1 Einleitung

Politikwissenschaft versteht sich im Kern als Demokratiewissenschaft (Jesse und Liebold 2011; Niesen 2007), es geht um nicht weniger als die normativen Grundlagen legitimen Regierens. Zumindest in westlichen Systemen wird diese Frage – meist – recht eindeutig beantwortet: Legitimes Regieren ist demokratisches Regieren. Dennoch existieren sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Charakteristika die Kernmerkmale von Demokratie ausmachen – verwiesen sei nur auf die vielen Adjektive, mit denen Demokratie verbunden wird: liberale Demokratie, partizipative Demokratie, deliberative Demokratie und einige mehr. Empirisch mehren sich in den letzten Jahren die Krisendiagnosen. Es ist die Rede von der Krise des Nationalstaats, einer Vertrauenskrise, von Politikverdrossenheit oder der Krise der Demokratie generell (zu Krisenphänomen und zum Verhältnis von Demokratie und Krise vgl. die Beiträge in Merkel 2015). Besonders pointiert formuliert wurde die These einer Krise der Demokratie in der Postdemokratiedebatte, die der vorliegende Beitrag zum Ausgangspunkt nimmt, um zu rekonstruieren, ob und wie sich Vorstellungen legitimen Regierens gewandelt haben.

AutorenFootnote 1 wie Jacques Rancière, Colin Crouch, Sheldon S. Wolin, Chantal Mouffe und Ingolfur Blühdorn diagnostizieren unter dem Schlagwort der Postdemokratie einen fundamentalen Wandel demokratischer Praktiken, Institutionen und Normen. Jacques Rancière formulierte bereits in den 1990er-Jahren zur Bestimmung der Postdemokratie:

[M]it dem Ausdruck Postdemokratie versuche ich […] eine Form des Verfalls der Demokratie zu kennzeichnen, die in den westlichen Gesellschaften vorzufinden ist und sich ihrem Wesen nach in der Vorstellung zusammenfasst, die einzig annehmbare Funktionsweise der Demokratie sei die der Entzauberung. […] Es gilt, dass die Demokratie umso erfolgreicher sei, je mehr sie den demokratischen Leidenschaften entsage. Diese Entzauberungsthese zielt so darauf hin, sich zur positiven Legitimationsthese unserer Regierungsweisen zu entwickeln. (Rancière 2010 [1996], S. 119–120)

Der Kern dieses Zitats impliziert einen Wandel legitimatorischer Normen, also dessen, wann und unter welchen Bedingungen politische Ordnungen als legitim aufgefasst werden. Rancières These hebt somit neben einem Formwandel in der Realisierung von Demokratie auf eine Veränderung der normativen Wissensbestände ab. Insbesondere auf politische Akteure bezieht er sich kritisch, wenn er attestiert, nicht mehr demokratische, sondern postdemokratische Ideen dienten „unseren Regierungen zu ihrer Rechtfertigung“ (Rancière 2010 [1996], S. 147). Deren – wandelbare – Vorstellungen legitimen Regierens spielen eine bedeutende Rolle in öffentlichen Diskursen, in welchen solche Legitimationsvorstellungen – im Rahmen von Legitimationspolitik – kommuniziert werden und auf diesem Weg versucht wird, Legitimität herzustellen oder abzusprechen (konzeptionell zu Legitimitäts- und Legitimationspolitik insb. Reus-Smit 2007; Barker 2001; Geis et al. 2012; Gronau 2015; Barnickel 2019).

Die Postdemokratieansätze konzeptualisieren diese Wandlungsprozesse vergleichsweise umfassend. Im Gegensatz zu manch anderen Krisendiagnosen, die sich auf abgegrenzte Teilbereiche oder Phänomene beziehen – sei es Partizipation oder die Rolle der Medien (bspw. Newton und Merz 2015; Weßels 2015) –, eint die Zugriffe der Postdemokratieliteratur die Verquickung unterschiedlicher Veränderungsprozesse zu einem kohärenten Befund (Ritzi 2014, S. 106, 109). Dieser steht nicht zuletzt – besonders prominent von Crouch vertreten – in einem Näheverhältnis zur These der Hegemonialwerdung neoliberaler Denkstrukturen, an denen sich Handeln orientiere (Crouch 2011, S. 95–97, 2015, S. 12; Schaal und Ritzi 2012, S. 4). Postdemokratie und Neoliberalismus sind aber nicht gleichzusetzen: Zum einen existieren verschiedenste neoliberale Strömungen (überblicksartig Biebricher 2018), zum anderen übernimmt die Postdemokratiedebatte nicht die Thesen des Neoliberalismus, sondern fragt kritisch nach Bedeutung und Folgen für Politik und Regieren (Barnickel 2019, S. 2–3).

