1 Hintergrund, Ziel und Zweck

Rindenbewohnende (epiphytische) Flechten reagieren aufgrund ihrer besonderen biologischen Eigenschaften sehr empfindlich auf Umweltveränderungen (Kirschbaum und Wirth 1995). Sie werden daher seit vielen Jahrzehnten für aussagekräftige und kostengünstige Verfahren zur Beurteilung der Luftqualität in Mitteleuropa genutzt (LeBlanc und Sloover 1970, VDI 2005). Bis zu den 1980er Jahren zählten die seinerzeit dominierenden saurer reagierenden Luftverunreinigungen zu den wichtigsten Einflussgrößen und führten besonders in Ballungsgebieten und deren Umgebung zu einem drastischen Rückgang vieler Flechtenarten. Mit der deutlichen Abnahme der SO2-Belastung in den letzten beiden Jahrzehnten wanderten viele Flechten in diese Räume zurück (Kirschbaum et al. 2006; Stapper 2002). Dabei handelte es sich jedoch nicht nur um die einst verschwundenen Arten. Besonders in den urbanen Randgebieten und in den zuvor geringer belasteten ländlichen Räumen setzte eine Änderung der Artenzusammensetzung ein, die vornehmlich auf die hohe Belastung durch Stickstoff-Immissionen, insbesondere durch Ammoniak zurückgeführt wird (van Herk 1999; Franzen-Reuter et al. 2006). Hauptquelle von Ammoniak sind Tierexkremente, welche aus Tierhaltungsbetrieben, Lagerstätten sowie während und nach der Applikation als Wirtschaftsdünger (Gülle etc.) vom Boden NH3 freisetzen.

Aus lichenologisch intensiver bearbeiteten Räumen häufen sich Meldungen über die Ausbreitung von Flechtenarten, welche ihren Verbreitungsschwerpunkt in Südeuropa besitzen (van Herk et al. 2002; Aptroot und van Herk 2007). Aufgrund der längerfristig empfindlichen Reaktion von Flechten auf Veränderungen der Temperatur (Henssen und Jahns 1974) und der daraus resultierenden Anpassung bestimmter Flechtengesellschaften an klein- und mesoklimatische Bedingungen (Barkman 1958; Schöller 1991; Stapper und Kricke 2004) ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Veränderungen epiphytischer Flechtengemeinschaften im Untersuchungsgebiet mit dem aktuellen Klimawandel nahe liegend.

Untersuchungen im nordwestlichen Niedersachsen sollten klären, ob und in welchem Ausmaß die genannten Veränderungen in einer von Ballungsräumen weit entfernt liegenden ländlichen Region zutreffen. Hierfür diente eine Wiederholung einer im Jahr 1989 durchgeführten Kartierung epiphytischer Flechten als Grundlage (Ecoplan 1990).

2 Material und Methoden

2.1 Untersuchungsgebiet

Das Untersuchungsgebiet liegt im Landkreis Emsland im Nordwesten Deutschlands (Abb. 1). Nährstoffarme, pleistozäne Sandböden und ausgedehnte Moorgebiete waren Hauptgründe für die lange Zeit dünne Besiedlung dieser Region. Im Zuge großräumiger Bodenkultivierungen (Trockenlegung, Tiefumbruch) und dem Einsatz von Mineraldünger gewann das Untersuchungsgebiet für die Landwirtschaft erheblich an Attraktivität. Durch die für das Pflanzenwachstum vorteilhaften Klimabedingungen sowie eine günstige Infrastruktur hat sich diese Region zusammen mit den angrenzenden Gebieten der Niederlanden, Südoldenburgs und dem südlich angrenzenden Westmünsterland zu einem europaweit landwirtschaftlich am intensivsten genutzten Raum entwickelt. Der Anstieg der Tierzahlen unterstreicht besonders am Beispiel der Geflügelbestände die Intensivierung der Landwirtschaft in den letzten 20 Jahren in den zum Untersuchungsgebiet zählenden Gemeinden (Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Lage des Untersuchungsgebietes (rot umrandet) im Landkreis Emsland, Nordwest-Deutschland

Abb. 2
figure 2

Entwicklung der Legehennen-Bestände in den neun Gemeinden des Untersuchungsgebietes 1980–2003 (Daten: Niedersächsisches Landesamt für Statistik)

2.2 Datenerhebung

Die Studie basiert auf einem zeitlichen Vergleich von Flechtenbeständen älterer, freistehender Bäume aus den Jahren 1989 und 2007. Bei den untersuchten Trägerbäumen handelte es sich vorwiegend um Stieleiche (Quercus robur), einer Baumart, mit einer von Natur aus vergleichsweise sauren Borke (Barkman 1958). Daneben wurden die Flechtenbestände einiger Linden (Tilia spec.) und Ahorn (Acer platanoides, A. pseudoplatanus) – trotz ihrer abweichenden Borkenchemie – berücksichtigt.

