1 Einleitung

Europe has led the efforts in Paris to get an ambitious and legally binding global climate deal. We have forged alliances and others have joined. […] Now, what has been promised must be delivered. Europe will continue to lead the global low-carbon transition we have agreed. (Miguel Arias Cañete 2015)Footnote 1

Während unmittelbar nach der Einigung auf das Pariser Abkommen im Dezember 2015 die Erwartungen sehr groß waren, haben sich die Voraussetzungen für eine effektive internationale Klimapolitik in den Jahren danach eher verschlechtert. Nicht nur haben sich die USA unter Präsident Donald Trump – nach einer vergleichsweise kooperativen Phase während der Obama-Administration – aus der internationalen Klimapolitik weitgehend verabschiedet (Parker und Karlsson 2018), sondern auch China zeigte sich bis vor kurzem noch zurückhaltend, was die eigenen Klimaschutzverpflichtungen betrifft (Pike 2019; Dröge 2019). Die Ankündigung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten, Joe Biden, dem Pariser Abkommen wieder beizutreten sowie die Ankündigung Chinas, bis 2060 Klimaneutralität zu erreichen, könnten zwar eine neue Dynamik in der internationalen Klimapolitik bewirken, allerdings ist in beiden Fällen noch offen, inwiefern diese Ankündigungen auch umgesetzt werden können bzw. zu einem ambitionierten Klimaschutz führen.Footnote 2 Fest steht, dass die beiden größten Treibhausgasemittenten, die für eine erfolgreiche Bekämpfung des Klimawandels unabdingbar sind, in den ersten Jahren seit der Einigung auf das Pariser Abkommen kaum eine sichtbare Führungsrolle in der internationalen Klimapolitik übernahmen. Auch wenn der sogenannte „Trump effect“ (Mathiesen 2019; Curtin 2018) nicht überbewert werden sollte und an etablierte klimaskeptische Positionierungen der USA anknüpft (MacNeil und Paterson 2020), so lässt sich doch eine gewisse „Führungslücke“ (Dröge 2019) in der multilateralen Klimapolitik ausmachen. Zudem ist mit dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro ein weiterer Klimaskeptiker auf internationaler Bühne lautstark präsent. Und das zu einem kritischen Zeitpunkt, in dem die Vertragsparteien des Pariser Abkommens eigentlich ambitioniertere Klimaschutzpläne, sogenannte national festgelegte Beiträge (nationally determined contributions, NDCs), vorlegen müssten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage mit neuer Dringlichkeit, ob die Europäische Union eine Führungsrolle einnehmen und zur Umsetzung des Pariser Abkommens effektiv beitragen kann.

Die EU und ihre 27 Mitgliedstaaten haben zwar in den letzten Jahren an strukturellem Einfluss im Verhältnis zu China und den USA in der internationalen Klimapolitik verloren, dennoch sind die Erwartungen an die EU – als immer noch drittgrößter Emittent von Treibhausgasen und eine der drei gößten Volkswirtschaften – weiterhin hochgesteckt (Obergassel et al. 2020, S. 21). Dies hängt auch mit ihrer bisher vergleichsweise großen Gestaltungskraft in diesem Feld der internationalen Politik zusammen: Die EU ist die einzige Regionalorganisation, die auch Vertragspartei der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) ist und die in den letzten Jahrzehnten maßgeblich den UNFCCC-Prozess mitgeprägt hat. Die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedstaaten haben hierzu ein gut koordiniertes Vorgehen institutionalisiert, sodass die EU unter Leitung der jeweiligen EU-Ratspräsidentschaft mit einer Stimme in den UN-Klimaverhandlungen spricht (Vogler und Stephan 2007; Oberthür und Roche Kelly 2008; Oberthür 2016). Sie wird so weitgehend als „unitary actor“ (Oberthür und Roche Kelly 2008, S. 38) auf internationaler Ebene wahrgenommen. Und mehr noch, die EU verfolgt spätestens seit Anfang der 1990er-Jahre eine „self-declared leadership role“ (Andresen und Agrawala 2002, S. 45) und wird auch von anderen Akteuren – neben den USA und China – als ein wichtiger Leader in den internationalen Klimaverhandlungen anerkannt (Parker et al. 2017, 2015).

Auch jenseits der internationalen Bühne wird die EU von Bürger*innen als Referenzpunkt für ambitionierten Klimaschutz wahrgenommen (Europäische Kommission 2019a). Die Fridays-for-Future-Bewegung, die in den EU-Staaten ihren Ausgangspunkt hatte und dort auch besonders aktiv ist, hat die Aufmerksamkeit für das Thema Klimawandel nochmals verstärkt. Nicht zuletzt zeigte sich dies in den Ergebnissen der Europawahl im Mai 2019, bei der grüne Parteien insbesondere in Nord- und Westeuropa starke Zugewinne verbuchen konnten (Pearson und Rüdig 2020). Der sogenannte „Greta effect“ (Mathiesen 2019) erhöht somit den gesellschaftlichen Druck auf die EU, dem selbst formulierten Führungsanspruch Taten folgen zu lassen, d. h. konkret zur Umsetzung des Pariser Abkommens beizutragen.

Kann die EU also in dieser kritischen Phase der internationalen Klimapolitik eine Führungsrolle übernehmen? Um diese Leitfrage zu beantworten, werden grundlegende Anforderungen an Leadership-Kandidaten diskutiert, d. h. die supply side von Leadership. Diese Perspektive dominiert zwar in der Forschung (vgl. Parker et al. 2015; Torney 2019), dennoch wird mit der vorliegenden Studie ein neuer Beitrag zur Forschungsliteratur geleistet. Denn diese hat sich bisher primär mit Leadership in Phasen der Bildung und Ausgestaltung von internationalen Regimen befasst (Andresen und Agrawala 2002; Wurzel et al. 2019; Young 1991; Underdal 1994). Charles F. Parker und Christer Karlsson betonen vor dem Hintergrund, dass sich die Forschung zukünftig stärker mit „leadership in the post-negotiation and implementation phases of multilateral cooperative endeavours“ (Parker und Karlsson 2014, S. 580) auseinandersetzen sollte. Diese Forschungslücke gilt im besonderen Maße für die Leadership-Literatur im Bereich der internationalen Klimapolitik, die in den letzten Jahren primär auf die Aushandlung eines Nachfolge-Abkommens zum Kyoto-Protokoll ausgerichtet war. Eine wesentliche Erkenntnis dieser Forschung ist, dass die EU in diesem Prozess eine wichtige Rolle gespielt hat, wobei die jeweils dominanten Leadership-Modi über die Zeit variierten: Es lässt sich insbesondere ein Wandel vom normbasierten directional ledadership (bis zur UN-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009) hin zu einer pragmatischeren Leadiator-Rolle bzw. entrepreneurial leadership bis zur Verabschiedung des Pariser Abkommens 2015 identifizieren (u. a. Van Shaik und Shunz 2012; Bäckstrand und Elgström 2013; Parker et al. 2017; Oberthür und Groen 2017). Ob und wie die EU auch nach Paris eine Führungsrolle ausfüllen kann, ist bisher hingegen wenig systematisch erforscht (Oberthür 2016).

