1 Amerika ist wieder im Spiel

„America is back“ – so vollmundig begann Präsident Joe Biden am 4. Februar 2021 seine erste außenpolitische Grundsatzrede nach Amtsübernahme (Biden zit. n. The White House 2021a). Zurück zu einer Außenpolitik, in der die Diplomatie im Mittelpunkt stehe, und zu einer Diplomatie, die in „America’s most cherished democratic values“ verwurzelt sein müsse (Biden zit. n. The White House 2021a). Zurück also zu einer internationalen Führungsrolle unter dem Leitstern Demokratie und der Mission, „die Welt im Kampf zur Verteidigung der Demokratie zu einen“ (Biden zit. n. The White House 2021a, eigene Übersetzung). Biden macht die Rettung der Demokratie zu einem seiner Hauptthemen und denkt dabei auch an Koalitionen gegen das Vordringen Chinas. Er hatte bereits im Wahlkampf mit einem „Summit for Democracy“ ein Vorhaben angekündigt, das zwar der Verteidigung der Demokratie selbst dienen soll, aber auch eine internationale Stoßrichtung gegen Autokratien hat. Diese normative Zielsetzung wird die Partnersuche in der Außenpolitik nicht unbedingt leicht machen, doch geht es Biden nicht zuletzt darum, die Legitimation US-amerikanischer Führung zu erneuern, und zwar inmitten einer Krise nicht nur der US-amerikanischen Demokratie.

Die US-amerikanische Demokratie ist in die Defensive geraten, das lässt sich mit Blick auf die von innen und außen kommenden Angriffe auf zentrale Institutionen wie den Rechtsstaat, die Wahlen und das Parlament kaum in Abrede stellen. Auch weltweit verlieren demokratische Werte und politische Freiheit an Terrain: Internationale Indizes zur Messung der politischen Regimequalität zeigen, dass seit 2005 die seit den 1970er-Jahren ansteigende Demokratisierung zum Halten gekommen ist und nun autoritären Politikformen auf dem Vormarsch sind, auch innerhalb sogenannter etablierter Demokratien wie den USA. Der renommierte Demokratie-Index der Economist Intelligence Unit (EIU) ordnet die USA als Flawed Democracy ein (The Economist 2020). Sind die USA angesichts dieser Lage wirklich imstande, die „Welt im Kampf zur Verteidigung der Demokratie zu einen“ (Biden zit. n. The White House 2021a, eigene Übersetzung)?

Die USA haben nicht erst seit dem Sturm auf das Kapitol durch die Anhänger*innen des US-Präsidenten Donald Trump als demokratische Führungsmacht an Glaubwürdigkeit verloren. Zum einen illustrierte der 6. Januar 2021 auf dramatische Weise, wie interne Demokratiedefizite ein politisches System aus den Angeln heben können: Polarisierung, Desinformation, Gewaltbereitschaft und nicht zuletzt struktureller Rassismus waren während der Präsidentschaft Trumps stark zutage getreten. Zwar fanden sich die politischen Kräfte der Mitte schnell wieder zusammen, um die Stärke des demokratischen Prozesses zu demonstrieren, doch zeigten die Übergriffe eben auch den Zusammenhalt und die Folgebereitschaft der Nutznießer*innen und Unterstützer*innen des Trumpismus sowie die hochgradige Vernetzung rechter Gewaltgruppen. Zum anderen haben die USA als Bündnispartner an Glaubwürdigkeit verloren, etwa infolge der fatalen Irak-Intervention, als Ursprungsland der weltweiten Finanzkrise 2008 und nicht zuletzt durch den Rückzug der USA aus multilateralen Zusammenhängen unter Präsident Trump, wie dem Pariser Klimaabkommen oder dem Nuklearabkommen (Joint Comprehensive Plan of Action) mit dem Iran. Dazu kommt die Unsicherheit darüber, wie dauerhaft US-Regierungen angesichts eines immer kleiner werdenden außenpolitischen Konsenses nach einem Machtwechsel an internationalen Vereinbarungen festhalten würdeFootnote 1. Im Bewusstsein dieses Vertrauensverlustes versprach Biden den demokratischen Bündnissen wieder Kraft zu verleihen. Er hält fest am Projekt eines „Gipfels für Demokratie“, zu dem er „in einer frühen Phase“ seiner Amtszeit einladen will (Biden zit. n. The White House 2021a, eigene Übersetzung). Was genau ist damit intendiert und welche Chancen und Folgen hätte eine solche Politik?

