1 Mearsheimer und der Realismus

Der Realismus als Theorietradition in der Internationalen Politik ist nach wie vor wirkmächtig. Denker wie Hans Morgenthau, Henry Kissinger und Kenneth Waltz haben diese Tradition ausgearbeitet, verfeinert, begründet und ihre Stärke bei der Analyse internationaler Politik unter Beweis gestellt. Mehr noch: Sie haben auch auf die lange historische Tradition realistischen Denkens von Thukydides über Machiavelli bis Thomas Hobbes als Kronzeugen des Realismus hingewiesen und damit deutlich gemacht, dass der Realismus kein Phänomen verfasster, souveräner Nationalstaaten in der Ordnung des Westfälischen Systems ist, sondern eine historische Grundtatsache des Verhältnisses von Staaten untereinander.

Die Studie The Great Delusion. Liberal Dreams and International Realities von John J. Mearsheimer (2018) steht in dieser Tradition. Es ist eine grundlegende Kritik an der US-amerikanischen Außenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts,Footnote 1 gleichzeitig aber auch eine Begründung realistischen Denkens aus dem Wesen des Menschen heraus, also eine philosophische Betrachtung. Letztere ist Gegenstand dieser Analyse. Viele der in einfacher, gleichwohl eindringlicher Sprache vorgetragenen Befunde von Mearsheimer sind eingängig und einleuchtend. So scheint es plausibel, dass die Überbetonung liberaler IdeenFootnote 2 in der Außenpolitik dazu führt, dass die Mittel zur Erreichung politischer Ziele entgrenzt werden. In der Folge verrät liberale Politik ihre eigenen Grundsätze und richtet außenpolitisch erheblichen Schaden an. Darüber hinaus kann ein falsch verstandener Liberalismus die Souveränität der Staaten und das damit verbundene Prinzip der Nichteinmischung gefährden. In der Nachfolge des Dreißigjährigen Krieges waren diese Ordnungsprinzipien entwickelt worden, um die verheerenden Wirkungen konkurrierender Wahrheitsansprüche einzuhegen. Die staatliche Souveränität stand als machtpolitische Realität über allen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen, sowohl den religiösen wie den ideologischen. Eine offene oder klandestine Unterstützung zugunsten einer Ideenlehre in einem anderen Staat war aus pragmatischen Gründen verpönt. Dieses Westfälische System prägte über lange Jahrhunderte das internationale System.Footnote 3 Freilich, so mag man argumentieren, wurde es sowohl durch die Ideologie des Kommunismus als auch durch die von Mearsheimer kritisierte Politik liberaler Hegemonie der USA untergraben. KommunistenFootnote 4 und liberale Hegemonen verbindet eines: aus einer guten Absicht heraus (Förderung des Weltfriedens, Durchsetzung der Menschenrechte oder ähnlichem) die Welt ein wenig unsicherer gemacht zu haben. Dies liegt vermutlich auch an dem zugrunde liegenden Menschenbild, das in beiden Fällen von einem geschichtsphilosophisch aufgeladenem Fortschrittsbegriff ausgeht, in der das Endziel der Geschichte bekannt ist. Im Fall des Kommunismus ist es die klassenlose Gesellschaft, die sich international durchsetzt und die Bedingungen menschlicher Entfremdung aufhebt und den Staat als Schutzmacht der Entfremdungsbedingungen abschafft. Im Fall der liberalen Hegemonie ist es die weltweite Durchsetzung eines umfassenden Schutzes von Menschenrechten in demokratischen oder demokratisierten Gesellschaften, mit der die Wirkmächte der Geschichte dialektisch an ihr Ende gekommen sind.Footnote 5

Von einem Realisten erwartet man hingegen keine geschichtsphilosophischen Spekulationen, und hier enttäuscht Mearsheimer auch nicht. Der Versuch der Vorwegnahme des irdischen Paradieses hat ebenso viel Unheil in die Welt gebracht wie der Anspruch, doch zumindest schon einmal die Ausgangsbedingungen für die Erreichung dieses Ziels zu verbessern. Realisten haben kein Geschichtsbild, in der sich am Ende der Mühsal ein irenisches Reich immerwährender Gerechtigkeit und Liebe öffnet. Vielmehr entspricht es der realistischen Anthropologie, die Offenheit der Geschichte zu betonen, die Konstanz der menschlichen Natur, die es erlaubt, aus der Geschichte heraus auch Lehren für kluges politisches Verhalten ziehen zu können. Eine der Lehren ist, dass Macht begrenzt, eingehegt werden muss: durch Gewaltenteilung und Recht im innerstaatlichen Bereich, durch Gegenmacht im Bereich der internationalen Politik. Freiheitsräume entstehen dort, wo dies gelingt. Da der Mensch fortwährend nach Macht strebt, um in einer grundsätzlich feindseligen Welt sich selbst behaupten zu können und dieser dunkle Impuls auch das Verhalten von Gruppen leitet, ist Macht und der Umgang damit das zentrale Erkenntnisinteresse in der Politik.