Die Nomenklatur der Flechten richtet sich zur besseren Übersichtlichkeit nach der Liste der Zeigerwerte Wirth (2001) und folgt nicht zwischenzeitlich erfolgten Neubenennungen. Für die in der Zeigerwert-Liste nicht genannten Arten folgt die Nomenklatur Scholz (2000). Aufgrund nicht gesicherter Differenzierung bei der Erstkartierung wurden einige Artenpaare zusammengefasst (Tabelle 1).

Tabelle 1 Arten aktueller Nomenklatur nach Scholz (2000) und verwendete Synonyme

Für die Wiederholungskartierung wurden nur Monitoringpunkte (MP) mit mindestens 5 Trägerbäumen derselben Baumart berücksichtigt. Analog zu den in VDI (2005) genannten Kriterien waren 27 der 72 MP für die Erstkartierung ausgewählten MP für eine Wiederholungskartierung ungeeignet. Wichtigste Ursachen waren eine starke Beschattung der Stammbereiche durch aufkommende Gehölze oder eine Unterlassung der Aufastung sowie eine Fällung der Gehölze. Für die Wiederholungskartierung konnten deshalb nur 45 Probepunkte, bestehend aus 35 Eichen (265 Bäume), 5 Ahorn (49 Bäume), 5 Linden (41 Bäume) berücksichtigt werden. Die Anzahl der untersuchten Trägerbäume pro Kontrollpunkt lag zwischen 5 und 18.

Um eine Methodenkonstanz zur Erstkartierung zu gewährleisten, wurde der gesamte Artenbestand epiphytischer Flechten bis zu einer Höhe von ca. 2 m Höhe am Stamm der untersuchten Bäume inventarisiert. Im Gegensatz zu den heute gängigen standardisierten Verfahren (VDI 2005, van Herk 1999), erfolgte keine Quantifizierung der Bewuchsdichte am Baumstamm. Vielmehr wurde ausschließlich die Anzahl der Vorkommen einer Art an den aus mehreren Bäumen bestehenden Monitoringpunkten, also die Frequenz, ermittelt.

Zur Bioindikation der an den verschiedenen Lokalitäten im Untersuchungsgebiet bestehenden Standortverhältnisse wurden die von Wirth (2001) den Flechten zugewiesenen ökologischen Zeigerwerte für die Feuchte (F), das Nährstoffangebot (N), die Substrat-Acidität (R), die Temperatur (T) und die Toleranz gegenüber Luftschadstoffen (To) herangezogen. Einige in dieser Liste fehlende oder unsichere Zeigerwerte wurden nach Kirschbaum und Wirth (1995) ergänzt. Daneben wurden die von van Herk (1999) verwendeten Zeigerarten für die Ermittlung der Ammoniak-Belastung „Nitrofiele Indicatie Waarde“ (NIW) sowie der Säuretoleranz „Acidofiele Indicatie Waarde (AIW)“ ausgewertet. Berechnet wurde für jeden MP der mittlere, mit der Frequenz gewichtete Index eines Zeigerwertes (I MP ). Dieser errechnet sich wie folgt:

\(I_{Mp} = \frac{1}{\sum\limits^n_{i=1}} \sum\limits^n_{i=1} F_ixZ_i\)

I MP : Index des mittleren Zeigerwertes Z eines Monitoringpunktes

n: Anzahl Flechten mit Zeigerwert Z an einem Monitoringpunkt

F i : Frequenz einer Flechtenart i am Monitoringpunkt

Z i : ökologischer Zeigerwert der Flechtenart i für R, N, T, Tox, F nach Wirth (2001), Werte für Einstufung als AIW- oder NIW-Art nach van Herk (1999) = 1

Für Signifikanzprüfungen der Jahresmittelwerte wurde der Wilcoxon–Wilcox Test herangezogen.