2 Bidens wertebasierter Multilateralismus

Biden stellt seine Außenpolitik damit anders als sein Vorgänger Trump unter ein demokratisch orientiertes Paradigma, verknüpft die Durchsetzung US-amerikanischer Interessen mit dem Einsatz für freiheitliche Werte und Demokratie. Er wirbt um seine potenziellen demokratischen Bündnispartner mit einem Mix aus politischen, ökonomischen und strategischen Argumenten:

On its own, the United States represents about a quarter of the global GDP. When we join together with fellow democracies, our strength more than doubles. China can’t afford to ignore more than half the global economy. That gives us substantial leverage to shape the rules of the road on everything from the environment to labor, trade, technology, and transparency, so they continue to reflect democratic interests and values. (Biden 2020)

Diese Programmatik hat mehrere Stoßrichtungen. Zum einen sieht sich die Biden-Administration vor der Herausforderung, das demokratische System der USA selbst vor dem Verfall zu bewahren – wobei Krisensymptome wie Polarisierung, Werteverfall, Ungerechtigkeit, mangelnde Glaubwürdigkeit oder fehlende Effizienz demokratische Staaten weltweit unter Druck setzen. Die meisten Ursachen der Krise sind dabei hausgemacht, doch gibt es auch externe Desinformationskampagnen zur Meinungsmanipulation und gezielte Angriffe auf demokratische Prozesse, betrieben von autoritären Staaten wie Russland oder dem IranFootnote 2. Ein Ziel dieses idealistischen Paradigmenwechsels ist also die Sicherung der Demokratie selbst.

Eine andere Bedeutungsebene dieses Aufrufs bezieht sich auf den Machtkonflikt der USA mit China, der mehr und mehr den Charakter eines Systemkonflikts zwischen freiheitlichen und autoritären Wertesystemen annimmt. Die stabile politische Ordnung in demokratischen Staaten ist für die US-Regierung auch ein Mittel zur Eindämmung des chinesischen Einflusses. China nimmt den Streit auf dieser Ebene an: Die beiden Außenminister Antony Blinken und Yang Jiechi gerieten bei der Pressekonferenz vor ihrem ersten Treffen am 18. März 2021 in Anchorage über die Legitimität des demokratischen Modells aneinander – das Treffen selbst soll danach konstruktiv gewesen sein. Allerdings gilt es für die US-Regierung, Demokratien und solchen Staaten, die zwischen den beiden Mächten stehen und kein Interesse an Konfrontation und Parteinahme haben, zumindest durch stabile Strukturen demokratischer Zusammenarbeit Beteiligungsangebote zu machen. Denn, und dies umschreibt die dritte Bedeutungsebene, liberale Staaten können sich in Bidens Verständnis besser gemeinsam um globale Probleme kümmern. Herausforderungen wie der Klimawandel, technologischer Fortschritt oder Migration werden immer komplexer, so schreibt es Biden in einem außenpolitischen Aufsatz in Foreign Affairs im Frühjahr 2020 (Biden 2020). Doch unterminiert das Vordringen autoritärer Herrschaft die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, diesen Herausforderungen im Geist der Kooperation zu begegnen. China könne sich nicht der halben weltweiten Wirtschaftskraft entgegenstellen, die die Demokratien aufbringen – ein Hebel um bei neuen Regeln liberale Werte umzusetzen. In dieser Logik ist die Förderung der Demokratie auch ein Mittel zur Stärkung der internationalen Ordnung. Doch gilt umgekehrt auch, was Gilford John Ikenberry zuspitzt: Freiheitliche Demokratien, ähnlich wie Orchideen, gedeihen in einer bestimmten Umgebung am besten. Kooperative und freiheitliche internationale Ordnungsstrukturen sind das Umfeld, in denen Demokratien am stabilsten funktionieren (Ikenberry 2020, S. 307–308). Innen- und außenpolitische Motive hinter dem Paradigma der Demokratie sind also eng miteinander verbunden.