Eine solche Konfliktanthropologie kennzeichnet das Menschenbild von Thomas Hobbes, ja in Hobbes erfährt dieses Menschenbild seine extremste Zuspitzung. Der Mensch ist für ihn ein von Begierden getriebenes Tier, stets auf seinen Vorteil bedacht, stets im Krieg mit seinesgleichen: Der Mensch ist des Menschen Wolf, so lautet die beinahe ins sozialdarwinistische getriebene Lehre. Der Gesellschaftsvertrag, der laut Hobbes dann zustande kommt, ist nichts anderes als die Knute des Leviathan, eines künstlichen Übermenschen, der in einer gottlosen Welt die Zähmung des Menschen gewaltsam angeht. Freilich, das Verhältnis der Staaten untereinander ist weiterhin durch Anarchie gekennzeichnet, also durch Herrschaftslosigkeit. Sie müssen deshalb aus eigener Kraft für ihre Sicherheit sorgen, jederzeit vorbereitet sein und nicht nur die Mittel, sondern auch die Entschlusskraft haben, sich gegenüber ihren Feinden durchzusetzen – und die Umwelt der Staaten im Universum von Hobbes ist feindlich.

2 Anthropologische Grundlagen

Es hätte nicht überrascht, wenn sich Mearsheimer dieser Anthropologie bedient hätte, um seinen politischen Realismus zu begründen. Er tut es aber nicht, und dies ist beides: Stärke seines Ansatzes und die Schwäche in seiner Begründung. Mearsheimer geht von einer Kooperationsanthropologie aus. Sie besteht für ihn aus zwei zentralen Setzungen: Die Menschen haben erstens die Fähigkeit, sich ihres Verstandes zu bedienen, sie sind also vernunftbegabt. Mearsheimer nennt dies die „capacity to reason“ (2018, S. 14), was im Deutschen sowohl die Leistungen des Verstandes als auch der Vernunft beinhaltet. Zweitens sind Menschen soziale Wesen, die nicht als einsame Wölfe handeln – eine deutliche Abgrenzung zu Hobbes –, sondern die Gesellschaft anderer Menschen suchen und brauchen.

Die erste Annahme verweist auf das aufklärerische Denken. Der Mensch ist in der Lage, die Welt erkennend zu erschließen, er kann Ursachen auf Wirkungen beziehen, also kausal denken; er kann Regelmäßigkeiten erkennen und sich handelnd auf diese beziehen. Mehr noch, als geschichtliches Wesen weiß er, Erfahrung zu verwerten und für zielgerichtete Planung nutzbar zu machen. Er ist schließlich in der Lage, die Leistungen des Verstandes auf Vernunftgründe zu beziehen; das wird von Mearsheimer zwar nicht explizit erwähnt, liegt aber ganz in der Argumentationslinie, will man den Menschen nicht positivistisch verkürzen.

Die zweite Grundannahme hebt die soziale Dimension des Menschen hervor. Diese hat zwei Elemente. Das erste ist beinahe banal: Der Mensch ist ohne die Hilfe anderer Menschen nicht lebensfähig; er braucht als Baby und Kleinkind Hege und Pflege, manchmal auch als alter Mensch. Er kommt nicht fertig zur Welt, sondern entwickelt sich. Dies leitet über zum zweiten Element: Wir sind auf das Soziale verwiesen, um uns wesensmäßig entfalten zu können. Um unsere Fähigkeiten nutzen zu können, brauchen wir die Sprache; sie erleichtert die Kooperation. Als bloß atomisierter Einzelner würden wir verkommen, verkümmern; wir brauchen andere Menschen. Mit ihnen gründen wir Familien, schließen uns zu Gruppen zusammen, zu Gemeinschaften. Überall dort, wo wir mit anderen Menschen zusammenleben, stellen wir Regeln für ein reibungsloses Miteinander auf, wir rufen Institutionen ins Leben, die die Regeln überwachen und ihre Umsetzung erleichtern. Die soziale Natur des Menschen ist nicht allein auf das Überleben hin ausgerichtet, sondern auf die Erfüllung unserer wesensmäßigen Bestimmung. Das ist die Tradition des Aristoteles und des Thomas von Aquin. Sie findet sich heute prominent etwa in der katholischen Soziallehre.