Die Post-Paris-Phase ermöglicht also bestehende Forschungsfragen im Kontext des neuen UN-Klimaregimes, das sich aus den Normen, Prinzipien, Regeln und Verfahren der UN-Klimarahmenkonvention sowie dem neuen Pariser Abkommen konstituiert, zu stellen und auch neue Problemstellungen aufzuwerfen. So ließe sich etwas zugespitzt fragen, ob EU-Leadership in der internationalen Klimapolitik überhaupt noch notwendig ist, da ein klar definiertes kollektives Klimaschutzziel nun vorliegt und die Umsetzung doch primär auf nationaler Ebene erfolgen muss. Zudem sind neben dem multilateralen UNFCCC-Prozess weitere Handlungsarenen für den Klimaschutz von Relevanz. In dem Zusammenhang rücken auch Akteure auf der subnationalen Ebene (insbesondere Städte) sowie aus der Zivilgesellschaft und private Akteure (insbesondere Unternehmen) in den Fokus der Klimaforschung (Wurzel et al. 2019). Dennoch konstituiert das multilaterale Pariser Abkommen und die hierin angestrebte Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf unter 2 °C bzw. 1,5 °C einen wichtigen Referenzpunkt in der von vielen Akteuren und Handlungsarenen geprägten Klima-Governance (Oberthür 2016; Wurzel et al. 2019). Die anstehende Umsetzung des Pariser Abkommens und die in dem Zusammenhang bestehenden Erwartungen an die EU verdeutlichen, dass die Forschung zur supply side von Leadership und speziell zur EU-Führungsrolle nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch relevant bleiben.

Der vorliegende Beitrag untersucht vor diesem Hintergrund, ob die EU eine Führungsrolle nach Paris einnehmen kann. Dazu werden drei Analyseschritte vollzogen:

  1. 1.

    Zuerst werden theoretische Kriterien für die Bewertung von Leadership herausgearbeitet. Im Fokus steht dabei die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Form von Leadership in der Implementationsphase effektiv ist. Es wird auf Basis dieser theoretischen Vorüberlegungen argumentiert, dass in der Implementationsphase internationaler Abkommen grundsätzlich eine Vorreiterrolle – d. h. directional leadership – besondere Relevanz erhält, um kollektive Handlungsprobleme zu überwinden bzw. für Compliance zu sorgen.

  2. 2.

    Diese These wird dann auf die EU angewendet und im Hinblick auf die spezifischen Anforderungen an EU-Leadership im Kontext des neuen UN-Klimaregimes überprüft. Die theoretisch abgeleitete These kann für die EU in der aktuellen Klimapolitik bestätigt werden, da das Pariser Abkommen noch stärker als die Vorgänger-Abkommen auf ambitionierte freiwillige Klimaschutzmaßnahmen der Vertragsparteien baut.

  3. 3.

    Vor dem Hintergrund wird kritisch hinterfragt, inwiefern die EU diese Vorreiterrolle praktisch erfüllt. Der Fokus liegt dabei auf dem EU-Treibhausgasreduktionsziel bis 2030, das zugleich den aktuellen Beitrag der EU zur Umsetzung des Pariser Abkommens darstellt. Die Anlayse umfasst den Zeitraum bis Oktober 2020.

2 Leadership als theoretisch-analytischer Rahmen

Etwa zeitgleich zur Entstehung des UN-Klimaregimes Ende der 1980er-Jahre wurde das Leadership-Konzept verstärkt in den Internationalen Beziehungen aufgegriffen, um die Bedeutung von Individuen, Staaten und auch Internationalen Organisationen für die Überwindung kollektiver Handlungsprobleme auf internationaler Ebene zu untersuchen (Young 1991; Underdal 1994; Malnes 1995). Oran R. Young definiert Leadership entsprechend als „the actions of individuals who endeavor to solve or circumvent the collective action problems that plague the efforts of parties seeking to reap joint gains in processes of institutional bargaining“ (Young 1991, S. 285). Auch Arild Underdal unterstreicht diese Bedeutung, betont aber vor allem die relationale Dimension von Leadership (Underdal 1994, S. 178). Leadership impliziert demnach eine „asymmetrical relationship of influence in which one actor guides or directs others toward a certain goal over a certain period of time“ (Underdal 1994, S. 178). Diese relationale Dimension unterscheidet Leadership auch von Konzepten wie Pioneership: „[L]eaders usually actively seek to attract followers while this is not normally the case for pioneers“ (Wurzel et al. 2019, S. 1). Rüdiger K. W. Wurzel et al. bezeichnen Pioniere im Gegensatz zu einem Leader auch als Akteure „which try to ‚go it alone‘“ (Wurzel et al. 2019, S. 8).

In der Literatur wird zudem diskutiert, ob bei einem Leader Eigeninteressen oder kollektive Interessen als Motivation im Vordergrund stehen. Nach Underdal ist „leadership [...] associated with the collective pursuit of some common good or joint purpose“ (Underdal 1994, S. 178-179). Diese normative Dimension wird bei Raino Malnes (1995) noch deutlicher. Nicht nur verfolgen Leader demnach die Interessen „of a wider group, notably his or her followers“ (Malnes 1995, S. 94), sondern die Verfolgung kollektiver Ziele ist das Haupterkennungsmerkmal eines Leaders: „To be sure, leaders normally take an interest in what they get out of various arrangements, but their activity qualifies as leadership only if self-interest takes second place to collective goals“ (Malnes 1995, S. 94, eigene Hervorhebung). Gerade dieser normative Aspekt wird auch vonseiten potenzieller Follower als wesentlich erachtet: „[It] is imperative for any actor seeking recognition as a leader to be perceived as being devoted to promoting the common good“ (Parker et al. 2015, S. 449). Vor dem Hintergrund werden in der weiteren Analyse folgende Leadership-Kriterien zugrunde gelegt: EU-Leadership zeichnet sich dadurch aus, dass die EU sich um Follower bemüht (relationale Dimension) und auch in deren Interesse auf ein kollektives Ziel hinarbeitet (normative Dimension).

2.1 Weiche Leadership-Modi

Ein Großteil der Forschungsdebatte dreht sich um die Frage, wie ein Leader nun potenzielle Follower mobilisieren kann, also um die sogenannte supply side von Leadership (Parker und Karlsson 2014; Young 1991; Underdal 1994). Klassischerweise kann ein Leader auf materielle Ressourcen zurückgreifen, d. h. mit Zuckerbrot und Peitsche materielle Anreize setzen oder auch direkten Zwang ausüben (Gupta und Ringius 2001, S. 282). Diese Führungsrolle wird daher auch als structural leadership (Young 1991) oder coercive leadership (Underdal 1994) bezeichnet und folgt der Logik des Konsequentialismus (Torney 2019, S. 172). Mit dem Leadership-Konzept werden jedoch vor allem weiche Formen der Einflussnahme in der internationalen Politik anerkannt (Underdal 1994; Young 1991) und gelten auch speziell für die EU-Führungsrolle in der Klimapolitik als besonders relevant (Oberthür und Roche Kelly 2008, S. 36; Parker und Karlsson 2010, S. 941). Leadership muss demnach nicht unbedingt von einer klassischen Supermacht ausgeübt werden, sondern auch Individuen – oder die EU – können zum Beispiel durch die Verbreitung von Ideen und Lösungsmodellen – d. h. idea-based leadership (Parker et al. 2017) oder intellectual leadership (Young 1991) – sowie durch Verhandlungsgeschick und Interessensausgleich – d. h. entrepreneurial leadership (Young 1991) – entscheidend zur Überwindung von kollektiven Handlungsproblemen beitragen.Footnote 3