3 Ergebnisse

3.1 Vorkommende Flechten

Bei der Wiederholungskartierung 2007 wurden auf 355 Trägerbäumen insgesamt 76 Flechtenarten nachgewiesen (Tabelle 2). Mit Bacidia adastra (18 Nachweise), Gyalideopis anastomosans (1 Nachweis), Lecanora sinuosa (1 Nachweis), Lecidella flavosorediata (1 Nachweis), Protoparmelia oleagina (1 Nachweis) und Rinodina pityrea (8 Nachweise) wurden mehrere Sippen erfasst, die 1989 noch nicht beschrieben oder noch nicht erkannt wurden. Diese Sippen wurden daher nicht weiter in die Auswertung einbezogen. Auch unter Berücksichtigung des taxonomischen Abgleichs wurden insgesamt 67 Sippen für die vergleichende Auswertung übernommen. Von ihnen wurden bei der Erstkartierung 48 Sippen und bei der Wiederholungskartierung insgesamt 63 Sippen festgestellt. Die durchschnittliche Artenzahl an den einzelnen Probepunkten stieg signifikant um über 10 % von 15,4 im Jahr 1989 auf 17,1 Arten im Jahr 2007. Bezogen auf die verschiedenen Trägerbaumarten wurden für beide Erfassungsdurchgänge an Eiche die niedrigsten und an Linde die höchsten durchschnittlichen Artenzahlen festgestellt. Auch die Zunahme der Artenzahl fiel bei den Flechtenbeständen auf Stieleiche am geringsten und bei der Linde am stärksten aus.

Tabelle 2 Nachgewiesene Flechtenarten mit ihrer Häufigkeit im Untersuchungsgebiet (Frequenz) und ihren Zeigereigenschaften

3.2 Veränderungen der Artenzusammensetzung

Für mehrere Flechten-Arten wurden gravierende Bestandsrückgänge im gesamten Untersuchungsgebiet registriert (s. Tabelle 2). Dies betrifft vor allem die von Wirth (2001) als säuretolerant (acidophytisch, R > 7) oder von van Herk (1999) für die Ermittlung des AIW herangezogene Arten (AIW-Arten). Besonders extrem ist der Rückgang für Lecanora conizaeoides, einer Art, die aufgrund ihrer Toxitoleranz auch in ländlichen Räumen weit verbreitet war. An keinem der noch vor 18 Jahren besiedelten 213 Trägerbäume wurde sie wieder gefunden. Ähnliche Rückgänge sind für ebenfalls an saure Borken angepasste (acidophytische) Arten wie Hypocenomyce scalaris, Lecanora pulicaris und Hypogymnia physodes (Abb. 3) zu verzeichnen. Die bereits 1989 seltenen Cetraria chlorophylla und Pseudevernia furfuracea wurden ebenfalls nicht mehr angetroffen. Die größte Konstanz unter den Acidophyten weist Evernia prunastri auf, dennoch ist sie an über 60 % der ehemals besiedelten Bäume verschwunden. Die 2007 noch vorhandenen Lager der Acidophyten waren in vielen Fällen von reduzierter Größe und Vitalität. Einzelne Neuansiedlungen acidophytischer Arten wurden nur an Linden in Dorfbereichen registriert.

Abb. 3
figure 3

Bestandsveränderungen von Hypogymnia physodes 1989–2007. Angaben (in Prozent) zur Frequenz besiedelter Trägerbäume pro Messpunkt

Im Gegensatz zu den Acidophyten haben die von Stickstoff-Immissionen und basischen Einträgen geförderten neutrophytischen und nitrophytischen Arten stark zugenommen. Neben den auffälligen, häufig in der Nachbarschaft zu Tierställen und Mistlagern anzutreffenden gelben Nitrophyten (N-Zeigerwert oder R-Wert > 7) aus den Gattungen Caloplaca, Candelariella und Xanthoria nahmen die grauen Physcia- undPhaeophyscia-Arten sowie die KrustenflechtenLecanora chlarotera und Lecidella elaeochroma ebenfalls deutlich zu. Insbesondere Xanthoria parietina verzeichnete einen erheblichen Bestandszuwachs (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Bestandsveränderung von Xanthoria parietina 1989–2007. Angaben (in Prozent) zur Frequenz besiedelter Trägerbäume pro Messpunkt

Für die Mehrzahl derParmelia-Arten lässt sich eine leichte Bestandszunahme erkennen.Besonders starke Zunahmen zeigenParmelia glabratula/subauriferaundParmelia subrudecta agg.Eine leichte Abnahme ist für Parmelia sulcataundP.acetabulumfestzustellen. Beide Arten zeigten häufig starke Schädigungen ihrer Lager. Bemerkenswert ist zudem die Zunahme der allgemein als schadstoffempfindlich geltenden Krustenflechten Opegrapha vulgata var.subsiderellaundSchismatomma decolorans sowie vonHaematomma ochroleucum.

