestaltung dieser aktiven Rolle bedarf es in Deutschland an zusätzlichen „Investitionen“ in Kommunikation und strategische Kultur – beides scheint mir, im Vergleich zum Verständnis der NATO während des Kalten Krieges, sukzessive abgenommen zu haben, auch und gerade in Deutschland. Zum einen müssen wir NATO-Expertise und sicherheitspolitisches Verständnis als strategische Kultur in Experten-Communities verbreitern – dafür schlagen wir in unserem Bericht die Gründung einer NATO-Universität und die Vergabe von (Harmel‑)Stipendien vor. Die sicherheitspolitische Gemeinde der Gleichgesinnten zu erweitern, reicht jedoch nicht. Zum anderen müssen wir daher aus dieser Blase stärker ausbrechen und die Diskussion mit der Öffentlichkeit voranbringen – über neue Formate und Methoden, zum Beispiel mehr digitale Kommunikation, mehr proaktive Information, weniger Geheimhaltung, weniger längliche Gipfel-Kommuniqués.

Für mich war es eine Ehre und ein Privileg als Ko-Vorsitzender, zusammen mit dem US-Kollegen und Freund Wess Mitchell, den Bericht der Expertengruppe mitzuverantworten. Die NATO wird entsprechende Reformen einleiten, sich ein neues Strategisches Konzept geben, sich neu und fit für die Zukunft aufstellen – dessen bin ich mir sicher. Wie tiefgreifend und substantiell – und damit auch nachhaltig – unsere Vorschläge umgesetzt werden, das hängt vom politischen Willen der Alliierten selbst ab.

Ob und wie Deutschland in seine zentrale Rolle im Bündnis, in den transatlantischen Beziehungen und in die Ausgestaltung des politischen Westens allgemein hineinfindet, diesen Anpassungsprozess vorantreibt, den Mut hat, klare Positionen zu beziehen und diese dann auch mit Substanz zu unterlegen – das bleibt eine Frage für die nächste Bundesregierung.