Zur Kategorie der weichen Leadership-Modi zählt auch directional leadership (Malnes 1995) bzw. unilateral leadership (Underdal 1994). Zwar kann es Situationen geben, in denen die Vorgaben eines Staates bzw. der EU von Dritten quasi übernommen werden müssen, wie etwa bestimmte Produktstandards des EU-Binnenmarktes, jedoch basiert directional leadership nicht primär auf Zwang, sondern auf ideellen, indirekten Formen der Einflussnahme (Underdal 1994, S. 184-186; Malnes 1995, S. 101). Denn unilaterales Handeln kann (indirekt) dazu beitragen, neue Ideen zu verbreiten, die Machbarkeit von Maßnahmen zu demonstrieren und damit wiederum Unsicherheiten reduzieren und Folgebereitschaft generieren. Insbesondere Akteure, die mit ähnlichen Problemlagen konfrontiert sind, kann ein Vorreiter mit diesen Demonstrationseffekten erreichen (Underdal 1994, S. 185). Mit gutem Beispiel voranzuschreiten und konkrete Lösungen umzusetzen, trägt (indirekt) dazu bei, die Problemwahrnehmung und Überzeugungen anderer Akteure zu verändern und neue normative Standards zu setzen (Gupta und Ringius 2001, S. 282). Das heißt, directional leadership entfaltet seine Wirkung primär über soziale Mechanismen der Überzeugung und freiwilligen Nachahmung. Diese Form von Leadership basiert damit vor allem auf einer Logik der Angemessenheit (Torney 2019, S. 173).

Auch wenn es sich beim directional leadership um eine Form der indirekten Einflussnahme handelt, liegt bei einem Leader die Intention zugrunde, mit der Durchführung eigener Maßnahmen auch als Modell für andere agieren zu wollen (Wurzel et al. 2019, S. 11). Der Erfolg bzw. die Überzeugungskraft eines Vorreiters ist dabei an eine wesentliche Bedingung geknüpft: „Effective directional leadership makes particularly substantial demands on the leader’s performance: the realities of the leader’s deeds must match its rhetoric“ (Parker und Karlsson 2010, S. 927). Die wichtigste Machtressource eines Vorreiters ist somit seine Glaubwürdigkeit, die sich wiederum unmittelbar aus den eigenen Handlungen ableitet. Im Folgenden soll angesichts der Forschungsfrage zur EU-Führungsrolle in der internationalen Klimapolitik nach Paris genauer über die grundsätzliche Relevanz dieser weichen Leadership-Modi mit Blick auf die Umsetzung internationaler Abkommen reflektiert werden.

2.2 Leadership in der Implementationsphase internationaler Abkommen

In seinem viel beachteten Aufsatz zur Leadership-Theorie argumentiert Underdal: „[E]ach mode seems to have its prime time – namely, one or more stages at which it is the critical element of leadership“ (Underdal 1994, S. 192, eigene Hervorhebung). Diese zeitliche Dimension ist in der bisherigen Forschungsliteratur wenig reflektiert worden. Eine Ausnahme stellt u. a. die Studie von Steinar Andresen und Shardul Agrawala (2002) dar, die jedoch nur einen knappen konzeptionellen Teil umfasst und empirisch primär auf die Entstehungsphase des UN-Klimaregimes fokussiert; die nachgelagerte Phase der Umsetzung bereits vereinbarter Regeln bleibt von den Autoren konzeptionell und empirisch weitgehend ausgeblendet (Andresen und Agrawala 2002). Um EU-Leadership nach der Einigung auf das Klimaabkommen von Paris zu analysieren, muss die Rolle von Leadership also auch jenseits der Regimebildung in den Blick genommen werden.

Nach Thomas Rixen (2010) wird hierzu zwischen zwei idealtypischen Phasen unterschieden: zum einen die Verhandlungen (bargaining) selbst, d. h. die Phase in der die Spezifika von Verträgen und Abkommen ausgehandelt werden; zum anderen eine Phase der Durchsetzung (enforcement) bzw. Umsetzung dieser Verträge und Abkommen. Kooperationsprobleme, die in der zweiten Phase primär auftreten, lassen sich aus rationalistischer Perspektive so zusammenfassen: „Enforcement problems refers to the strength of individual actors’ incentives to cheat on a given agreement or set of rules“ (Koremenos et al. 2001, S. 776). Diese Problematik besteht insbesondere auch für die Einhaltung von Verpflichtungen im Rahmen internationaler Klimaabkommen, so auch für die Umsetzung des Übereinkommens von Paris (Keohane und Oppenheimer 2016). Nach der idealtypischen Einteilung steht in der internationalen Klimapolitik also die Implementationsphase an, „in which countries have to ensure that all treaty partners comply with the agreement“ (Rixen 2010, S. 594). Hier wird argumentiert, dass diese Aufgabe aber v. a. für Akteure besteht, die eine Führungsrolle anstreben und nach dem normativen Leadership-Kriterium eine besondere Verantwortung für die Erreichung kollektiver Ziele übernehmen.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die weichen Leadership-Modi und ihre Funktionen, die ja auch speziell für die EU als relevant erachtet werden, lässt sich Folgendes festhalten: Entrepreneurial leadership kann v. a. im Verhandlungskontext effektiv eingesetzt werden und ist eher kurzfristig wirksam, etwa in letzten Verhandlungsrunden „by helping participants to reach a deal and get to ‚yes‘“ (Parker und Karlsson 2014, S. 586). Directional leadership ist prinzipiell in beiden idealtypischen Phasen bedeutsam, aber für die Umsetzung gemeinsam verabschiedeter Ziele und Regeln, bei der die Anreize zur Nichteinhaltung hoch sind, werden Vorreiter besonders dringend gebraucht. Denn mit directional leadership lassen sich Unsicherheiten durch konkretes Voranschreiten bzw. durch das (unilaterale) Einhalten von Regeln abbauen. Dies ist eine zentrale Funktion, die andere Formen von Leadership weniger gut erfüllen können: „[U]nilateral action by one party may help dispel doubts about its real commitment. It can do so by providing [...] ‚indices‘ rather than mere ‚signals‘“ (Underdal 1994, S. 185). Es wird daher die theoretische These abgeleitet, dass directional leadership in der jetzigen Phase der internationalen Klimapolitik, in der es primär um die Umsetzung eines bestehenden Abkommens geht, besonders relevant ist. Im folgenden zweiten Analyseschritt wird diese These auf die Rolle der EU in der internationalen Klimapolitik nach Paris übertragen und mit Blick auf die neuen Rahmenbedingungen des Pariser Abkommens überprüft.

3 Anforderungen an EU-Leadership nach Paris

Mit dem Übereinkommen von ParisFootnote 4, das im November 2016 in Kraft trat, hat sich die Weltgemeinschaft erstmals auf ein universales Klimaabkommen einigen können, d. h. ein Abkommen, das im Gegensatz zum Kyoto-Protokoll alle Unterzeichnerstaaten, Industrie- und Entwicklungsländer verpflichtet, zum Klimaschutz beizutragen. Mit dem Pariser Abkommen und den nachfolgenden Weltklimakonferenzen sind die grundlegenden ElementeFootnote 5, insbesondere die wesentlichen Temperaturziele der internationalen Klimapolitik, festgeschrieben worden: Die Vertragsparteien haben sich das kollektive Ziel gesetzt, den „Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 °C über dem vorindustriellen Niveau“ (Art. 2, Pariser Abkommen) zu halten und zudem Anstrengungen zu unternehmen, „um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“ (Art. 2, Pariser Abkommen). Auch wenn die Einigung in Paris als historisch bezeichnet werden kann, so hängt der eigentliche Erfolg davon ab, dass alle Vertragsparteien und besonders die Leader zu Erreichung dieser Ziele konkrete Beiträge leisten. Vor dem Hintergrund kann nach den Überlegungen zur zeitlichen Dimension verschiedener Leadership-Modi theoretisch gefolgert werden, dass jetzt vor allem directional leadership relevant ist.