Eine ebenfalls auffällige Veränderung im Arteninventar ist das vermehrte Auftreten südlicher und wärmeliebender Arten mit hohen Temperatur-Werten (T ≥ 7), wie Diploicia canescens, Hyperphyscia adglutinata, Parmelia elegantula, P.laciniatula, oder P. subrudecta agg. Gleichzeitig ist ein starker Rückgang nördlich verbreiteter Arten, wie Cetraria chlorophylla, Lecanora conizaeoides, Lecanora pulicaris oder Pseudevernia furfuracea, festzustellen.

3.3 Zeigerwerte

Deutlicher als durch die einzelnen nachgewiesenen Flechtenarten sowie ihre Zeigereigenschaften kommen die im Untersuchungsgebiet herrschenden Standortverhältnisse mit Hilfe einer synoptischen Auswertung der artspezifischen Zeigerwerte nach Wirth (2001) und ihrer Eigenschaften nach van Herk (1999) zum Ausdruck. In Abb. 5 sind die Mittelwerte der Standortzeigerwerte (IMP) dargestellt.

Abb. 5
figure 5

Mittlere Zeigerwerte nach (Wirth 2001) sowie der AIW- und NIW-Indizes nach van Herk (1999) aus den Jahren 1989 und 2007

Es konnte eine deutliche und signifikante Zunahme der mittleren Nährstoff- und Reaktionswerte im gesamten Untersuchungsgebiet festgestellt werden. Eine ebenfalls deutliche, statistisch hochsignifikante Zunahme (p < 0,001) ist für den mittleren Temperaturwert festzustellen, während die mittleren Feuchte-Werte unverändert blieben und die Toxitoleranzwerte geringfügig abnahmen. Von den nach van Herk (1999) spezifizierten Zeigerarten haben die säuretolerierenden AIW-Arten seit 1989 um etwa die Hälfte abgenommen; in vergleichbarem Umfang nahmen die durch Ammoniakeinwirkungen geförderten (NIW-) Arten zu. Die in der Vergangenheit festgestellte Empfindlichkeit gegen sauer reagierende Luftverunreinigungen vieler Neutrophyten und AIW-Arten erklärt die Abnahme des mittleren Toxitoleranzwertes.

Die typischen, 1989 noch ausgeprägten baumart-spezifischen Unterschiede der Flechten-Diversität auf Eiche, Linde und Ahorn haben sich im Jahr 2007 weitgehend nivelliert (Tabelle 3). Hervorgerufen wurde dies durch einen vergleichsweise starken Anstieg des NIW-Index und der R- und N-Zeigerwerte auf Eiche und sogar einer leichten Zunahme des AIW-Index bei Ahorn. Auf der saureren Borke von Eiche lag das Niveau der R- und N-Zeigerwerte sowie des mittleren NIW-Index allgemein niedriger als von Ahorn und Linde. Umgekehrt verhielt es sich in beiden Kampagnen mit den Temperatur-Zeigerwerten. Nur die mittleren Temperaturzeigerwerte bei Eiche behielten gegenüber den anderen Baumarten ein deutlich höheres Niveau.

Tabelle 3 Mittlere Zeigerwert-Indizes und AIW- und NIW-Indizes von Flechtengemeinschaften unterschiedlicher Trägerbäume in den Jahren 1989 und 2007