Beide Traditionslinien stehen in keiner engen Verwandtschaft zum Realismus in der Internationalen Politik. Aus der Vernunftbegabtheit des Menschen hat die Aufklärung den Schluss gezogen, es müsse möglich sein, eine Welt auf der Basis republikanischer Strukturen zu errichten, in der der Krieg abgeschafft ist.Footnote 6 In einer schwächeren Version ist die Vernunftbegabtheit des Menschen Begründungsrahmen für die Theorie des demokratischen Friedens, der ökonomischen Interdependenz und des liberalen Institutionalismus, die Mearsheimer alle kritisch sieht. Aus der sozialen Grundstruktur des Menschen hat die Soziallehre gefolgert, es könne daraus eine Einheit der Menschheit und eine wahre Weltautorität entstehen, was Mearsheimer ebenso kritisch sieht. Die Frage ist also: Wie gelangt Mearsheimer von Grundannahmen, aus denen andere Theorietraditionen Folgerungen gezogen haben, die dem Realismus zuwiderlaufen, zur Rechtfertigung seiner Position?

Die Antwort liegt darin, dass Mearsheimer von einem anthropologischen Grundprinzip ausgeht, dass er aber nicht als ein solches benennt: dem Willen zum Überleben. Die beiden Grundannahmen sind diesem Grundprinzip nachgeordnet und haben eine dienende Funktion. Die Vernunftfähigkeit wird in den Dienst des Überlebens gestellt ebenso wie die Sozialnatur des Menschen. Der Hauptgrund für unsere soziale Natur sei, dass es die beste Möglichkeit für den Menschen ist, zu überleben (Mearsheimer 2018, S. 15); damit wird aus der sozialen Natur etwas bedingtes, verursachtes, und sie verliert ihren wesenhaften Charakter. Dies wird noch verstärkt durch unsere Fähigkeit, unsere Vernunft zu gebrauchen. Die Vernunft zeigt uns, dass wir unsere Ziele eher in Kooperation mit anderen als allein erreichen können. Aber welche Ziele können hier gemeint sein? Wir kooperieren aus egoistischen Motiven und weniger deshalb, weil wir so veranlagt sind. Somit entgehen uns die einfachsten Grundregeln des Zusammenlebens: die goldene Regel etwa oder Grundregeln der Fairness, die sich aus dem Prinzip der Solidarität ergeben. Mearsheimer ist hier eindeutig: Menschen können sich auf keinen anderen Imperativ außer dem des je eigenen Überlebens einigen. Mehr noch: Die unterschiedlichen Vorstellungen über das gute Leben sind eine Quelle andauernder Konflikte. Gemeint ist, dass die Vernunft unterschiedliche Vorstellungen darüber hervorbringt, was für ein gelingendes Leben notwendig und zentral ist. Ist es Freiheit? Gleichheit? Glaube, und wenn ja: welcher Art? Nein, insistiert Mearsheimer: Es gibt keine universal wahren Prinzipien des Lebens. Schlechte Nachrichten für die Menschenrechte, möchte man meinen, und findet auch bei Mearsheimer (2018, S. 3) Bestätigung: Der Liberalismus „oversells the importance of individual rights“. Das ist, wenn man im Liberalismus eben auch nur eine unter vielen universalisierbaren Ideen sieht, folgerichtig. Rechte, und eben auch Menschenrechte, sind für Mearsheimer disponibel. Im Ernstfall (Carl Schmitt hätte formuliert: im Ausnahmezustand) geht es um das pure Überleben des Einzelnen und der Gemeinschaft, da stören Menschenrechte bei dem, was getan werden muss.

Bis hierher hat Mearsheimer den Leser hinsichtlich der anthropologischen Fundierung seines Realismus zunächst auf die falsche Fährte gelockt und dann einen wattierten Hobbes präsentiert: eine Konfliktanthropologie aus Vernunftgründen und einem halbierten Begriff des Menschen als ein Sozialwesen. Der Liberalismus ist eine mögliche Wahl, die man treffen kann, aber nicht die einzig mögliche; die Optionen sind von der Wertigkeit für Mearsheimer gleich, weil es eben außerhalb der Vernunftgründe liegt, über letzte Prinzipien entscheiden zu können. Das scheint für einen Wissenschaftler, der in einer Demokratie lebt, etwas wenig, aber Relativismus ist weder strafbar noch per se undemokratisch.