Aus dieser Perspektive wäre also auch von der EU – die ja eine Führungsrolle weiterhin dezidiert anstrebt – zu erwarten, dass sie mit progressiven Zielen und unilateralen Maßnahmen ihr Engagement demonstriert und damit Anreize zur Nichteinhaltung des noch jungen Pariser Abkommens aufseiten anderer Vertragsparteien reduziert. Ein engagiertes Handeln der EU ist aber v. a. auf Basis des normativen Leadership-Kriteriums geboten. Demnach wäre zu erwarten, dass die EU sich auf das 1,5 °C-Temperaturziel als Benchmark fokussiert, wofür sie sich als Mitglied der sogenannten High Ambition Coalition in Paris eingesetzt hatte (Högl 2019, S. 374). Ursprünglich war dies eine Forderung, die v. a. von kleinen Inselstaaten eingebracht wurde. Das 1,5 °C-Temperaturziel anzustreben, wäre ein Indikator für Leadership im Sinne des normativen Kriteriums, da dieses kollektive Ziel eben nicht primär im Eigeninteresse der EU liegt, sondern vor allem ihren potenziellen Followern bzw. stark vom Klimawandel betroffenen Staaten dient. Zugleich bedeutet die Verfolgung dieses Ziels deutlich mehr und radikalere (und teils auch kostenintensive) Anstrengungen aufseiten der EU sowie anderer großer Emittenten. Mit einer solchen verantwortungsvollen Ausrichtung ihrer Klimapolitik könnte die EU – so die Followership-Forschung – deutlich mehr Anerkennung als Leader gewinnen:

The only way to strengthen international climate leadership is for the main leadership contenders to convince others that they [...] are working on behalf of the common good. This work needs to start at home with meaningful domestic action [...]. (Parker et al. 2015, S. 450; eigene Hervorhebung)

Zentrales Argument des vorliegenden Beitrags ist, dass sich die Anforderung an Leadership-Kandidaten, ambitionierte Maßnahmen zu Hause zu ergreifen, im Kontext des Pariser Abkommens bzw. der damit neu etablierten „logic of domestically driven climate action“ (Falkner 2016, S. 1118) weiter verstärkt hat. Denn im Gegensatz zum Vorgänger, dem Kyoto-Protokoll, werden Treibhausgas-Reduktionsziele nicht mehr auf internationaler Ebene festgeschrieben, sondern das gemeinsame Ziel zur Begrenzung des Temperaturanstiegs soll vielmehr durch die NDCs erreicht werden (Art. 3, Pariser Abkommen). Das Pariser Klimaregime basiert somit nicht auf verbindlichen targets and timetables, sondern lässt sich als ein weitgehend auf Freiwilligkeit beruhendes Pledge and Review-System (Keohane und Oppenheimer 2016) beschreiben. Die NDCs, das heißt die freiwilligen Beiträge der Vertragsparteien, bilden somit das Herzstück des Pariser Klimaabkommens (Falkner 2016, S. 1115).

Die Vertragsparteien haben weiterhin festgelegt, zur Erreichung des langfristigen Temperaturziels „innerstaatliche Minderungsmaßnahmen“ (Art. 4, Abs. 2, Pariser Abkommen) zu ergreifen. Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass sich alle auf einen sogenannten „Ambitionssteigerungsmechanismus“ geeinigt haben. Demnach werden alle fünf Jahre neue NDCs vorgelegt, die „eine Steigerung gegenüber ihrem zum fraglichen Zeitpunkt geltenden national festgelegten Beitrag darstellen und ihre größtmögliche Ambition [...] ausdrücken“ (Art. 4, Abs. 3, Pariser Abkommen). Die kontinuierliche Ambitionssteigerung soll über eine regelmäßige Überprüfung im Rahmen des sogenannten „global stocktake“ gewährleistet werden (Art. 14, Pariser Abkommen). Diese Bestandsaufnahme dient dann wiederum als Orientierung für die Ausgestaltung nachfolgender NDCs. Die EU hatte sich in den Verhandlungen zum Pariser Abkommen genau für diese Mechanismen des Monitorings erfolgreich eingesetzt (Oberthür und Groen 2017, S. 3). Diese Umsetzungsmechanismen des Pariser Abkommens eröffnen Leadership-Kandidaten so idealerweise die Möglichkeit „to signal high ambition and to exhort laggards to raise their game“ (Falkner 2016, S. 1121).

Das skizzierte Pledge and Review-System besteht also zum einen aus einem Bottom-up-Prozess, der primär von den Staaten und der EU kontrolliert wird. Die Vertragsparteien legen ihre NDCs fest und sind für deren Umsetzung verantwortlich, aber sie unterwerfen sich zugleich einem internationalen Begutachtungsprozess, in dem naming and shaming als wesentlicher Sanktionsmechanismus wirken soll (Högl 2019, S. 372). Das mit dem Pariser Abkommen neu eingeführte UN-Klimaregime wird daher auch als „hybrid system“ (Falkner 2016, S. 1120) bezeichnet. In diesem hybriden System ohne harte Sanktionsmechanismen sind nationale und internationale Klimapolitik deutlich enger verzahnt als je zuvor. Wie schon betont, der Erfolg des Pariser Abkommens steht und fällt mit dem Ambitionsniveau der NDCs bzw. wie es Oberthür formuliert: „[T]he implementation of the Paris Agreement so far relies nearly exclusively on domestic delivery systems“ (Oberthür 2019, S. 25).

Angesichts der Rahmenbedingungen des hybriden UN-Klimaregimes und der darin angelegten „new logic of domestically driven climate action“ (Falkner 2016, S. 1118) kann die im ersten Analyseschritt theoretisch abgeleitete These zur Relevanz von directional leadership für die Implementierung des Pariser Abkommens klar bestätigt werden. Die EU könnte demnach zur Umsetzung des Pariser Abkommens vor allem als Vorreiter, d. h. mit eigenen ambitionierten Klimaschutzplänen, effektiv beitragen. Diese von anderen Akteuren weitgehend unabhängige ideelle Form der Einflussnahme eines Vorreiters dürfte für die EU in den nächsten Jahren zusätzlich an Bedeutung gewinnen (Aykut 2016, S. 11). Denn aufgrund des insgesamt sinkenden Anteils der EU an den globalen Emissionen wird tendenziell auch die Bedeutung der EU – und damit ihr struktureller Einfluss – gegenüber den USA und China in den internationalen Klimaverhandlungen abnehmen (Aykut 2016; Bäckstrand und Elgström 2013; Oberthür 2016; Schreurs 2016). Mit ambitionierten und innovativen Klimaschutzmaßnahmen voranzuschreiten und daraus Wettbewerbsvorteile zu generieren sowie potenzielle Follower zu mobilisieren, könnte die strukturellen Machtverluste sogar ein Stück weit kompensieren (Oberthür 2016). Leading by example ist somit auch aus einer geopolitischen Perspektive für die EU strategisch wichtig, um ihre Position in der internationalen Klimapolitik zu stärken. Dies soll nicht die Relevanz von anderen Leadership-Modi grundsätzlich schmälern, auch eine Kombination ist in der Praxis gängig. Hier wird jedoch argumentiert, dass directional leadership als „critical element of leadership“ (Underdal 1994, S. 192) für die EU im Hinblick auf die anstehende Umsetzung des Pariser Abkommens zu werten ist. Die Effektivität des directional leadership hängt wiederum davon ab, wie ambitioniert und glaubwürdig die Klimaschutzmaßnahmen der EU sind. Inwiefern die EU diese Vorreiterrolle erfüllt, wird im dritten Analyseschritt untersucht.