3.4 Räumliche Verteilung

Für den räumlichen Vergleich der mittleren Zeigerwerte und Indizes wurden nur die 35 MP mit Stieleiche als Trägerbaum berücksichtigt. Die mittleren Temperatur-, Feuchte- und Toxitoleranzwerte weisen ein relativ homogenes Verteilungsmuster auf und unterscheiden sich in der Nähe von Ackerflächen, Grünländern, Stallanlagen oder Wohnsiedlungen vergleichsweise wenig (Tabelle 4). Deutlich abgenommen haben die Toxitoleranzwerte nach 1989 in Grünlandgebieten, was auf einen Rückgang saurer Luftbelastungen hindeutet. Bei den mittleren Temperaturwerten war der Anstieg in der Nähe von Ackerflächen mit 15 % am stärksten ausgeprägt. Hier war auch die größte Zunahme der mittleren R- und N-Werte zu verzeichnen. Abbildungen 6 und 7 zeigen die räumliche Verteilung und den zeitlichen Vergleich am Beispiel der mittleren R-Zeigerwerte und der AIW-Indizes im Untersuchungsgebiet. Der Rückgang NH3-empfindlicher Arten kam in Grünland- und Ackergebieten mit einer deutlichen Abnahme der AIW-Indizes von 59 % bzw. 62 % nahezu identisch zum Ausdruck, während Ackergebiete mit 250 % die markanteste Zunahme der NIW-Arten zu verzeichnen hatten. In abgeschwächter Weise war ein ähnlicher Trend in den Siedlungsgebieten festzustellen.

Abb. 6
figure 6

Mittlere Reaktions-Zeigerwerte an 35 Monitoringpunkten mit Eiche als Trägerbaum 1989 und 2007

Abb. 7
figure 7

Mittlere AIW-Indizes an 35 Monitoringpunkten mit Eiche als Trägerbaum 1989 und 2007

Tabelle 4 Mittlere Zeigerwerte und Indizes von Flechtengemeinschaften auf Eiche in der Nachbarschaft zu verschiedenen Flächennutzungen (Veränderungen gegenüber 1989 in Prozent)

In Grünlandgebieten lagen die R- und N-Werte in beiden Perioden auf dem niedrigsten Niveau, welches auf eine im Vergleich zu anderen Bodennutzungen geringere NH3-Belastung hindeutet. Diese Bereiche werden als Bestandteil eines weiträumig extensiv genutzten Schutz-Gebietes wahrscheinlich weniger gedüngt. Mit Ausnahme dieser Monitoringpunkte (Q09, Q16) kam es – den baumartspezifischen Unterschieden vergleichbar – auch bei der räumlichen Verteilung zu einer Nivellierung der mittleren R-Zeigerwerte (Abb. 8). Die Zunahme neutrophytischer Arten war besonders hoch auf Bäumen mit einem 1989 noch stärker acidophytischen Bewuchs. Hingegen haben sich in der Nachbarschaft vieler der 1989 bereits vorhandenen Hofstellen die hohen R- und N-Zeigerwerte- sowie NIW-Indizes kaum noch erhöht. Der unmittelbare Einfluss der zwischenzeitlich neu entstandenen Stallanlagen ließ sich nicht genauer dokumentieren, da in ihrer Nähe (bis 100 m entfernt) keine Monitoringpunkte lagen.

Abb. 8
figure 8

Veränderung der mittleren Reaktions-Zeigerwerte zwischen 1989 und 2007 an 35 Monitoringpunkten mit dem Trägerbaum Eiche