3 Macht- und Sicherheitsdilemma

Kommen wir zum nächsten Punkt, der Frage, warum auch Gruppen, nachdem sie das Problem der Sicherheit des Einzelnen gelöst haben, miteinander in Konflikt geraten. Hier bedarf es der unterschiedlichen Sichtweisen über erste Prinzipien zunächst einmal nicht, es sei denn, sie werden anderen Gruppen gewaltsam überstülpt, was beim hegemonialen Liberalismus durchaus der Fall ist. Quasi naturgesetzlich aber scheint Mearsheimer anzunehmen, dass es eine natürliche Disposition von Gruppen gibt, zu expandieren, und zwar auf Kosten anderer Gruppen. Hierfür mag es ökonomische und ideologische Gründe geben, der Hauptgrund ist aber das Überleben (Mearsheimer 2018, S. 40). Gruppen oder Gemeinschaften garantieren also ihre Sicherheit und ihr Überleben, indem sie zu expandieren versuchen und damit für andere Gemeinschaften zur Bedrohung werden. Hier ist gewissermaßen der Naturzustand von Hobbes repliziert. Das berühmte Macht- und Sicherheitsdilemma entsteht.

Schauen wir uns das Argument einmal genauer an. Ideologische Gründe liegen beispielsweise in der Politik liberaler Hegemonie vor. Sie sind insofern rational, als ein liberales Umfeld eines Staates (oder insgesamt ein durch liberale Werte gekennzeichnetes internationales System) friedfertiger ist als eines, das durch unterschiedliche Ideologien geprägt ist, aber selbst das ist nicht sicher. Somit ist es eine naheliegende Strategie, wenn ein Land, das liberal organisiert ist und die Mittel dazu hat, sein außenpolitisches Umfeld ebenfalls im Sinne einer liberalen Ideologie umzuformen, seine Ideologie exportiert. Dieses Argument spielt schon bei John Rawls (2002) eine gewisse Rolle. In längerer Perspektive sinken die für Sicherheit bereitzustellenden Kosten, wenn man von Staaten umgeben ist, die die gleichen Grundwerte teilen. Liberale Hegemonie ist also ein vernünftiges Projekt, selbst dann, wenn es eine Restwahrscheinlichkeit gibt, dass eine Implementierung liberaler Prinzipien einen Krieg nicht ausschließt. Liberale Staaten können im Umgang miteinander aber die Kooperationskosten durch Institutionen senken, wirtschaftliches Wachstum durch Kooperation und wirtschaftliche Integration erzielen.

Wie aber kann es zwischen liberalen Regimen zu einem bewaffneten Konflikt kommen? Mearsheimer (2018, S. 51) führt hier folgende Überlegung an: Ein bloß liberaler Staat hat keine Seele, schafft keine emotionale Bindung von Bürgern und Regierung. Diese ist aber notwendig, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten; sie bedarf eines Kitts, und den kann der Liberalismus mit seinem Verweis auf die Rechte des Einzelnen nicht bereitstellen.Footnote 7 Das macht sich auch empirisch dadurch bemerkbar, dass viele US-Amerikaner keine tiefere Verpflichtung gegenüber dem Prinzip der Menschenrechte sehen. Sie tun dies bisweilen schon in ihren eigenen Angelegenheiten nicht, umso weniger ist es ihnen irgendwo in der Welt ein Anliegen. Dies macht sich insbesondere dann bemerkbar, wenn vom Einzelnen Opfer gefordert werden, gar das Opfer seines eigenen Lebens. Die Verpflichtung, für den Staat zu sterben, lässt sich mit dem Liberalismus nicht begründen;Footnote 8 und die nahen sozialen Kreise (Familie, Freunde, Nachbarn) spielen als Begründung in gesellschaftlichen Großgruppen kaum eine Rolle, zumal dann, wenn damit Verpflichtungen weit entfernt von den nahen sozialen Kreisen sind. Mit anderen Worten: So verführerisch die Idee einer liberalen Hegemonie auch sein mag, so wenig kann sie Unterstützung mobilisieren, gerade dann, wenn die Gefahr besteht, dass damit eigene Opfer verbunden sind. Es bedarf also eines Narrativs, einer Idee, die die Herzen wärmt, die den Einzelnen dazu bringt, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, wenn es schon keine demokratische oder liberale Tugend gibt, die dies aus intrinsischer Motivation zu leisten in der Lage wäre.