4 Die EU-Klimaziele bis 2030 – ein vorbildlicher Beitrag zum Pariser Abkommen?

Als ein wesentlicher Indikator für directional leadership wird der von der EU zugesagte Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasemissionen bis 2030 betrachtet. Die Reduktionsziele der EU bilden nicht nur einen wichtigen Orientierungswert für Akteure in Europa, sondern sie signalisieren vor allem die Ambitionen der EU gegenüber ihren internationalen Vertragspartnern bzw. potenziellen Followern (Torney 2019, S. 172). Die EU könnte also mit ihrem eigenen Beitrag eine wichtige Vorbildfunktion im neu geschaffenen Verfahren des Pledge and Review-Systems von Paris leisten. Sicherlich ließen sich auch noch andere Indikatoren für directional leadership heranziehen, aber dieser NDC ist besonders gut geeignet, da dieser von der EU als Ganzes verabschiedet wird. Oder anders ausgedrückt: Die EU-Mitgliedstaaten reichen keine individuellen NDCs ein. Genau genommen gibt es also nur einen europäisch festgelegten Beitrag zum Pariser Abkommen. Entscheidungen, die in der EU-Klimapolitik getroffen werden, haben somit in der aktuellen Phase des UNFCCC-Prozesses, in der ambitionierte NDCs eingereicht werden müssten, eine besonders weitreichende Signalwirkung gegenüber anderen Vertragsparteien und darüber hinaus.

Um die Positionierung der EU zu ihrem NDC zu erfassen, muss man die EU-internen Entscheidungsprozesse berücksichtigen, die von vielfältigen Akteuren und teils stark divergierenden Interessen in der Energie- und Klimapolitik geprägt sind (Kurze 2018). Denn auch wenn es der EU in der internationalen Klimapolitik vergleichsweise gut gelingt mit einer Stimme zu sprechen, so muss die nach außen vertretene gemeinsame Position erst EU-intern festgelegt werden. Im Fall der EU-Klimapolitik, die primär der Umweltpolitik zugeordnet ist und damit zu den geteilten Kompetenzbereichen zählt, bedeutet dies vor allem Verhandlungen zwischen drei EU-Institutionen: der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union bzw. speziell dem Umweltministerrat. Zudem werden die entsprechenden politischen Leitlinien vom Europäischen Rat festgelegt. Diese komplexe Governance-Struktur der EU kann dabei als Treiber und Bremser für EU-Leadership in der internationalen Klimapolitik wirken: Zum einen argumentieren Miranda A. Schreurs und Yves Tiberghien (2007), dass sich im Mehrebenen-System der EU nicht nur zahlreiche Veto-Spieler (potenzielle Blockierer) finden, sondern auch progressive Leader vielfältige Einflusskanäle nutzen können. Der institutionelle Kontext in der EU „has created multiple and mutually-reinforcing opportunities for leadership“ (Schreurs und Tiberghien 2007, S. 24). Gerade in der Klimapolitik sind die Europäische Kommission und das Europäische Parlament als treibende Kräfte immer wieder hervorgetreten (Schreurs und Tiberghien 2007, S. 33-36). Zum anderen findet sich in der Forschungsliteratur aber auch die Feststellung, dass die EU aufgrund ihrer komplexen internen Abstimmungsprozesse nur sehr schwerfällig als einheitlicher Akteur international agieren kann und oft wegen einzelner Veto-Spieler (insbesondere dem Rat bzw. einzelner Mitgliedstaaten) keine ambitionierte Klimapolitik umsetzt und ihrer Vorbildfunktion kaum gerecht wird (Parker und Karlsson 2010). Ihre Führungsstärke ist somit auch in der internationalen Klimapolitik als begrenzt zu bewerten (Oberthür und Roche Kelly 2008, S. 47).

Diese grundlegenden Dynamiken zeigen sich auch in der Debatte um den europäischen NDC. Der 2015 an das UN-Klimasekretariat kommunizierte Beitrag, die Treibhausgasemissionen um 40 % bis 2030 gegenüber 1990 zu senken, lässt sich auf das Grünbuch der Europäischen Kommission vom März 2013 zurückverfolgen, in dem es um die Ausgestaltung der EU-Energie- und Klimapolitik bis zum Jahr 2030 ging (Europäische Kommission 2013). Zu den vorgeschlagenen Zielen gehörten, in Anlehnung an das erste Energie- und Klimapaket und die sogenannten 20-20-20-Ziele, nicht nur die Reduktion von Treibhausgasemissionen, sondern auch die Steigerung der Energieeffizienz und der Ausbau erneuerbarer Energien (Kurze 2018). Diese Ziele wurden im Januar 2014 in einer Mitteilung der Kommission konkretisiert (Europäische Kommission 2014). Der Europäische Rat nahm diese Ziele für die Energie- und Klimapolitik bis 2030 im Oktober 2014 politisch an, darunter vor allem das hier relevante Ziel „die EU-internen Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 % im Vergleich zu 1990 zu reduzieren“ (Europäischer Rat 2014, S. 1). Diese Zielsetzung wurde bereits im März 2015 als (I)NDCFootnote 6 von der EU im Vorfeld der 21. Conference of the Parties (COP) an das UNFCCC-Sekretariat kommuniziert, womit die EU durchaus eine Vorreiterrolle einnahm (Torney 2019, S. 174).

Der 2013 angestoßene Prozess zur Ausgestaltung der EU-Energie- und Klimapolitik bis 2030 wurde 2019 mit dem Legislativpaket „Saubere Energie für alle Europäer“ weitgehend abgeschlossen (Europäische Kommission 2019b). Während die Ziele bezüglich des Ausbaus erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz im Zuge des Gesetzgebungsprozesses im Vergleich zu den ursprünglichen Vorschlägen erhöht wurden, blieb die 40 %-Zielmarke unverändert. Diese Konstanz soll aber nicht suggerieren, dass dieser Wert unumstritten gewesen wäre. Im Gegenteil, sowohl in den EU-Institutionen als auch unter den Mitgliedstaaten gab es durchaus abweichende Positionen: So sprach sich beispielsweise der damalige Energie-Kommissar Günther Oettinger 2014 zunächst für ein 35 %-Ziel aus (Neslen 2014). Auch Polen argumentierte besonders deutlich gegen ein ambitioniertes unilaterales Reduktionsziel der EU (Schreurs 2016, S. 220); bis kurz vor dem entscheidenden Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im Oktober 2014 war unklar, ob überhaupt ein Konsens erreicht werden könnte (Fischer 2014). Angesichts eines potenziellen Scheiterns der Verhandlungen kann das vom Europäischen Rat dann letztlich angenommene 40 %-Ziel als das damals politisch Machbare betrachtet werden (Schreurs 2016, S. 220).