4 Diskussion

Achtzehn Jahre nach einer Flechtenkartierung im Jahr 1989 waren erhebliche Unterschiede in der Zusammensetzung epiphytischer Flechten zu erkennen. Typische Artenzusammensetzungen aus acidophytischen Arten auf der Hauptbaumart Stieleiche (Barkman 1958, Klement 1955) waren 2007 im Untersuchungsgebiet nicht mehr anzutreffen. Acidophytische (AIW-) Arten wie Hypogymnia physodes, Lecanora conizaeoides, Hypocenomyce scalaris und Lecanora pulicaris mit entsprechend niedrigen R-Zeigerwerten (< 4) zählten noch im Jahr 1989 im UG, ebenso wie in anderen Regionen Mitteleuropas, zu den häufigsten Flechtenarten. Aufgrund ihrer geringen SO2-Empfindlichkeit galten sie als besonders immissionsresistent und waren in hoch belasteten Industrieräumen anzutreffen (Heidt 1978; Herzig und Urech 1991; Köhle 1977). In den 1980er Jahren prägten sauer reagierende Luftverunreinigungen wie SO2 und NOx auch in ländlichen Räumen die Immissionssituation, während derzeit mit pH-Werten zwischen 5,5–6 von saurem Regen keine Rede mehr sein kann (Dämmgen 2005). Hierzu hat der Rückgang saurer Luftschadstoffe ebenso wie der Anstieg von Ammoniak geführt, denn NH3 ist großräumig der einzige bedeutsame Immissionstyp alkalischer Reaktion. In landwirtschaftlich intensiv genutzten Räumen kommt ihm daher eine entscheidende Rolle in der chemischen Zusammensetzung der bodennahen Atmosphäre zu (Dämmgen 2005). Diese besonders in den letzten 2 Jahrzehnten stattgefundene Entwicklung spiegelt sich im UG in einer Zunahme der mittleren R-Zeigerwerte der Ellenberg’schen Zeigerwerte nach Wirth (2001) sehr deutlich wider. Allerdings waren schon 1989 im UG mit acidophytischen Arten und einer Vielzahl neutrophytischer Arten untypische Artenkonstellationen festzustellen, die, wie in anderen ländlichen Regionen Mitteleuropas, seinerzeit bereits auf Einflüsse landwirtschaftlicher Nutzung zurückgeführt wurden (van Dijk 1987; Jacobsen 1992; Mohr 1992). Bei diesen und den sich in den Folgejahren weiter ausbreitenden Arten handelt es sich überwiegend um Arten, die natürlicherweise nicht auf Eiche, sondern auf basischem Gestein oder schwach sauren Borken von Pappeln und Weiden verbreitet sind oder – durch äußere Einflüsse gefördert – in der Nähe zu Dunglagern und Tierställen bzw. an Vogelsitzplätzen, auftreten (Frati et al. 2007; Wirth 1995).

Ammoniak wirkt in hohen Konzentrationen schädigend. Bei Gefäßpflanzen ruft es über 50 µg m–3 und bei Mensch und Tier erst bei mehreren tausend µg m–3 toxische Reaktionen hervor (Adaros und Dämmgen 1994; van Dijk et al. 2001). Seine ökologische Relevanz resultiert in erster Linie aus der bereits mit niedrigen NH3-Konzentrationen (> 2 µg m–3) verbundenen erhöhten Stickstoffdeposition. Diese kann insbesondere bei naturnahen Ökosystemen zu unerwünschten Eutrophierungs- und Versauerungseffekten führen (Krupa 2003). Flechten reagieren besonders empfindlich auf NH3; die Wirkung von Stickoxiden wird allgemein als deutlich geringer eingestuft. Ihre Eignung als Bioindikator von Stickstoffimmissionen beschränkt sich somit weitgehend auf die der NH3-Immissionskonzentrationen in der Luft, während sich die räumliche Verteilung der N-Depositionen deutlich besser in den N-Konzentrationen von Bodenmoosen widerspiegelt (Mohr, 1999; Mohr 2007a; Schumacher et al. 2006).

Messungen von NH3-Konzentrationen in der Atmosphäre wurden im UG nicht durchgeführt, jedoch wurden in einem vergleichbar intensiv agrarisch genutzten Gebiet dieser Region mit ähnlicher Flechtenausstattung Jahresmittelwerte von 8–10 µg m–3 gemessen (Dämmgen 2005). In den benachbarten Niederlanden fehlte Hypogymnia physodes bei mittleren Immissionskonzentrationen von über 13 µg m–3 NH3 (van Herk et al. 2002). In Expositionsexperimenten zeigte Hypogymnia physodes bereits Schäden bei mittleren Konzentrationen über etwa 4 µg m–3 (Mohr 2001). Ähnliche Reaktionen waren bei der gegenüber klassischen (sauren) Luftverunreinigungen als besonders ‚rauchharte‘ Flechtenart geltenden Lecanora conizaeoides festzustellen, während Xanthoria parietina auch bei NH3-Konzentrationen von über 40 µg m–3 noch vital blieb (Steffens und Mohr 1997). Der drastische Rückgang besonders NH3-empfindlicher Arten wie der acidophytischen Hypogymnia physodes und Lecanora conizaeoides ist daher schon allein auf die hohen NH3-Konzentrationen zurück zu führen. Demgegenüber kann die Zunahme der neutrophytischen NIW-Arten nach van Herk et al. (2002) in den benachbarten Niederlanden vornehmlich mit dem basischen Einfluss von NH3 und weniger mit der Reduktion saurer (SO2-) Immissionen in Verbindung gebracht werden. Einen deutlichen Rückgang der NIW-Zeigerarten in jüngerer Zeit stellte Sparrius (2007) nach einer konsequenten Senkung der NH3-Emissionen in den Niederlanden um ca. 30 % seit der Maximalbelastung fest.