Bidens außenpolitischer Kurs hat also aktuelle Probleme im Visier, ist dabei aber verankert in der außenpolitischen Tradition des liberalen Internationalismus, aufbauend auf einem idealistischen Verständnis, nach dem auch die Außenpolitik von den Leitprinzipien des innenpolitischen Wertesystems getragen werden soll. Die US-amerikanische Führungsrolle in den Umbruchphasen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Kalten Krieges zielte auf die Etablierung freiheitlicher Prinzipien und internationaler Organisationen, um z. B. Menschenrechte, Freihandel oder eine Herrschaft des Rechtes auch auf internationaler Ebene normativ zu festigen (wobei sich die USA immer wieder selbst größere Freizügigkeit erlauben). In der Geschichte der US-amerikanischen Außenpolitik wechseln sich Phasen des liberalen und des konservativen Internationalismus ab, mal mehr mal weniger verbunden mit der Bereitschaft zu militärischen Interventionen und Zwangsmitteln. Gelegentlich setzt sich aber auch das Leitbild des Isolationismus durch, also der Rückzug auf die innenpolitischen Belange und die Fokussierung auf die kurzfristige Durchsetzung nationaler Interessen – ein Leitbild, mit dem der Populismus Trumpscher Prägung geliebäugelt hatte. Bidens Werteorientierung verspricht demgegenüber eine Wiederbelebung der US-amerikanischen Führungsrolle. Dabei ist die Demokratie, mit einem Schuss Pragmatismus, besser als Leitbild geeignet als etwa Offenheit und Globalisierung: Biden zeigt sich gegenüber neuen Freihandelsabkommen skeptisch und hat der US-Verwaltung kurz nach seiner Vereidigung das „Buy American“-Prinzip verordnet. Die Rahmenbedingungen für eine solche Rolle und eine vertiefte demokratische Verbrüderung haben sich allerdings verschlechtert.

3 Demokratien als „best friends forever“?

Demokratien arbeiten bilateral oder in multilateralen Organisationen routiniert und vertrauensvoll zusammen. Sie haben Verfahren, um politische Konflikte friedlich beizulegen. Insofern ist die Hoffnung auf eine vertiefte Kooperation der Demokratien beinahe trivial. Nachfragen sind aber berechtigt, um die Perspektiven von Bidens Projekt besser zu verstehen. Warum arbeiten Demokratien besser zusammen, welche Mechanismen führen sie zueinander? Wo liegen Grenzen dieser Gemeinschaftlichkeit? Und welche Staaten übersieht man bei der demokratischen Partnersuche?

Ein guter Grund, dass Demokratien zusammenarbeiten, ist ihre Friedfertigkeit untereinander, gemäß dem Kantschen Theorem des demokratischen Friedens. Laut diesem Theorem verhalten sich Staaten, in denen das Volk souverän ist (Immanuel Kant spricht von Republiken), außenpolitisch schon allein deshalb eher friedlich, weil eine Bürgerschaft, die die Kosten eines Krieges selbst tragen muss, kaum für den Krieg stimmen wirdFootnote 3. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich allerdings ein empirischer Doppelbefund: Demokratien sind tatsächlich friedlich – allerdings nur untereinander. Diese von den Demokratien gebildeten Inseln des Friedens sind zudem, wie Studien zeigen, zugleich Zonen besonders enger politischer Kooperation und ökonomischer Verflechtung. Es lässt sich nur schwer klären, welcher Faktor für diesen Umstand primär verantwortlich ist: die Regimequalität und das Vertrauen, das ähnlich regierten Staaten entgegengebracht wird, weil eine demokratisch legitimierte Regierung in ihren Entscheidungen als berechenbar gilt (Trumps Amtsstil steht freilich im eklatanten Widerspruch zu dieser AnnahmeFootnote 4), oder aber der Glauben an die verbindende und stabilisierende Kraft des Handels und der daraus resultierende Nutzen. Die Empirie zeigt jedenfalls zweifelsfrei, dass demokratisch regierte Länder in deutlich mehr Allianzen eingebunden sind, was mit dem gegenseitigen Vertrauen erklärt wird. Des Weiteren können demokratische Regierungen ihre außenpolitische Zusammenarbeit mit Staaten leichter gegenüber dem Wahlvolk legitimieren, wenn diese Partner das eigene Wertesystem teilenFootnote 5.