Hier kommt der Nationalismus ins Spiel. Er leistet das, was der Liberalismus und die Idee der Menschenrechte nicht leisten können. Er tut dies auf zwei Ebenen. Die erste ist: Nationalismus und Sozialstaat gehen eine enge Beziehung ein. Der Ausbau des Sozialstaats und die Politik, Menschen Chancen zu eröffnen, belohnt gewissermaßen die Loyalität der Bürger. Mehr noch: Die Politik ist geradezu gezwungen, mit immer neuen Programmen und Versprechungen sich dieser Loyalität zu versichern. Resultat ist, dass der Liberalismus sich von einer Idee der Abwehr gegen staatliche Intervention zu einer Plattform der Rechtfertigung weitgehender staatlicher Intervention entwickelt. Er wird Grundlage für Ansprüche an den Staat, etwa bei der Bereitstellung von Leistungen und Services. Der Staat wird zum Wohlfahrtsstaat. Die zweite Ebene ist: Der Nationalismus stellt ein Narrativ bereit, das in besonderer Weise geeignet ist, die Besonderheit der Nation hervorzuheben. Nationen zeichnen sich bei Mearsheimer durch sechs Merkmale aus. Sie haben ein Bewusstsein der Einheit, der Identität, haben eine von anderen Nationen unterscheidbare Kultur, ein Gefühl der Überlegenheit, eine von Mythen umrankte, „tiefe“ Geschichte und ein „heiliges“ Territorium. Der Mensch, der in eine Nation hinein geboren wird – im wörtlichen Sinne des natio – wird Teil einer Schicksalsgemeinschaft und verinnerlicht über Sozialisation die Narrative, die die Nation begründen. Ein letzter Punkt kommt noch hinzu, die Souveränität. Nationen wollen souverän sein und begehren deshalb einen eigenen Staat. Aber auch Staaten brauchen das Nationale, weil es hilft, die zentrifugalen Kräfte einer Gesellschaft zusammenzubringen.

Motiv der Fügsamkeit des Einzelnen in der Gruppe ist also weder Einsicht noch die pure Macht, auch nicht ein universales Projekt, sondern die Tatsache, dass der Nationalismus zwei Grundtriebe des Menschen befriedigt: die nach dem Sinn des Zusammenlebens und den materiellen Grundlagen. Gegenüber der Kraft des Nationalismus zieht der Liberalismus den Kürzeren. Anders formuliert: Kollektive Identitäten sind nur begrenzt ins Universale erweiterbar. Das ist eine Gegenposition zu der These der kritischen Theorie, nach der vernünftige Identitäten möglich (und wünschenswert) seien (Habermas 1976).

Aber, so wird man einwenden, ist dies nicht ein Widerspruch zu der Grundannahme von Mearsheimer, dass Menschen vernunftbegabt sind? Müssten sie nicht dann, wenn sie ihr Tun reflexiv betrachten, sich aus den Gespinsten der nationalen Mythen befreien und aus der Autonomie der Vernunft heraus Entscheidungen treffen? Ist nicht Aufklärung der Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit und Nationalismus eine Ideologie, die den Menschen in Unmündigkeit hält? Mearsheimer scheint hier skeptisch. Wenn ein Mensch das Alter erreicht hat, in dem seine intellektuellen Fähigkeiten gut ausgebildet sind, ist er bereits so gründlich mit den Werten seiner Nation und seines gesellschaftlichen Umfeldes durchsetzt, dass es ihm schwerfällt, Entscheidungen vernunftgemäß zu treffen. Seine Prägungen stehen ihm im Wege. Und doch: Wir sind nicht die Gefangenen unserer Sozialisation und unserer Dispositionen, wir sind unsere eigenen Herren.Footnote 9 Alles andere wäre auch verwunderlich, denn sonst müsste Mearsheimer erklären, wie er als US-Amerikaner ein kritisches Buch über die Außenpolitik seines Landes schreiben könnte.

Erklärungsbedürftig erscheint aber der von Mearsheimer (2018, S. 129) vorgebrachte Befund, die außenpolitischen Eliten seien „decidedly cosmopolitan“, und zwar durchweg. Da ist entweder in der nationalen Sozialisation etwas gründlich schiefgelaufen, oder es gibt tatsächlich gute Gründe, eine kosmopolitische Orientierung einer nationalen vorzuziehen.

