Neue Relevanz des Themas?
Entwicklungsforschung und Forschung über Entwicklungszusammenarbeit (EZ) befassen sich meist nur am Rande mit multilateraler EZ. Im Mittelpunkt stehen meist übergreifende Fragen – etwa nach dem Beitrag von EZ zu wirtschaftlichem Wachstum, nach den Einflüssen von EZ auf die Governance-Systeme in Partnerländern, nach der Wirksamkeit von Modalitäten und Instrumenten (Programmfinanzierung etc.) der EZ – oder einzelne Akteure wie die Weltbankgruppe und die Europäische Union.
In den vergangenen rund fünf Jahren sind jedoch verstärkt Fragen aufgegriffen worden, die sich direkt oder indirekt mit dem multilateralen EZ-System befassen. Zum Teil wurden diese Forschungsanstöße von der EZ-Praxis gegeben, zum Teil stammen sie aus der Entwicklungsforschung. Hier lassen sich vor allem zwei zum Teil überlappende Debatten unterscheiden. Erstens das Interesse von Geberländern an neuen evidenzbasierten Analysen zur Arbeit einzelner multilateraler Einrichtungen. Da rund die Hälfte aller Mitglieder des Entwicklungshilfeausschusses (Development Assistance Committee, DAC) der OECD (Organization for Economic Cooperation and Development) regelmäßig die jeweilige Balance zwischen bi- und multilateraler EZ überprüftFootnote 1, finden solche Untersuchungen Eingang in Allokationsentscheidungsprozesse von Gebern.
Zweitens ist das EZ-System durch einen längerfristigen Proliferationstrend der Akteure gekennzeichnet (Zimmermann und Smith 2011; Severino und Ray 2009). Dies betrifft unterschiedliche Akteurstypen wie private Akteure (v. a. Stiftungen), emerging economies als neue Geber (China, Indien, Mexiko etc.) und schließlich die Zunahme von multilateralen Finanzierungsmechanismen in der EZ. Die wachsende Zahl von Akteuren hat dazu beigetragen, das EZ-System als fragmentiert und nachteilig wahrzunehmen, wodurch u. a. Effizienzverluste aufgrund hoher Transaktionskosten entstehen. 80 % aller Niedrigeinkommensländer (low-income countries, LICs) verzeichneten zwischen 2004 und 2009 eine Zunahme bei der Zahl der Geber, zum Teil nahm deren Zahl um mehr als 50 % zu (OECD 2012a, S. 122). Für einige Beobachter (etwa Reisen 2009) ist die Zahl multilateraler Akteure ein Hauptfaktor, der zu Fragmentierung beigetragen hat.Footnote 2 Andere Analysen erkennen hingegen eine gegenteilige Struktur, wonach die Konzentration multilateraler EZ insgesamt stärker sei und damit das multilaterale System weniger stark zu Fragmentierung beiträgt als bilaterale Geber.Footnote 3
Unterscheidungen und Zwischenformen
Die Unterscheidung zwischen bi- und multilateraler EZ ist eine der grundlegenden Unterscheidungen bei der Bereitstellung von EZ. Die Trennung deutet darauf hin, dass bestimmte EZ-Merkmale darauf zurückzuführen sind, ob es sich bei einem Geber um einen einzelnen Staat (bilaterale EZ) oder eine internationale Einrichtung (multilaterale EZ) handelt.
Die Kategorie multilaterale EZ geht von der Annahme aus, dass die einzelnen Geberbeiträge gepoolt und damit Teil der Leistung der bereitstellenden internationalen Einrichtung werden.Footnote 4 In der Praxis ist diese Unterscheidung zwischen bi- und multilateraler EZ allerdings nicht immer eindeutig möglich, vielmehr gibt es verschiedene Zwischen- und Sonderformen (etwa so genannte multi-bi aid
Footnote 5), die EZ der Europäischen Union oder internationale Vereinbarungen, die zu sektoralen oder regionalen Quotierungen auch der bilateralen EZ führen (Klingebiel 2012). Beispielsweise werden multilateralen Stellen zunehmend Mittel mit einer bestimmten Zweckbedingung bereitgestellt, wodurch die Entscheidungsprozesse zur Verwendung der Mittel nicht mehr bei den entsprechenden Einrichtungen und ihren Aufsichtsgremien liegen. Umgekehrt werden zunehmend von internationalen Foren Vorgaben gemacht, für welche Zwecke die EZ auch bilateraler Geber eingesetzt werden soll, beispielsweise für bestimmte Ländergruppen oder spezifische Sektoren. Dies kann daher in umgekehrter Weise als ein Prozess interpretiert werden, der durch internationale Entscheidungen (vielfach nur mit empfehlendem Charakter) Einfluss auf bilaterale Allokationsentscheidungen nehmen soll.