Aus der gemeinsamen Wertebasis entsteht freilich nicht automatisch Harmonie. Demokratien haben schon geopolitisch bedingt individuelle strategische Probleme und außenpolitische Positionen. Gerade in der Positionierung gegenüber den autoritären Kontrahenten wie China und Russland wünschen sich die demokratischen Partner mehr Eigenständigkeit, um die Eindämmung und mögliche Partnerschaft selbst auszubalancieren. Das zeigt sich gerade deutlich beim Streit zwischen Deutschland und den USA (und den europäischen Partnern) um die Fertigstellung der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2. Nichtsdestotrotz gibt es gerade beim Schutz der politischen Systeme und der Krise der Demokratie viele Krisensymptome und Interessen, die demokratische Staaten teilen.

4 Die vorsichtigen Verbündeten

Allerdings gibt es beim US-amerikanischen Projekt der Allianzbildung mit Demokratien auch bei Verbündeten Grund zur Skepsis. Die Erinnerung ist noch frisch an die gescheiterten Versuche während des „unilateralen Moments“ der Weltpolitik mit der USA als verbliebener Supermacht, Demokratisierung im Irak oder Afghanistan mit einer Mischung aus militärischer Intervention und ziviler Aufbauhilfe durchzusetzen. Auch 2003 warb die US-Regierung schließlich für eine „Allianz der Demokratien“, als sie im UN-Sicherheitsrat keine Zustimmung und somit keine Legitimation für die Intervention in den Irak erreichen konnte. Insofern ist es verständlich, dass potenzielle Bündnispartner der USA erst einmal skeptisch sind und in einer solchen Allianz vor allen Dingen ein Machtinstrument der USA sehen. Biden zeigt aber wenig interventionistische Neigungen und hat mit dem naiven Selbstvertrauen und der militarisierten Hybris der Neokonservativen der Jahrtausendwende wenig gemein.

Die USA unter Biden orientieren die Idee der demokratischen Zusammenarbeit, bei allem Sendungsbewusstsein, an den praktischen Herausforderungen. Das könnte dem deutschen Pragmatismus entgegenkommen. Bundeskanzlerin Angela Merkels spröde Reaktion auf Bidens Hymne auf die Demokratie bei der virtuellen Münchner Sicherheitskonferenz Anfang März 2021 spiegelt demgegenüber allerdings auch Vorsicht wider. Sie zeigt Erleichterung über neue westliche Führung im Multilateralismus und das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten, aber auch eine pragmatische Orientierung am Handeln, an Ergebnissen mit Blick auf internationale Konflikte und Herausforderungen. Und das heißt eben, dass westliche Staaten auch mit autoritären Kontrahenten zusammenarbeiten müssen, um Stabilität herzustellen. Auch solche Staaten und unvollkommene Demokratien werden als Partner gebraucht werden, um globale Fragen wie den Klimawandel kooperativ zu lösen. Der französische und der deutsche Außenminister hatten im April 2019, in Reaktion auf die Angriffe Trumps auf die internationale Ordnung, eine Allianz für den Multilateralismus ins Leben gerufen. Beide Länder wollten einen neuen Handlungsrahmen schaffen, der auch nichtwestliche und nur schwach demokratische Partner anspricht. Das gleiche ergebnisorientierte Denken steckt in den inklusiven Indo-Pazifik-Leitlinien der Bundesregierung aus dem letzten Herbst, die zwar neben China neue Partnerschaften aufbauen soll, vor allem aber neue Zusammenarbeit in eine Reihe von Governance-Bereichen anstreben. Biden richtet das Projekt der Zusammenarbeit der Demokratien dagegen dezidiert gegen China und macht es damit den europäischen und asiatischen Partnern schwer, mit voller Kraft mitzugehen. Die Europäer definieren gerade selbst ihren neuen Ansatz, die Wirtschaftskooperation mit China mit höherer Wachsamkeit und Instrumenten wie dem Foreign Investment Screening auszubalancieren. Und die asiatischen Partner wissen genau, dass eine Verschärfung des Konfliktes zwischen den USA und China ihre Wirtschafts- und Sicherheitspolitik direkt unter Druck setzt. Eine Aufwertung liberaler Werte wie Demokratie und Menschenrechte in der Chinapolitik macht für sie das Spielfeld nur noch komplizierter und unübersichtlicher.