Fassen wir zusammen: Der Liberalismus kann nicht für die Kohäsion einer Gesellschaft sorgen. Menschenrechte allein wärmen nicht. Dazu braucht es den Nationalismus als emotionale Klammer. Im Zuge der Sozialisation werden Menschen Teil der Nation und übernehmen das dazugehörige Wertesystem. Dieses sorgt für den Kitt zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, indem es ihnen erlaubt, sich als Einheit, als Ganzes zu sehen und nicht bloß als Summe unterschiedlicher Einzelner. Es sorgt darüber hinaus für eine enge Verbindung von Gesellschaft und Staat, insofern der Staat als legitime Interessenvertretung der Nation erscheint. Zweitens bedarf es des Sozialstaats als materieller Klammer. Der Sozialstaat ebnet gesellschaftliche Ungleichheit ein und sorgt für ein Mindestmaß an Chancengerechtigkeit. Er verhindert, dass durch krasse ökonomische Ungleichheit die Gesellschaft instabil wird und dass innerhalb der Gesellschaft unterschiedliche Lebensentwürfe verwirklicht werden können.

4 Einwände

Gegen diese Argumentation von Mearsheimer können drei Einwände vorgebracht werden. Der erste Einwand zielt auf das Prinzip des Überlebens und die Behauptung, dieses könne nur durch (aggressives) Wachstum gewährleistet werden. Der zweite Einwand betrifft die Rolle des Nationalen als eine Form der Vergemeinschaftung; der dritte Einwand schließlich zielt auf die Frage, was denn Sicherheit konstituiert bzw. was die großen Herausforderungen für die Sicherheit sind. Ist es lediglich das Macht- und Sicherheitsdilemma zwischen Staaten oder gibt es systemische Bedrohungen, die darüber hinaus gehen? Von der Antwort auf die Frage hängt die Plausibilität der Thesen Mearsheimers nicht unwesentlich ab.

Kann Überleben nur durch mehr Macht sichergestellt werden? In einer anarchischen Gesellschaft ist jeder seines eigenen Überlebens Garant; keine höhere Macht schützt oder entscheidet Konflikte autoritativ. Das gilt für den Raum des Politischen, aber nicht für den sozialen Nahraum. In letzterem entstehen Gemeinschaften, die sich aus der Natur des Menschen ergeben. Ferdinand Tönnies (2019) hat dies mit dem Begriff des „Wesenswillen“ bezeichnet, eine Gemeinschaft, die sich durch Kooperation auszeichnet. Am Anfang steht also die Kooperation, und nicht der Konflikt; damit verengt sich die Konfliktanthropologie auf den Bereich der Gesellschaft, auf den Bereich des Politischen, auf die Ebene der sozialen Beziehungen außerhalb der ursprünglichen Gemeinschaften. Hier scheint es, in Abwesenheit hierarchischer Strukturen, nur zwei grundsätzliche Strategien zu geben, um Konflikte zu lösen. Die erste Strategie ist die der Stärke. Erst dann, wenn die eigene Gemeinschaft stärker ist als andere, ist Sicherheit gewährleistet. Freilich, das Problem der Bündnisse ist damit nicht erledigt, also die Gefahr, dass sich mehrere Schwächere gegen einen Stärkeren verbünden. Diese negativen Koalitionen können auf eine Zerschlagung und Unterwerfung als einer starken Variante, aber auch auf eine Einhegung als einer schwachen Variante der Gestaltung des Handlungszusammenhangs abzielen. Die Strategie der Stärke kann also Gegenstrategien hervorrufen, gegen die auch weiteres Wachstum oder Machtakkumulation nicht hilft – freilich gilt das nur in einem Handlungszusammenhang mit mehreren Akteuren. Wenn nicht alles täuscht, erleben wir solche Prozesse gerade unter dem Begriff eines flexiblen Multilateralismus mit, in dem sich flexible Strukturen des Multilateralismus auch gegen die Interessen einer Hegemonialmacht richten können.Footnote 10

Die zweite Strategie ist die der Kooperation. Mearsheimer ist kein Gegner dieser. Wenn es jedoch an die Kernfrage der Sicherheit geht, ist die Kooperation kein verlässlicher Garant, weder in der Variante des demokratischen Friedens noch der Interdependenz und der Institutionen. Kooperation verringert Transaktionskosten und schafft iterativ einen Handlungsrahmen, der belastbare und verlässliche Kommunikationskanäle generiert, wodurch Konflikte einhegt und friedliche Lösungen ermöglicht werden. Betrachtet man alleine die Geschichte des internationalen System der letzten dreißig Jahre, ist nicht die Anzahl der kriegerischen Konflikte erstaunlich, sondern die Anzahl der Konflikte, die wegen der kooperativen Grundhaltung der Akteure überhaupt nicht an oder über die Schwelle des kriegerischen Konflikts gekommen sind. Entscheidend ist also bei der Bewertung der Leistungen des liberalen Ansatzes nicht, wo er gescheitert ist, sondern wo er erfolgreich war. Darüber hinaus übersieht Mearsheimer zwei Argumente. Zum einen muss man die drei Bereiche, die die liberale Theorie des Friedens begründen, nicht isoliert sehen, sondern in ihrem Zusammenwirken. Demokratien sind nicht nur inhärent gegenüber anderen Demokratien friedfertig, sie bevorzugen in der Regel auch institutionelle Kooperation und ökonomische Interdependenz zur Durchsetzung ihrer Interessen; die Vereinigten Staaten machen augenblicklich die Probe aufs Exempel, inwieweit ökonomischer Nationalismus und eine weitgehende Absage an institutionelle Kooperationen eine alternative, erfolgversprechende Strategie sein kann. Die erste vorläufige Bilanz fällt allerdings wenig ermunternd aus.