Neben dem Säurestatus des Substrates spielt vermutlich aber auch das höhere Angebot des natürlichen Pflanzennährstoffes Ammoniak eine Rolle, das insbesondere dem Algenpartner zugute kommt und dadurch destabilisierend auf die Symbiose wirken kann. Hygrisch begünstigte Standorte, wo die Photosyntheseleistung der Alge zunimmt und die Bedeutung des transpirationshemmenden Pilzpartners abnimmt (Jahns und Ott 1983), weisen bei erhöhter NH3-Belastung auffällig stark verarmte Flechtenbestände auf. Derartige Verhältnisse, wie sie für die grundwassernahen Grünlandbereiche oder die etwas stärker beschatteten Baumstämme im UG, für Hochlagen (Kienesberger et al. 2007) oder auch in Wäldern (Stapper 2000) zutreffen, können die Beurteilung der Immissionssituation mit Hilfe der Diversität epiphytischer Flechten erschweren, aber auch als Indiz erhöhter Stickstoffeinträge gewertet werden (Mohr 2007b).

Weitere Erkenntnisse aus der Wiederholungskartierung ergeben sich bei der statistischen Auswertung der Temperaturzeigerwerte, welche im Mittel deutlich zugenommen haben. Trotz der Unsicherheit, die mit der Verwendung von Zeigerwerten verbunden ist (Wirth 2001), deutet sich zumindest mit dem Anstieg des Mittelwertes der aus 355 Einzelaufnahmen errechneten T-Zeigerwerte von 3,57 auf 3,96 eine signifikante Veränderung (p < 0,001) der klimatischen Situation im Untersuchungsgebiet an. Bei der Berücksichtigung einer von John (2007) modifizierten Zeigerwerte-Liste hätte sich eine noch stärkere Zunahme des mittleren Temperaturwertes ergeben. In Ackergebieten, die im UG überwiegend mit Mais bestellt und mehrere Monate vegetationsfrei sind, war dieser Effekt am deutlichsten ausgeprägt. Der mittlere Feuchte-Zeigerwert von 1989 ist nahezu unverändert geblieben. Dies deutet darauf hin, dass mikroklimatische Veränderungen durch lokale Einflüsse (abnehmende Beschattung, Entwässerung etc.) keine wesentliche Rolle gespielt haben dürften. Abbildung 9 veranschaulicht einen signifikanten Anstieg der mittleren Temperaturen im UG, der in den letzten beiden Jahrzehnten besonders gravierend war. Nach 1960 lag der Temperaturanstieg im UG mit ca. 2 °C deutlich über der globalen Zunahme von 0,6 °C (IPCC 2007).

Abb. 9
figure 9

Entwicklung der Temperatur-Jahresmittelwerte in °C im Untersuchungsgebiet (DWD 2008)

Dennoch ist davon auszugehen, dass der Anstieg der T-Zeigerwerte nicht ausschließlich auf eine Temperaturerhöhung zurück zu führen ist, denn unter den Arten mit höherem T-Zeigerwert befinden sich teilweise auch neutrophytische, durch NH3 geförderte Arten. Auch der Rückgang von Lecanora conizaeoides (R-Wert: 2, T-Wert: 3) und einiger Acidophyten mit boreal-montanem Verbreitungsschwerpunkt (z. B. Pseudevernia furfuracea) trägt zur Interaktion der Bioindikation von NH3-Immissionen und Temperaturveränderungen bei (van Herk et al. 2002; John 2007).