Aus diesem Balanceakt und dem US-amerikanischen Narrativ eines Zusammenstehens der Demokraten gegen autoritäre Staaten wie China entstehen nun Ängste vor einem Entrapment, diesmal in eine Konfrontation mit China gezogen zu werden, oder die Kontrolle über die Eskalation abzugeben. Klar ist, dass eine dichotomische Devise „Entweder mit China oder für die freiheitlichen Werte“ keine Mehrheit findet und außenpolitische Handlungsoptionen verbaut. Das Dilemma schaffen allerdings nicht die US-Amerikaner: Vielmehr ist die Vorstellung von der Universalität der Menschen- und Bürgerrechte und der diesbezüglichen Schutzverantwortung der internationalen Staatengemeinschaft ja auch den Europäern eigen. Dass es eine Verhärtung im Verhältnis zu China bedeutet, wenn die Europäer diese Positionen auch in Taten umsetzen, zeigt die jüngste Auseinandersetzung über EU-Sanktionen gegen die Unterdrückung der Uiguren und chinesische Sanktionen gegen europäische Parlamentarier*innen und Wissenschaftler*innen. Das ändert nichts daran, dass die Positionierung der Europäer richtig und trotz schwieriger Kompromissfindung Ausdruck ihrer eigenen wertebasierten Identität ist (Brunsden und Yang 2021).

Ein Leuchtturmprojekt der Versammlung der Demokratien kann nun an der mangelnden Bereitschaft scheitern, das Verhältnis zu den autoritären Mächten als den alles prägenden Systemkonflikt zu verstehen – vor allem, wenn es den Organisatoren um schnelle Resultate und symbolische Einigkeit gehen sollte. Das Projekt könnte aber auch den Anstoß geben für einen Prozess, in dessen Verlauf der Westen und die demokratischen Partner nach innen gestärkt werden und bei ihrem balancierten Umgang mit den autoritären Herausforderern nach Gemeinsamkeiten untereinander suchen.

5 Gipfel im Nebel

Biden ist mit dem Projekt eines Summit for Democracy in seine Präsidentschaft gegangen und wird daran festhalten. Die Pandemie und die Ereignisse vom 6. Januar 2021 haben das Thema auf die lange Bank geschoben, aber die Unterstützung dafür ist immer noch hoch. Außer dem großartigen Titel ist von Bidens schon im Wahlkampf versprochenen Gipfel für die Demokratie bislang wenig Konkretes bekannt. Hinter dem Projekt können eine fokussierte Abstimmung zum Schutz der Demokratie stecken, eine Allianzbildung gegen China oder sogar eine Art Neben-Multilateralismus. Biden sendet unterschiedliche Signale.

Die Publikationen und Reden der Biden-Kampagne verknüpfen verschiedene Erwartungen und Konzepte mit einem solchen Gipfel: Eine 2019 veröffentlichte Wahlplattform von Biden schlägt vor, die teilnehmenden Länder sollten Selbstverpflichtungen in drei Bereichen eingehen: zur Korruptionsbekämpfung, zur Abwehr von Autoritarismus (u. a. durch den Schutz von Wahlen) und der Sicherung von Menschenrechten im Land und weltweit (Biden 2019). Dabei sollen auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und der private Sektor einbezogen werden: Vor allem die Tech-Riesen und ihre Social-Media-Plattformen sollen sich verpflichten, ihre Dienste illiberalen Kräften nicht zur Verfügung zu stellen. Folgt man diesem Konzept wäre der Summit for Democracy der Versuch, mit allen Akteuren, die dazu willens sind, Governance-Normen auszubilden, die demokratische Werte und Praxis schützen und von staatlichen wie privaten Akteuren getragen werden. Dies wäre dann freilich weniger ein „Gipfel“ im herkömmlichen Sinne als eine Art internationaler runder Tisch.