Zum anderen darf man die liberalen Konzepte der Friedenssicherung nicht als statische Größen verstehen, sondern als einen Prozess, in dessen Verlauf sich Kooperation verändert und verbessert. Erfolgreiche Kooperation hat Rückwirkungen auf das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit kooperativer Ansätze und verändert die Kultur der Kooperation. Gescheiterte Kooperation wiederum führt nicht unmittelbar zu Konfrontation und Konflikt, zumal dann nicht, wenn eine lange Reihe erfolgreicher Lösungen im kooperativen Modus vorliegt. Das Beispiel des Ersten Weltkriegs illustriert dies. Zwar konnten die Beteiligten (von Russland einmal abgesehen) mehr oder weniger als Demokratien eingeordnet werden, und auch das Maß der ökonomischen Interdependenz war hoch. Freilich fehlte es an Positivbeispielen gelungener Kooperation ebenso wie an Institutionen oder Regimen, in denen eine solche Kooperation hätte stattfinden können. Darüber hinaus gab es keine etablierten Kommunikationskanäle, die die schnelle Eskalation hätten auffangen können. Das Argument von Mearsheimer, mit anderen Worten, trägt nur dann, wenn man die Grundpfeiler einer liberalen internationalen Ordnung – demokratischer Friede, ökonomische Interdependenz und Institutionenbildung – separat betrachtet. Es wird aber deutlich schwächer, wenn man alle drei Elemente in ihrem Zusammenwirken untersucht.

Der zweite Einwand betrifft die Frage nach der Nation. Hier ist Mearsheimer wenig klar: Einerseits scheint er in Nationen die Verlängerung gewissermaßen natürlicher Formen der Vergemeinschaftung zu sehen, andererseits muss die nationale Idee geformt werden, denn Staaten brauchen die nationale Idee als inneren Kitt. Ist also die Nation eine natürliche Grunddisposition des Politischen, etwa wie die Familie oder die Sippe, oder ist sie etwas Konstruiertes, Zufälliges? Unzweifelhaft spielen Nationen erst im modernen Staatenleben eine Rolle. Indem sich in der Französischen Revolution der dritte Stand zur Nation erklärt, betritt ein neues politisches Subjekt die Bühne: Die Nation wird der Träger der politischen Willensbildung. Seither spielt die Frage nach der Kongruenz von Nation und Staat eine gewisse Rolle. Aber schon ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt, dass dies alles wenig eindeutig ist. Zwar trug das Heilige Römische Reich Deutscher Nation die Nation im Namen, jedoch spielte die Frage der Kongruenz von Nation und Staat keine Rolle. „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens/Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus“, heißt es in den Xenien von Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe (Schiller 1958, S. 267). Dieses ermahnende Wort, 1797 geschrieben, stand schon unter dem Einfluss der Französischen Revolution. Aber erst die napoleonischen Kriege bewirkten ein nationales Gemeinschaftsgefühl als Abwehr gegen die Besatzung.

Und dennoch, über beinahe tausend Jahre bedurfte es in der deutschen Geschichte nicht der Idee einer Nation. Mearsheimer würde argumentieren: Das ist alles richtig, aber es geht um den modernen Staat unter den Bedingungen von Mobilität, sowohl örtlich wie sozial. Nicht umsonst weist Mearsheimer (2018, S. 72) auf den Zusammenhang von Nation und Sozialstaat hin, freilich mit einer fragwürdigen Verkürzung, indem er einen Zusammenhang herstellt zwischen der Fähigkeit, einen totalen Krieg zu führen, und der Entwicklung des Sozialstaates. Erstaunlicherweise haben aber gerade die Nationen, die in der Entwicklung des Sozialstaats am weitesten gegangen sind – nämlich die skandinavischen Länder – nie einen totalen Krieg geführt, und das Argument verliert deutlich an Plausibilität. Richtig ist sicherlich, dass Staaten ihre nationale Identität nicht nur über Symbole und Riten festigen, sondern auch über ein gewisses Maß an innerer sozialer Integration.Footnote 11 Aber das bedeutet natürlich nicht, dass sich die soziale Integration an der Fähigkeit zur totalen Kriegsführung festmacht, auch wenn eine totale Kriegsführung ebenfalls der inneren Integration dienen kann.