Die Europäische Kommission und der Europäische Rat bzw. einige Mitgliedstaaten sahen hierin sogar ein Zeichen von EU-Leadership (Jacobsen und Crisp 2014; Europäischer Rat 2014). Diese Selbsteinschätzung wurde aber nicht umfassend geteilt. Zugleich wurde deutliche Kritik von Umwelt-NGOs wie Friends of the Earth geäußert: „To describe 40 % emissions cuts as adequate or ambitious, as EU leaders are doing, is dangerously irresponsible. 40 % is off the radar of climate science“ (Riley zit. n. Jacobsen und Crisp 2014). Allerdings sahen auch die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Oktober 2014 schon vor, dass die Ziele bis 2030 mit Blick auf die Ergebnisse der internationalen Klimaverhandlungen in Paris angepasst werden könnten (Europäischer Rat 2014, S. 1). Die 40 % wurden daher von vielen Akteuren in Brüssel, die eine ambitioniertere Klimapolitik anstreben, nur als ein erstes Angebot betrachtet (Jacobsen und Crisp 2014). Der Druck auf die EU, ihren Beitrag zur Erreichung des kollektiven Temperaturziels zu erhöhen, hat sich mit der Einigung auf das Pariser Abkommen verstärkt.

Zunächst liegen neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Berichte des Weltklimarats (IPCC) vor, die u. a. deutlich machen, dass die Einhaltung des 1,5 °C-Ziels des Pariser Abkommens die Anpassungschancen an den Klimawandel gerade auch für kleine Inselstaaten deutlich erhöhen. Im IPCC-Sonderbericht „1,5 °C globale Erwärmung“ werden zahlreiche weitere Vorteile des strikteren Temperaturziels herausgestellt (IPCC 2018). Die Veröffentlichung dieses Berichts im Vorfeld der COP 24 im Jahr 2018 zielte auch darauf ab, die Vertragsparteien zu ermutigen, ihre Reduktionsziele zu erhöhen. Denn die bisher vorliegenden NDCsFootnote 7 würden auch bei umfassender Umsetzung einen Temperaturanstieg um die 3 °C bedeuten (UNEP 2019). Die Botschaft der Wissenschaft ist klar: Die NDCs müssen unbedingt erhöht werden, sollen die Ziele des Pariser Abkommens erreicht werden. Dies wurde auch nochmals deutlich im sogenannten Emissions Gap Report 2019 des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP): „Dramatic strengthening of the NDCs is needed in 2020. Countries must increase their NDC ambitions threefold to achieve the well below 2 °C goal and more than fivefold to achieve the 1.5C goal“ (UNEP 2019, S. XX). Vor dem Hintergrund wird der angekündigte Klimaschutzbeitrag der EU, die Treibhausgasemissionen um 40 % bis 2030 zu senken, als „insufficient“Footnote 8 beurteilt. Allerdings werden die Chancen recht gut eingeschätzt, dass die EU ihren Beitrag demnächst anheben könnte. Dies wird vor allem auf die veränderten politischen Konstellationen in der EU zurückgeführt (Climate Action Tracker 2020). Damit ist zum einen die neue EU-Kommission und zum anderen das neu gewählte Europäische Parlament mit einer deutlich gestärkten grünen Fraktion gemeint.

Im November 2019 rief das Europäische Parlament dann auch den Klimanotstand aus und forderte, die EU solle sich auf der UN-Klimakonferenz in Madrid dazu verpflichten, ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 % zu senken. Dieser weitgehend symbolische Akt galt vor allem als Weckruf für die neue Europäische Kommission unter Präsidentin von der Leyen, konkrete Initiativen zum Klimaschutz auf EU-Ebene mit Blick auf das 1,5 °C-Ziel des Pariser Abkommens anzustoßen (Europäisches Parlament 2019). Die Kommission präsentierte dann auch bereits im Dezember 2019 den European Green Deal, eine grüne Wachstumsstrategie, die v. a. das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 in den Fokus rückt (Europäische Kommission 2019c). Hierzu wird eine Reihe von Maßnahmen und Projekten in zahlreichen Politikfeldern (u. a. Energie, Verkehr, Landwirtschaft und EU-Außenbeziehungen) aufgelistet. An erster Stelle steht jedoch eine ambitioniertere Klimapolitik, inklusive einer Erhöhung des europäischen Beitrags zum Pariser Klimaabkommen (Europäische Kommission 2019c, S. 5).

Trotz der klaren Botschaft aus Wissenschaft und Politik (insbesondere seitens der Europäischen Kommission und des Europaparlaments) blieb eine verbindliche Anhebung des europäischen NDC bisher aus. Vielfältige Gründe, wie etwa die Brexit-Verhandlungen, ließen sich hier nennen, um die klimapolitischen Versäumnisse der EU zu erklären. Jedoch sind die divergierenden Präferenzen der EU-Mitgliedstaaten in der Klimapolitik und damit die bremsende Rolle des Rates als wesentlicher Faktor für die wenig ambitionierten Klimaziele der EU zu betrachten. Im Mandat für die COP 25 in Madrid, das der Umweltministerrat im Oktober 2019 festlegte, wird zwar darauf verwiesen, dass die Umsetzung der verabschiedeten Maßnahmen im Rahmen des Pakets „Saubere Energie“ bereits zu „einer größeren Verringerung der Treibhausgasemissionen führen [... wird] als ursprünglich vorgesehen“ (Rat der EU 2019, S. 5); eine international sichtbare, verbindliche Ambitionssteigerung konnte jedoch EU-intern im Jahr 2019 nicht vereinbart werden. Stattdessen wurde angekündigt, dass „die EU im Jahr 2020 ihre national festgelegten Beiträge (NDC), wie in Paris vereinbart, aktualisieren wird“ (Rat der EU 2019, S. 5).

Fest steht, dass die EU die ursprüngliche Frist für eine Aktualisierung ihres NDC im Februar 2020 verfehlt hat (Doyle 2020). Als einziges europäisches Land reichte nur das Nicht-EU-Mitglied Norwegen einen erhöhten Beitrag ein. Die Einhaltung der Frist ist zwar nicht verbindlich, sollte jedoch für einen Vorreiter eine gewisse Relevanz haben. Die EU ist daher eindeutig nicht mehr Vorreiter wie noch im Vorfeld der COP 21 in Paris. Auch der Kommissionsvorschlag für ein EU-Klimagesetz, das Anfang März 2020 präsentierte wurde, brachte wenig Klarheit über das 2030-Ziel (Morgan 2020). In einem Brief forderten zwölf Umweltminister*innenFootnote 9 den für Klimaschutz zuständigen Kommissar Frans Timmermans daher auf, einen baldigen Vorschlag zur Erhöhung des EU-Beitrags angesichts der anstehenden COP 26 in Glasgow vorzulegen:

With a timely enhanced NDC, the EU can lead by example and contribute to creating the international momentum needed for all parties to scale up their ambition. […] We therefore encourage the European Commission to present the 2030 Climate Target Plan as soon as possible and by June 2020at the latest in order to advance discussions in a timely manner. (Gewessler et al. 2020a; Hervorhebung im Original)