Die Idee ist nicht neu. Genau genommen ist diese Zielformulierung auch diejenige des seit 2017 jährlich stattfindenden Copenhagen Summit for Democracy der Stiftung Alliance of Democracies, die von verschiedenen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren zur Verteidigung von Demokratie und Marktwirtschaft organisiert wird, aber nicht den Charakter einer Regierungskonferenz hat. Tatsächlich wurde diese Stiftung gegründet, um nach der Wahl Trumps zum Präsidenten angesichts des von ihm auf der internationalen Bühne hinterlassenen Vakuums das Anliegen der Demokratieförderung unter US-amerikanischer Führung und im US-amerikanischen Sinne weiter zu betreiben. Mitgründer und Vorsitzender ist der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, der sich in verschiedenen europäischen Medien immer wieder für eine klare Strategie gegenüber China stark gemacht hat und vor dem wirtschaftlichen und politischen Machtgewinn der kommenden Supermacht infolge der Corona-Pandemie warnt (Rasmussen 2020). China hat diese Organisation inzwischen mit Sanktionen belegt. Die Vermutung liegt nahe, es sei das außenpolitisch-strategische Ziel des Gipfelprojekts, die in ihren geostrategischen Interessen durchaus diversen demokratisch verfassten Staaten gemeinsam auf China als Gegner einzuschwören. Diese Fokussierung ist bei den europäischen Staaten noch lange nicht erfolgt. Es ist bezeichnend, dass der französische Präsident Emmanuel Macron auf der Münchner Sicherheitskonferenz in seiner Rede China noch nicht einmal erwähnt hat.

Auch im Rahmen der NATO wird gerade erst nach gemeinsamen Ansätzen im Umgang mit China gesucht. Die Allianz richtet seit ihrer Gründung den Blick auf die europäische Bedrohungslage, auf die Sowjetunion und nach 2014 wieder auf Russland, für viele Mitglieder der wichtigste Gegner. Allerdings ist die NATO derzeit wieder einmal dabei, sich politisch neu zu definieren. Im aktuellen Kontext könnte ein von den USA organisierter globaler Demokratiegipfel aber kontraproduktiv wirken, weil erstens die USA nicht (mehr) als demokratische Führungsnation anerkannt wird und zweitens ein unter ihrer Führung organisierter Gipfel als strategische Einleitung eines neuen Kalten Krieges verstanden werden könnte.

6 Komplexe Agenden erfordern flexible Formate

Ein Gipfeltreffen sorgt immer für Aufmerksamkeit für ein Thema, aber auch für große Erwartungen. Differenzen und Fehlschläge treten schmerzhaft deutlich ans Licht. Eine großspurige Ankündigung, ein Gipfeltreffen würde den Krisenzustand der Demokratien beenden und ihre Handlungsfähigkeit multiplizieren können, macht das Problem kleiner als es ist. Klare Zielvorgaben und Erwartungsmanagement sind also erste Präsidentenpflicht. Summit muss mehr bedeuten als ein hochrangiges Treffen, vielmehr müssten die Teilnehmer*innen eine Struktur etablieren, Regelmäßigkeit vereinbaren, einen administrativen Unterbau schaffen, dabei aber flexible Formen der Kooperation ermöglichen. Die von Biden mehrfach als Vorbild genannten Nukleargipfel unter US-Präsident Barack Obama sind als Format eher unpassend. Zwar deutet das Vorbild immerhin darauf hin, dass der Gipfel als sich wiederholendes Kooperationsforum gedacht ist, in dem Vereinbarungen getroffen, Standards gesetzt und erreichte Ergebnisse verglichen werden können. Allerdings geht es beim Demokratiegipfel anders als bei den Nukleargipfeln weniger um hochkarätige Regierungsentscheidungen, zu denen sich die Staats- und Regierungschefs verpflichten, als vielmehr um politische Glaubwürdigkeit, Vertrauen unter den Demokratien, den Vergleich von Best Practices, Kommunikation, vielleicht auch um Identitätsbildung und natürlich um Resilienz. Das bedeutet Arbeit auf vielen Ebenen.