Umfang und Bedeutung
Gemessen an den Kernbeiträgen an multilaterale Einrichtungen (einschließlich an die EU) stellen DAC-Geber der OECD knapp 30 % ihrer EZ als multilaterale EZ zur Verfügung (2011: 27 % bzw. 37,6 Mrd. US-$); dieser Anteil lag in früheren Jahren teilweise höher (2001: 33 %). Für die einzelnen DAC-Mitgliedsländer gibt es eine große Spannbreite bei der Frage, wie viel multilaterale EZ geleistet wird. Das weltweit größte EZ-Geberland, USA, stellt den mit Abstand geringsten Anteil für multilaterale Stellen bereit (2011: 11,5 %), Italien den höchsten (56,7 %); Deutschland befindet sich mit 34,4 % „im oberen Mittelfeld“ (OECD 2013b).Footnote 6
In den vergangenen Jahren haben solche Mittel stark zugenommen, die über multilaterale Kanäle bereitgestellt werden, aber eine Zweckbindung aufweisen, etwa hinsichtlich der Sektoren oder der Länder, für die diese Mittel eingesetzt werden müssen. Zum Teil lassen bilaterale Geber sehr spezifische – auch kleinere – Projekte über diesen Weg abwickeln. Diese Ressourcen sind daher keine „echten“ multilateralen Mittel, die als KernbeiträgeFootnote 7 den internationalen Einrichtungen zur Verfügung stehen („Bilateralisierung der multilateralen EZ“), sondern werden über multilaterale Mechanismen verausgabt. Der Anteil dieser so genannten multi-bi EZ an der gesamten EZ beläuft sich derzeit auf 12 % (2011: 16,5 Mrd. US-$) und nimmt rasch zu (OECD 2013b). Einige Geber wie Australien, Kanada und die USA stellen über diesen Weg mehr Mittel als über Kernbeiträge zur Verfügung. Die Nachteile von multi-bi EZ sind erheblich und überwiegen mögliche Vorteile (Pilotierung bestimmter Ansätze etc.) bei weitem; dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Nicht-Kernbeiträge nur eines einzelnen Gebers handelt (also ein single trust fund), gegenüber einer Nicht-Kernfinanzierung durch mehrere Geber (multi-donor trust funds). Nicht-Kernbeiträge erhöhen beispielsweise die Transaktionskosten und untergraben die Governance-Strukturen multilateraler Institutionen und können so dazu beitragen, dass Mandate von Einrichtungen „verwässert“ werden, weil Anreize zur Übernahme verschiedenster Aufgaben gegeben werden (OECD 2012a, S. 47–49).
Das Verhalten „neuer Geber“ gegenüber multilateraler EZ ist uneinheitlich. Die nicht dem DAC angehörenden EU-Mitgliedstaaten verfügen meist selbst nicht über Implementierungsstrukturen und stellen relativ hohe EZ-Anteile über die EU zur Verfügung. Russland und Brasilien nutzen insbesondere regionale Mechanismen, während China und Indien bilaterale Ansätze bevorzugen (OECD 2011a, S. 34; UNDESA 2010).
Akteure der multilateralen EZ
Multilaterale EZ-Akteure sind heterogen etwa mit Blick auf ihre Bedeutung, Aufgabenstellung und regionale oder sektorale Ausrichtung. Hinsichtlich des zur Verfügung stehenden Volumens dominieren die EZ der EU-Institutionen sowie die Entwicklungsorganisation der Weltbank (International Development Association, IDA) und Regionalbanken (wie beispielsweise die Afrikanische Entwicklungsbank). Einige Akteure arbeiten weltweit, während andere auf eine bestimmte Region konzentriert sind. In Form des Global Fund zur Bekämpfung von HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria zählt ein so genannter vertikaler Fonds zu den wichtigsten multilateralen Akteuren. Außerdem besteht auf multilateraler Ebene zumindest in wichtigen Bereichen eine Aufgabenteilung zwischen Entwicklungsfinanzierung (Entwicklungsbanken) einerseits und Technischer Zusammenarbeit (UN-Fonds und -Programme) andererseits.