In der Rezeption wurde die Postdemokratisierungsthese durchaus kritisch aufgenommen. Neben primär normativ motivierten Einwänden und Kritik an der Begrifflichkeit wurde insbesondere die empirische Korrektheit der durch die Autoren formulierten Thesen in Zweifel gezogen (vgl. nur Richter 2006; Nolte 2011; Hennig 2010; zur Gegenkritik Ritzi 2014; Jörke 2010). In der Folge sind mehrere empirische Studien erschienen, die die Postdemokratisierungsthese, meist anhand einzelner Indikatoren (bspw. Décieux und Nachtwey 2014; Fenton 2016), beizeiten auch umfassender (bspw. Ritzi 2014; Barnickel 2019), überprüfen.

Eine dieser umfassenderen Monographien stammt von der Autorin. Hier konnte anhand der Analyse Großer Regierungserklärungen und parlamentarischer Aussprachen von 1949 bis 2014 eine Tendenz hin zu postdemokratischen Rechtfertigungsmustern in der Legitimationspolitik nachgewiesen werden. Dieser Befund dient als Ausgangspunkt für die Frage, ob und inwieweit sich dieser Trend in der 19. Wahlperiode (WP) fortgesetzt hat.

Der Beitrag rekonstruiert die Legitimationsvorstellungen politischer Akteure in der Großen Regierungserklärung und parlamentarischen Aussprache der 19. WP. Nach den Bundestagswahlen 2017 und dem Wiedereinzug der FDP sowie der erstmaligen Wahl der AfD in den Bundestag liegt nun eine veränderte fraktionelle Zusammensetzung vor, die eine lange Regierungsbildung nach sich zog. Schlussendlich wurde die Große Koalition fortgesetzt und Kanzlerin Angela Merkel hielt am 21.03.2018 die Große Regierungserklärung der 19. WP, auf die dann, wie üblich, eine parlamentarische Aussprache folgte. Die Befragung dieser Regierungserklärung und der Aussprache auf die dort öffentlich vermittelten legitimatorischen Vorstellungen hin steht im Zentrum des Beitrags. Insbesondere wird analysiert, welche Legitimationsnormen diskursiv artikuliert werden und wie sie zu (dominanten) Mustern verknüpft werden, um die Bedeutung von postdemokratischen Legitimationsargumenten abzuschätzen. Durch eine vergleichende Einordnung gegenüber früheren parlamentarischen Debatten wird dann geklärt, inwieweit die Vorstellungen legitimen Regierens in WP 19 in Tradition oder Opposition zu früheren Phasen stehen.

2 Demokratische und postdemokratische Vorstellungen legitimen Regierens

Das Kapitel basiert auf Barnickel (2019, S. 35–161). Für eine ausführliche Diskussion der Legitimationsargumente, deren theoretischer Herleitung und der Operationalisierung vgl. dort.

Trotz grundlegender Unterschiede der theoretischen Provenienz und zum Teil auch der Bewertung der als postdemokratisch eingeordneten Phänomene, eint Blühdorn, Crouch, Mouffe, Rancière und Wolin der Konsens über postdemokratische Kerncharakteristika, die sie als neuere Phänomene der Demokratieentwicklung attestieren (Ritzi 2014, S. 106, 151). So beobachten die Autoren empirisch ähnliche oder identische Phänomene: sei es eine Tendenz zu ungleichheitlicher Partizipation und der Wandel von Partizipationsstrukturen, nachlassende Bindungskraft des politischen Systems, eine Ökonomisierung und Verrechtlichung der Politik oder die Orientierung an konflikt- und störungsfreier Problemlösung (hierzu unten ausführlich).