Um sich nicht in ein Dilemma zu manövrieren, große Ankündigungen machen weitreichende Ergebnisse eher schwerer, sollten die verschiedenen von Biden genannten Anliegen des Demokratiegipfels getrennt in verschiedenen Foren und Formaten behandelt und bearbeitet werden. Bei vielem wäre dann auch nicht eine Einladung, sondern das Kriterium der Kooperationsfähigkeit als Ausgangspunkt sinnvoll. Vom Prinzip her entspräche das eher der Allianz für den Multilateralismus, durch die Partner für die Festigung einer multilateralen Ordnung gesucht werden, die aber demokratische Verfasstheit nicht unbedingt zur Teilnahmebedingung macht. Zwar gehören die meisten Mitglieder dieser Liga an, aber mit Äthiopien, Jordanien oder Tunesien sind auch fragile Demokratien dabei. Dieses Format wäre etwas anderes als eine Allianz der Demokratien, die sich auf dem globalen Gipfel der Demokratie trifft. Das heißt nicht, dass ein Gipfel für die Demokratie angesichts der internationalen Lage keinen Sinn ergibt, die Erwartungen müssten allerdings klar umrissen und der Gipfel in eine breitere Strategie zum Schutz der Demokratie nach innen und Verteidigung nach außen eingebettet werden. Flexibilität könnte auch bei der Einladungsliste gelten. Die Frage, wer eingeladen werden soll, dürfte für Ärger sorgen: Eingespielte Partner wie die D10Footnote 6 müssen dabei sein. Sollten aber NATO-Bündnispartner wie die Türkei oder auch Ungarn – beide illiberale, defekte Demokratien – draußen bleiben oder gerade wegen ihrer Demokratiedefizite teilnehmen? Wie sieht es mit dem D10-Mitglied Indien aus, dass sich brüsten darf, die größte Demokratie der Welt zu sein aber zunehmend illiberale Muster der Regierung zulässt, wie die Unterdrückung der Opposition? Wankende Demokratien können nicht einfach außen vorgelassen werden, denn dies würde wie ein Zurückweichen vor dem Problem aussehen. Für den Fall, dass diese Staaten keinen Beitrag leisten oder für Obstruktion sorgen, sind sie bei individuell gestalteten Formaten eben später nicht mehr dabei. Ein weiteres Problem ist der Gastgeber. Die USA werden als demokratische Führungsmacht auftreten, dabei aber schnell die Grenzen ihres Einflusses erkennen. Washington sollte sich zurücknehmen und nicht als Heerführer, sondern als Primus inter Pares auftreten. Denn nur wenn die USA die Demokratiekrise zu Hause bewältigen, können sie nach außen wieder als Vorreiter auftreten. Politische Einigkeit ist gefragt, ein aktives Programm zum Abbau der Polarisierung, eine nationale Anstrengung gegen Rassismus, die Liste ist lang. Die Handlungsfähigkeit des US-amerikanischen Systems muss wiederhergestellt werden. Den Aufschlag dazu haben die Demokraten im Kongress gemacht und einen innenpolitischen Reformprozess in Gang gesetzt. Ein umfassender Gesetzentwurf unter dem Titel „For the People Act“ zur Absicherung des Wahlrechts und Gewährleistung von mehr Transparenz bei der Politikfinanzierung steht bereits auf der Agenda des Kongresses. Ohne Reformen der Geschäftsordnung des Kongresses selbst und die Abschaffung des Filibuster hat dieser Gesetzentwurf freilich wenig Aussicht auf Erfolg in einem politischen Kontext, der immer noch von extremer Polarisierung und nach wie vor von der Selbstfesselung der republikanischen Partei und ihrer destruktiven Loyalität gegenüber Trump geprägt ist. Bidens Werben um parteiübergreifende Reformallianzen und Aussöhnung in der US-amerikanischen Gesellschaft ist mehr als eine innenpolitische Machtfrage. Die nach wie vor mit einer erheblichen Anhängerschaft ausgestatteten radikalen populistischen Kräfte und ihre drohende Wiederkehr bei den nächsten Wahlen bedrohen die amerikanische Demokratie und damit eine zentrale Ressource für Macht und Einfluss der USA in der Welt. Wie die Anfang März 2021 publizierten vorläufigen strategischen Leitlinien der Biden-Administration (The White House 2021b) und die Stellungnahme des Secretary of State Antony Blinken zeigen, hat die Biden-Administration das auch verstanden: „Shoring up our democracy is a foreign policy imperative. Otherwise, we play right into the hands of adversaries and competitors like Russia and China, who seize every opportunity to sow doubts about the strength of our democracy“ (Blinken zit. n. U.S. Department of State 2021).