Auch wenn die Zahl der multilateralen EZ-Akteure mit rund 210 Organisationen, Fonds und TreuhandfondsFootnote 8 groß ist, lässt sich eine Konzentration auf fünf Hauptakteure bzw. Akteursgruppen feststellen. Auf diese Akteure entfallen 81 % (Durchschnitt 2006–2010) aller Mittel, die von den DAC-Mitgliedern für multilaterale EZ aufgewendet werden (OECD 2013a, S. 12):
-
Der Europäische Entwicklungsfonds (EEF) und das EZ-Budget der EU (36 %).
-
Die zur Weltbankgruppe gehörende IDA (22 %).
-
Die UN-Fonds und -Programme (9 %).
-
Die Asiatische und die Afrikanische Entwicklungsbank (3 bzw. 5 %).
-
Der Global Fund zur Bekämpfung von HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria (7 %).
Auf die übrigen multilateralen Stellen entfielen nur 19 % der gesamten multilateralen EZ.
Die spezifische Rolle der EU
Die EZ der EU-Institutionen, finanziert aus Mitteln des Europäischen Entwicklungsfonds und zu einem geringeren Anteil aus europäischen Haushaltsmitteln, beläuft sich auf rund 18 % der gesamten EZ der EU-Mitgliedstaaten des DAC, womit die Europäische Kommission größter Geber in der EU ist (Gänzle et al. 2012; Klingebiel 2012). Die EZ der EU-Institutionen hatte 2010 einen Umfang 13 Mrd. US-$; die im DAC vertretenen EU-Mitgliedstaaten stellen insgesamt mehr als die Hälfte (2010: 55 %) der gesamten weltweiten EZ der DAC-Mitglieder zur Verfügung (OECD 2011b, S. 140, 154–155).
Die EU als supranationaler Geber ist ein spezifischer Fall, der nur sehr eingeschränkt der „multilateralen EZ“ zugeordnet werden kann.Footnote 9 Die EU ist das einzige Mitglied des DAC, das in dreifacher Funktion in Erscheinung tritt. 1) Sie stellt zum einen selbst EZ für Entwicklungsländer bereit. 2) Zum anderen tritt die EU auch als Geber gegenüber multilateralen Einrichtungen auf und leitet entsprechende Mittel weiter. 3) Zusätzlich wirkt die Union als Katalysator zwischen den EU-Mitgliedstaaten sowie der Kommission für abgestimmte Vorgehensweisen gegenüber multilateralen Einrichtungen und Partnerländern. Insgesamt wäre es angemessen, die EZ der EU nicht als Teil der multilateralen EZ zu subsumieren, sondern als kollektiven Bilateralismus zu verstehen (Klingebiel 1993). Eine solche neue Zuordnung wäre eventuell bei Geberländern relevant, die Obergrenzen für EZ-Beiträge an multilaterale Stellen festgelegt haben (OECD 2012a, S. 31).
Die Frage der Komplementarität im Bereich der EZ stellt sich für die EU in mehrfacher Hinsicht (Grimm 2010; Furness 2012). Vorrangig geht es um die Komplementarität zwischen Union und Mitgliedstaaten. Der Vertrag von Maastricht sah vor, dass die Politik der EU Institutionen die Politik der Mitgliedstaaten ergänzen soll. Die Bedeutung der EU als eigenständiger Geber wurde durch den Vertrag von Lissabon weiter gestärkt. Die Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten sollen sich nun gegenseitig ergänzen (shared parallel competences). Eine weitere wichtige und zunehmend diskutierte Dimension bezieht sich auf die Komplementarität der EZ zwischen den EU-Mitgliedstaaten.
Die Wirksamkeit der gemeinschaftlichen EZ der EU-Institutionen ist seit Ende der 1990er Jahre durch eine Reihe von Reformen deutlich verbessert worden (Grimm 2010). Weitere wichtige Herausforderungen für die EU und ihre Mitgliedstaaten bestehen bei der Koordinierung der europäischen EZ. Der Verhaltenskodex zur Arbeitsteilung von 2007 (division of labour) und die Initiativen zur Einführung gemeinsamer Programmierungsstrategien (joint programming) zielen hierauf ab.