Der politische Zeitdruck hat sich mit Ausbruch der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Verschiebung der COP 26 auf das Jahr 2021 etwas reduziert. Die Dringlichkeit dieser Entscheidungen für die Bekämpfung des Klimawandels jedoch nicht. Die derzeitigen Einbrüche der Weltwirtschaft und die damit sinkenden Emissionen können einen strukturellen Umbau der Wirtschaft langfristig nicht kompensieren. Die Frage ist somit, wie die EU mit den Folgen der Corona-Krise langfristig umgehen wird. Zwei Szenarien scheinen hier derzeit denkbar, mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen für die EU-Führungsrolle in der internationalen Klimapolitik. So könnte die Corona-Pandemie – trotz kurzfristig positiver Nebeneffekte für Umwelt und Klima – zur Verschärfung der Klimakrise beitragen. Denn sie führt nicht nur zu einer Verschleppung drängender klimapolitischer Entscheidungen, sondern könnte auch zu einem Rückfall in ein business as usual verleiten. Polen und Tschechien haben bereits angekündigt, den European Green Deal nicht weiter vorantreiben zu können; Polen diskutiert zudem die Möglichkeit, aus dem EU-Emissionshandel auszusteigen (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2020a; Euractiv 2020). Auch die Automobilindustrie hat sich klar gegen verschärfte Klimaschutzauflagen in Corona-Zeiten positioniert (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2020a). Der Verband der deutschen Autoindustrie warnte etwa davor, der Branche „zusätzliche Lasten aufzubürden, wie das aktuell im Rahmen der Diskussionen über den Green Deal geschehe“ (Germis und Preuß 2020).

Zugleich ist jedoch die Position weit verbreitet, die Bekämpfung der Corona-Krise und ihrer wirtschaftlichen Folgen sowie den Kampf gegen den Klimawandel zusammenzudenken – nach dem Motto „Wachstum durch kluge Klimapolitik“ (Steinmeier et al. 2020). Die Corona-Krise gibt Anlass, grundsätzlich über unsere Wirtschafts- und Lebensweise nachzudenken und scheinbare Alternativlosigkeiten zu hinterfragen. Sie wird somit von vielen aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft als eine Chance für eine nachhaltige Transformation gesehen. Nicht zuletzt plädierten die deutsche Kanzlerin und der UN-Generalsekretär im Rahmen des Petersberger Klimadialogs, der traditionell zur Vorbereitung der Weltklimakonferenz dient, für „klimafreundliche Konjunkturhilfen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2020b). Bundeskanzlerin Merkel unterstützte in ihrer Video-Ansprache auch dezidiert den Vorschlag der Europäischen Kommission, die Emissionen um 50–55 % bis 2030 zu reduzieren (Merkel 2020).

Das Narrativ Bekämpfung der Corona-Pandemie als Chance für den Klimaschutz scheint somit durchaus weit verbreitet. So haben sich nicht nur die EU-Kommission und das Europäische Parlament, sondern auch die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten genau für diesen grünen Wiederaufbau ausgesprochen, bei dem der European Green Deal im Mittelpunkt stehen soll (Gewessler 2020b; Simon 2020a). Die nach langen Verhandlungen erreichte Einigung der Staats- und Regierungschefs im Juli 2020 unterstreicht diese grüne Wiederaufbaustrategie: 30 % des 750 Mrd. € umfassenden Recovery Funds Next Generation Europe sind für Klimaschutzmaßnahmen reserviert, mehr als ursprünglich von der Kommission vorgeschlagen (Simon 2020b). Auch wenn noch wichtige Detailfragen hinsichtlich der genauen Kriterien zur Mittelvergabe sowie des Monitorings zu klären sind, so wird das vereinbarte „Gesamtklimaziel von 30 %“ (Europäischer Rat 2020, S. 7), das auch für den Mehrjährigen Finanzrahmen (2021-2027) gilt, weitgehend positiv wahrgenommen (Climate Action Network 2020; Simon 2020c; Carbon Brief 2020). Gerade auch im internationalen Vergleich wird der EU-Fonds in Reaktion auf die Corona-Pandemie als „the most environmentally friendly stimulus package to date“ (Vivideconomics 2020) bewertet. Die Glaubwürdigkeit der EU-Vorreiterrolle könnte von dieser grünen Wachstumsstrategie nachhaltig profitieren. Dennoch steht weiterhin die wichtige Positionierung zur Erhöhung der Klimaziele bis 2030 aus. Einige EU-Umweltminister*innen veröffentlichten Mitte April 2020 einen Meinungsbeitrag, in dem es heißt:

We should withstand the temptations of short-term solutions in response to the present crisis that risk locking the EU in a fossil fuel economy for decades to come. Instead, we must remain resolved to increase the EU’s 2030 target before the end of this year adhering to the timetable of the Paris agreement despite the postponement of Cop26, and inspire other global players to raise their ambition as well. (Gewessler et al. 2020b; eigene Hervorhebung)

Die EU muss nun unter den besonderen Corona-Umständen erneut über ihren NDC beraten. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament unterstützen die Erhöhung und präferieren dabei das weitreichendere Ziel der Treibhausgasreduktion um 55 % (bzw. im Fall des Parlaments sogar um 60 %) bis 2030 (Simon 2020c). Das zitierte Positionspapier zeigt, dass auch einige der EU-Mitgliedstaaten – darunter die einflussreichen Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich – diesen Weg gehen wollen. Aber eben nicht alle 27 Länder: Deutlich skeptischere Positionen wurden angesichts der andauernden Corona-Pandemie und den damit verbunden wirtschaftlichen Konsequenzen erneut von Mittel- und Osteuropäern geäußert (Simon 2020c). Sie fordern von der Europäischen Kommission eine „realistische“ Folgenabschätzung der Kosten, die mit einer „potenziellen“ Erhöhung der Klimaziele bis 2030 einhergehen könnten (Visegrad Group et al. 2020; eigene Übersetzung). Die EU-Mitgliedstaaten sind sich in dieser entscheidenden klimapolitischen Frage also weiterhin uneinig. Diese Uneinigkeit im Rat wird nicht nur die internen Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament verkomplizieren, sondern potenziell auch die internationale Rolle der EU als Vorreiter untergraben.

Insgesamt muss man daher eine gemischte Bilanz ziehen, was die Möglichkeiten der EU betrifft, ihrem internationalen Führungsanspruch als Vorreiter besser gerecht zu werden. Der noch gültige Beitrag der EU zum Pariser Klimaabkommen, nämlich eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 40 % bis 2030, ist nicht vorbildlich. Im Grundsatz kann die EU aber mit der diskutierten Erhöhung ihrer Klimaziele auf mindestens 55 % einen wichtigen unilateralen Beitrag zur Umsetzung des Pariser Abkommens leisten, d. h. auch unabhängig von China und den USA. Sie könnte damit ihre globale Sichtbarkeit als Leader erhöhen und durchaus auch Folgebereitschaft generieren. Die Ankündigung Chinas zur Klimaneutralität wird teils schon als „Erfolg der EU-Klimadiplomatie“ bzw. als Reaktion auf die von der Kommission vorgeschlagenen erhöhten EU-Reduktionsziele bis 2030 gewertet (Germanwatch 2020). Eine glaubwürdige Vorreiterrolle der EU lässt sich aber gegen Einwände einzelner Mitgliedstaaten praktisch nicht realisieren. Es bleibt somit die Herausforderung auch im Rat zu einer Einigung zu kommenFootnote 10, die im Hinblick auf die konkreten Klimaziele bis 2030 vermutlich nicht ohne Ausgleichszahlungen oder andere Kompensationen erreicht werden kann.