7 Eine Einladung, die Berlin nicht ablehnen kann

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz ist Präsident Biden nicht als kalter Krieger unter dem Banner Demokratie aufgetreten, sondern mischte in seiner Rede Idealismus mit typisch US-amerikanischem Pragmatismus: „we cannot focus only on the competition among countries that threaten to divide the world, or only on global challenges that threaten to sink us all together if we fail to cooperate. We must do both, working in lockstep with our allies and partners“ (Biden zit. n. The White House 2021c). Die Einladung zu einem Demokratiegipfel ist ein Angebot zur Kooperation, das Deutschland und die anderen demokratischen Staaten annehmen sollten, ohne Angst vor US-amerikanischem Pathos, aber mit einem Blick auf praktische Ergebnisse, der auch der US-Politik zu eigen ist.

Deutschland sieht sich als natürlicher Partner der USA und sollte sich dieser Rolle stellen. Koalitionen und ein Gipfel für die Demokratie liegen auch im deutschen Interesse. Steht Biden am Ende des Gipfels als Verlierer da, kann das auch nicht im Interesse der Europäer liegen, denn dies hätte Auswirkungen auf die kommenden Wahlkämpfe in den USA. Berlin sollte sich deshalb dafür engagieren, dass die Agenda des Gipfels eng fokussiert auf den Schutz der Demokratie gegenüber inneren wie äußeren Krisensymptomen bleibt. Dazu sollte klar signalisiert werden, dass die Eindämmung Chinas nicht das erste Motiv des Gipfels sein kann und der sinoamerikanische Konflikt nicht zur Triebkraft des Unternehmens wird. Auch kann der Gipfel nur den Anstoß geben. Gefragt sind verschiedene Formate für verschiedene Problemkomplexe, wie z. B. die Regulierung von Big-Tech-Plattformen und Sicherheit von Wahlen und demokratischen Prozessen, die eben auch einzeln behandelt werden müssen. Aus der so gestärkten Zusammenarbeit der demokratischen Partner entsteht auch eine bessere Positionierung gegenüber China, ganz ohne Drohgebärden.

Eine wichtige Message der deutschen Politik muss aber auch sein, dass die gut funktionierende Zusammenarbeit der Demokratien in den G7, der NATO oder der EU nicht dupliziert werden und es keinen Konflikt mit den Aktivitäten im Rahmen der Allianz für den Multilateralismus geben darf. Das Nebeneinander überregionaler und regionaler Prozesse ist richtig und muss Impulse durch die Gipfelorganisation erhalten, keine Blockade. Deutschland kann sich dafür einsetzen, dass es eine gesunde Arbeitsteilung der unterschiedlichen Institutionen mit ihrem individuellen Portfolio geben muss. So hat eine Expertengruppe im jüngsten Bericht zur Zukunft der NATO die Gründung eines Zentrums für Resilienz von Demokratie vorgeschlagen (NATO 2020). Die Allianz sollte sich aber vorrangig um die sicherheitspolitischen Aspekte der Systemkonflikte mit Russland und China kümmern. Die EU dagegen muss die politischen Auswirkungen einer wirtschaftlichen Verflechtung mit China im Auge haben. All das trägt zur Gemeinsamkeit bei, aber eine transatlantisch-transpazifische Struktur zum Schutz der Demokratie könnte mehr Partner einbinden.

Trotz aller berechtigten Skepsis gegenüber Bidens Vorschlägen ist jedenfalls seiner Diagnose zuzustimmen: Die Krise der Demokratien und die Angriffe illiberaler Kräfte stellen eine sicherheitspolitische Bedrohungslage dar und erfordern eine koordinierte strategische Antwort. Das Motto, unter dem der US-amerikanische Präsident sein Regierungsprogramm für die USA nach der Pandemie angekündigt hat, sollte auch für den Wiederaufbau und die Kalibrierung der multilateralen Kooperation angesichts der von der Trump-Administration hinterlassenen diplomatischen Trümmerlandschaft gelten: „Building back better“.