Die Nation ist also ein historisch kontingentes Phänomen und nicht ein naturwüchsiges, quasi die höchste Stufe der Wesenskür. Sie ist überdies ein westliches Phänomen und keinesfalls universal ausbreitbar; alternative Ordnungsmodelle sind vorstellbar, wie etwa das chinesische Konzept des Tianxia.Footnote 12 Und es ist auch kein Naturgesetz, dass Nationalstaat und Kosmopolitismus sich unversöhnlich gegenüberstehen. Martha Nussbaum beispielsweise hat überzeugend argumentiert, dass beide aus der Sicht des capability approach eher zwei Seiten einer Medaille ähneln (Nussbaum 2019).

Das westliche Modell des souveränen Staats, normativ aufgeladen durch die Idee der Nation, hat sich in einer bestimmten historischen Konstellation gegen die Herrschaftsverschränkung und die universale Idee einer Respublica Christiana durchgesetzt und sich beinahe universal verbreitet. Es hat Antworten auf drängende Fragen gegeben, etwa die Frage der Einhegung unterschiedlicher Wahrheitsansprüche. Dadurch hat es aber neue Probleme geschaffen, vor allem mit dem von Mearsheimer beschriebenen Dilemma, dass souveräne Staaten für ihre eigene Sicherheit sorgen müssen und dadurch die Sicherheit anderer Staaten in Frage stellen. Und damit kommen wir zum dritten Einwand, der Frage nämlich, ob sich die in Staaten verfasste Welt in ihrer heutigen Struktur Herausforderungen ihrer Sicherheit gegenübersieht, die über das Macht- und Sicherheitsdilemma deutlich hinausgehen.

Mearsheimer hat argumentiert, dass das Überleben der zentrale Impuls, ja das Grundprinzip des Handelns in der internationalen Politik ist. Überleben bezieht sich immer auf eine Bedrohung, und es ist richtig, dass seit der Frühphase der modernen Staatenwelt die Bedrohung von anderen Staaten ausging.Footnote 13 Heute ist das nicht mehr der Fall. Ein großer Teil der gegenwärtigen Militäreinsätze gilt irregulären Kombattanten, also Gruppen, die außerhalb staatlicher Beauftragung agieren. Es ist beinahe eine Rückkehr in die Präwestfälische Ordnung, in der es darum ging, den Staat als einzig legitimen Akteur auf der internationalen Bühne zu konstituieren. Legitim heißt in diesem Zusammenhang: Nur vom Staat geht legitime Gewalt aus, nur der Staat ist in der Lage, verbindliche Verträge zur Ordnung der internationalen Politik abzuschließen.

Eine weitere Kategorie von Bedrohungen für Staaten geht von der Globalisierung selbst aus: Angefangen von der Möglichkeit von Pandemien, die sich rasend schnell verbreiten, über globale Finanzkrisen bis hin zur Klimakrise. Gegen keine dieser Bedrohungen hilft das traditionelle Arsenal des Nationalstaats in der Gestaltung des Innenraums der Welt. Hier kommt die Westfälische Ordnung an ihre Grenze. Pandemien, Finanzkrisen und Klimawandel scheren sich wenig um Fragen der Souveränität. Und hier kommt auch Mearsheimers Grundargument an eine Grenze: Wenn das Überleben die zentrale Staatsräson ist, dann erfordert die Staatsräson heute ein sehr viel umfangreicheres Instrumentarium des Handelns, als dies bei Mearsheimer anklingt. Ohne Institutionen, ohne Kooperation und ohne Übertragung von souveränen Rechten lassen sich die Überlebensfragen nicht lösen – und schon gar nicht ohne ein regelbasiertes System, das für das Überleben im 21. Jahrhundert die Grundvoraussetzung zu sein scheint. So bleibt am Ende der Befund, dass Mearsheimer mit seinem Entwurf auf halbem Weg stehen geblieben ist – auf dem halben Weg vom 19. ins 21. Jahrhundert.