Hinweise lassen sich auch aus der Einwanderung oder Ausbreitung von Arten (Hyperphyscia adglutinata, Parmelia caperata agg.) mit mediterranem Verbreitungsschwerpunkt ableiten. Von Hyperphyscia adglutinata liegen bis 1900 nur wenige Nachweise aus Niedersachsen mit einem Schwerpunkt im Weser-Ems-Gebiet vor (Hauck 1996). Die Art wurde aufgrund fehlender Nachweise bis 1995 für Niedersachsen als „verschollen/ausgestorben“ eingestuft (Wirth et al. 1996). Im Rahmen intensiver Erfassungen epiphytischer Flechten im nördlichen Weser-Ems-Gebiet zwischen 1997 und 2000 (de Bruyn 2000) konnte nur ein Fundort unmittelbar an der niederländischen Grenze erbracht werden. Seitdem ist eine sehr rasche Wiederansiedlung von Hyperphyscia adglutinata von West nach Ost festzustellen. Die derzeit bekannte östliche Verbreitungsgrenze verläuft in Oldenburg und hat sich damit seit 2000 um mindestens 70 Kilometer nach Osten verschoben. Diese Ausbreitungswelle passt sehr gut mit dem Verlauf der Bestandsentwicklungen in den Niederlanden zusammen (van Herk und Aptroot 2004). Im weiteren Umfeld des UG ist Hyperphyscia adglutinata inzwischen als relativ häufig einzustufen. Die aktuellen Bestandszunahmen für diese Art übertreffen die historischen Bestände um ein Vielfaches.

In jüngerer Zeit tritt neben der auffällig hell-grünen Parmelia caperata eine zweite sehr ähnliche Art (P.soredians) mit ähnlichen ökologischen Ansprüchen verstärkt in Norddeutschland auf. Für Parmelia caperata wurde im UG eine deutliche Bestandszunahme seit 1989 festgestellt. Sie bevorzugte in Norddeutschland in der Vergangenheit wärmebegünstigte Standorte, z. B. am Stammfuß älterer Bäume oder Innenstadtbereiche (Barkmann 1958; Mohr 1992; Woesner 1992), oftmals vergesellschaftet mit der ebenfalls aktuell stark zunehmenden Parmelia revoluta (Temperatur-Zahl: 7). Die sehr ähnliche Parmelia soredians zählt zu den Neueinwanderern aus Südeuropa. In einer modifizierten Zeigerwerte-Liste weist ihr John (2007) die höchste Temperatur-Zahl 9 zu. Sie wurde an den Monitoringpunkten im UG zwar nicht festgestellt, doch breitet sie sich in dieser Region derzeit rasch aus (de Bruyn 2000; van Herk et al. 2002; Sparrius 2007). Auch die Zunahme von Flechten mit wärmeliebenden Trentepohlia-Algen als Phycobiont (z. B. Opegrapha vulgata var.subsiderella, Schismatomma decolorans) werten Aptroot und van Herk (2007) als Hinweis eines Temperaturanstiegs.

Obwohl noch Fragen zu den Synergieeffekten der NH3- und Temperatureinflüsse auf epiphytische Flechten offen sind (John 2007), lassen sich die geschilderten Entwicklungen nur durch einen meso- und großklimatisch bedingten Temperaturanstieg erklären.

5 Schlussfolgerungen

Bereits mit einer relativ einfachen (halb-quantitativen) Erfassung ließen sich nach 18 Jahren Veränderungen der rindenbewohnenden Flechten aufzeigen, die sich im Wesentlichen in einer Zunahme der NH3-Immissionen und der Temperaturen begründen. Die konsequente Verwendung weiterer, standardisierter Verfahren (VDI 2005; van Herk 1999) hätte die Aussagemöglichkeiten möglicherweise noch erweitert. Aufgrund ihrer Vorkommen sowohl in der Natur- als auch in der intensiv genutzten Kulturlandschaft können epiphytische Flechten im Unterschied zu vielen anderen Klimaindikatoren (Schröter et al. 2005) derartige Veränderungen der Atmosphäre in nahezu allen terrestrischen Lebensräumen anzeigen. Vor dem Hintergrund der schwer prognostizierbaren NH3-Belastung und der ebenfalls schwer vorhersagbaren Veränderungen des Klimas erhalten epiphytische Flechten ihre Bedeutung nicht nur als Bioindikatoren von Luftverunreinigungen sondern auch als Klimaindikatoren.

6 Empfehlungen und Ausblick

Nicht nur in Ballungsräumen, sondern großräumig, zunehmend auch in landwirtschaftlich genutzten Regionen besteht ein Bedarf an Informationen zur aktuellen Immissionssituation sowie deren schwer prognostizierbarer Tendenz. Flächendeckende Flechtenkartierungen können dazu mit verhältnismäßig geringem Aufwand einen großen Beitrag leisten. Ein besonderer Forschungsbedarf besteht für die Verwendung epiphytischer Flechten zum Biomonitoring von Klimaveränderungen.