5 Schlussfolgerungen

In Anbetracht der sich wandelnden Konstellationen in der internationalen Klimapolitik wurde in diesem Artikel danach gefragt, ob die EU eine effektive Führungsrolle in der Implementationsphase des Pariser Abkommens übernehmen kann. Auf Grundlage bestehender Erkenntnisse der Leadership-Forschung wurde argumentiert, dass die EU vor allem als Vorreiter – d. h. im Sinne des directional leadership – zum globalen Klimaschutz beitragen könnte. Directional leadership verweist auf die Vorbildfunktion eines Akteurs, der mit unilateraler Umsetzung von Maßnahmen nicht nur Lösungsideen verbreitet, sondern auch substanzielle Handlungsbereitschaft demonstriert. Die Relevanz des directional leadership ist für die EU bereits vielfach bestätigt worden, aber auch andere Leadership-Modi haben in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit erhalten. Demnach setzt die EU spätestens seit der COP 15 in Kopenhagen stärker auf einen Interessensausgleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, was etwa im Konzept des leadiator (Bäckstrand und Elgström 2013) zum Ausdruck kommt. Wie sich EU-Leadership jedoch in der Implementationsphase des Pariser Abkommens gestaltet, ist bisher hingegen weniger erforscht.

Angesichts dieser Forschungslücke wurde die zeitliche Dimension von Leadership genauer betrachtet und argumentiert, dass directional leadership in der Phase der Implementation internationaler Abkommen noch relevanter ist als im Kontext der Verhandlungen selbst. Dies liegt in den grundlegenden Herausforderungen der Implementationsphase begründet, in der Vertragsparteien den Anreiz haben, ihre Verpflichtungen nicht einzuhalten. Vorreiter haben hier die besondere Aufgabe, für die Einhaltung ebendieser zu sorgen. Mit der unilateralen Umsetzung eigener Klimaschutzverpflichtungen könnte die EU ihre Handlungsbereitschaft demonstrieren und dazu beitragen, Unsicherheiten aufseiten der anderen Vertragspartner abzubauen. Dieser funktionale Mehrwert des directional leadership gilt grundsätzlich für die Umsetzung von internationalen Abkommen, erhält aber im Kontext des neuen UN-Klimaregimes zusätzliche Relevanz. Denn der Erfolg des Pariser Abkommens hängt fast ausschließlich von der unilateralen Umsetzung der NDCs ab.

Ob die EU diese Vorreiterrolle erfüllt, wurde exemplarisch mit Blick auf den europäischen NDC untersucht, d. h. speziell die Klimaziele bis 2030. Folgt man den Erkenntnissen der Klimaforschung, ist die von der EU ursprünglich angestrebte Reduktion der Emissionen um 40 % bis 2030 als nicht ausreichend zu bewerten, um das kollektive Temperaturziel von Paris zu erreichen – weder das 2 °C-Ziel und schon gar nicht das 1,5 °C-Ziel. Legt man das normative Leadership-Kriterium zugrunde, müsste die EU sogar das höher gesteckte 1,5 °C-Ziel, das nicht primär im Eigeninteresse liegt, anstreben. Dazu müsste sie ihre Treibhausgasemissionen mindestens um 55 % bis 2030 verringern. Bis Ende Oktober 2020 konnte aber keine Erhöhung des europäischen NDC verbindlich verabschiedet werden, insbesondere aufgrund der Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten. Sollte es bei diesem niedrigen Ambitionsniveau der EU bleiben, wird sie kaum Folgebereitschaft generieren können. Ihrer Vorreiterrolle würde die EU somit in dieser für das Abkommen von Paris zentralen Frage weiterhin nicht gerecht werden.

Im Kontext der Corona-Pandemie haben sich die Prioritäten zudem verschoben. Der Umgang mit den Folgen der Corona-Pandemie wird weitreichende Implikationen für die EU-Führungsrolle in der internationalen Klimapolitik haben. Die EU könnte mit einem grünen Wiederaufbauprogramm directional leadership leisten und Follower weltweit von einer klimafreundlichen Wirtschaftsweise überzeugen bzw. in diese einbinden. Kurzfristig muss sie ihre Glaubwürdigkeit aber durch die Erhöhung ihres NDC, d. h. ihrer Klimaziele bis 2030, belegen. Damit könnte sie einen ersten wichtigen Beitrag zur Umsetzung des noch jungen Pariser Klimaabkommens leisten und – etwas grundsätzlicher formuliert – eine regelbasierte Weltordnung stabilisieren, in der multilaterale (Klima‑)Abkommen nicht nur formal anerkannt, sondern auch tatsächlich umgesetzt werden.

Die künftige Leadership-Forschung sollte hier ansetzen und die Effektivität bzw. Glaubwürdigkeit der EU-Vorreiterrolle in der Implementationsphase weiter kritisch verfolgen, d. h. auch auf die Umsetzung EU-interner Maßnahmen besonders achten. Unilaterales directional leadership wird zwar als zentrales Element von EU-Leadership angesehen, aber auch andere Leadership-Modi können ergänzend wirksam sein, gerade im Hinblick auf die Unterstützung von Partnerländern oder das Setzen von Standards im Rahmen von internationalen Handelsabkommen. Der richtige Mix an Leadership-Modi bleibt weiterhin ein wichtiger Analysegegenstand der Leadership-Forschung. Inwiefern die EU ausreichend Follower mobilisiert, wurde im Rahmen dieser Studie nicht systematisch untersucht. Theoretisch lässt sich aber annehmen, dass die EU als Vorreiter mit Demonstrationseffekten insbesondere ähnlich positionierte Ländergruppen, d. h. große Industrie- und Schwellenländer, ansprechen kann. Gerade China wird in diesem Zusammenhang ein noch wichtigerer Partner für die EU werden. Die Ankündigung Chinas bis zum Jahr 2060 Klimaneutralität erreichen zu wollen, ist hier ein erstes wichtiges Signal. Auch die bevorstehenden Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den USA könnten, insbesondere bei einer Abwahl Trumps und einer demokratischen Mehrheit im Kongress, wieder mehr multilaterale Kooperation im Klimaschutz ermöglichen. Das Zusammenspiel verschiedener Leader und auch mögliche Formen des joint oder shared leadership sind daher interessante Aspekte, die in der Forschung zur EU-Führungsrolle vertieft werden sollten. Denn die EU sieht sich eindeutig nicht als Pionier, der allein für den globalen Klimaschutz eintritt. Unilaterales leading by example bleibt ein Leitmotiv der EU-Klimapolitik, aber die substanzielle Verantwortung der Partner wird zunehmend und direkter eingefordert (Europäische Kommission 2019c; Europäische Kommission 2019d). Wichtig ist somit, weiter zu hinterfragen, wen die EU als Follower gewinnen und zum ambitionierten Handeln bewegen kann. Die demand side von Leadership aber v. a. auch die Interaktion von Leadern und Followern wird mehr in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rücken. Die Leadership- und die noch jüngere Followership-Forschung können so Erkenntnisse liefern, die nicht nur theoretisch, sondern auch für die praktische Umsetzung des Pariser Abkommens von zentraler Bedeutung sind.