Neben der empirischen Beobachtung – allerdings in allen Fällen eher plausibilisierender Natur – von Wandlungsprozessen demokratischer Praktiken und Strukturen, legen die Ausführungen aller Autorinnen nahe, dass diese mit einer Veränderung von legitimatorischen „Leitideen“ (Schaal und Ritzi 2012, S. 5, vgl. S. 2, 9) verbunden sind. Wie bereits einleitend zitiert, argumentiert Rancière (2010 [1996], S. 120), postdemokratische Normvorstellungen entwickelten sich „zur positiven Legitimationsthese“. Blühdorn (2013, S. 228) beobachtet eine „Transformation der Legitimationsmuster und Legitimitätsnormen“. Bei Crouch weist die Bedeutung, die sein Postdemokratieansatz der Hegemonialwerdung neoliberaler Ideen beimisst, auf einen Wandel legitimatorischer Leitideen hin (Crouch 2011, S. 36–37, 2015, S. 12; Schaal und Ritzi 2012, S. 9), eine Auffassung, die sich ähnlich bei Mouffe (2008, S. 20–22) findet. Für Wolin (2001, S. 567) werden Postdemokratisierungstendenzen gesellschaftlich „as freedom from an impossible obligation“ erfahren, was wiederum einen Normwandel nahelegt. Solche Wandlungsprozesse sind deshalb besonders interessant, weil sie die Basis dessen bilden, wie legitimes Regieren vorgestellt wird. Demokratischer Wandel wird nicht (nur) in institutionellem, sondern auch in ideationalem Wandel verortet (Schaal und Ritzi 2012, S. 5, 20; Ritzi 2014, S. 100–101), den insbesondere politische Akteure im Rahmen von Legitimationspolitik öffentlich artikulieren oder erst herstellen (können).

Postdemokratische und demokratische Leitideen legitimen Regierens lassen sich voneinander abgrenzen, indem Legitimationsargumente der Postdemokratie idealtypisch als Gegenmodell zu solchen der Demokratie konturiert werden. Dadurch unterscheidet sich legitimes Regieren demokratischer und postdemokratische Natur auf einer ideationalen Ebene. Inhaltlich strukturieren sich die idealtypischen Leitideen entlang dreier größerer Linien (vgl. zusammenfassend dann Tab. 1).

Eine erste Gruppe idealtypisch postdemokratischer Legitimationsargumente deutet auf eine Vorstellung legitimen Regierens hin, die fehlende Agonalität positiv konnotiert und eher auf reibungs- und störungsfreie, entpolitisierte Politik abzielt als auf die konflikthafte Natur von demokratischer Politik, in welcher sich plurale Positionen im Widerstreit befinden.

Eine solche Konsensorientierung und Homogenisierung attestieren die Autorinnen sowohl für politische Positionen in der Bevölkerung – dementgegen im demokratischen Idealmodell Konflikt und Pluralismus stehen – als auch im politischen Prozess selbst, der auf Konfliktfreiheit statt auf Konfliktivität geeicht sei (Mouffe 2008, S. 24–25; Rancière 2014 [2002], S. 111, 2010 [1996], S. 129–138; Crouch 2011, S. 179–183, 2015, S. 215; Blühdorn 2013, S. 146). Damit einher geht in einer idealtypisch postdemokratischen Vorstellung legitimen Regierens die Negation politischer Kontingenz und des politischen Gestaltungsspielraums (Ritzi 2014, S. 217–219, 226, 237; Schaal und Ritzi 2012, S. 7–8), dessen Betonung hingegen ein Merkmal demokratischer Legitimationsvorstellungen ist. Dies kann sich in einer „There-Is-No-Alternative (TINA)-Rhetorik“ (Ritzi 2014, S. 237) äußern, dem Verweisen auf (als objektiv perzipierte oder dargestellte) Sachzwänge und Notwendigkeiten (Rancière 2010 [1996], S. 146, 2014 [2002], S. 141; Blühdorn 2013, S. 17). Diese Sachzwänge und Notwendigkeiten können unterschiedlicher Natur sein: ökonomische Zwänge, ‚objektive‘ Daten oder Expertenmeinungen oder auch inter- oder supranationale Einbindung (Rancière 2010 [1996], S. 141, 147, 2014 [2002], S. 119–120; Blühdorn 2013, S. 221–223, 2009, S. 45; Jörke 2005, S. 491).

Damit einher geht eine Vorstellung legitimen Regierens, die auf Handlungsfähigkeit und Problemlösungsfähigkeit – von Wolin (2004 [1960], S. 577) als störungsfreie „governability“ bezeichnet – sowie Systemstabilität abhebt statt auf Repräsentation und Responsivität, welche im demokratischen Idealmodell durch eine zentrale Rolle des Parlaments unterstrichen werden (Wolin 2008, S. 196, 1994, S. 22; Blühdorn 2013, S. 134, 222–223, 2009, S. 44–45, 2006a, S. 81; Rancière 2014 [2002], S. 106–107, 116–118, 2011, S. 88, 2010 [1996], S. 122, 142–143; Crouch 2008b, S. 5–6; Jörke 2012, S. 154; Ritzi 2014, S. 49, 85).

Folglich kommt der Kontrolle nur geringe Bedeutung zu (Crouch 2008a, S. 23, 129; Wolin 2008, S. 132, 134; Rancière 2014 [2002], S. 107; Jörke 2010, S. 17), während Transparenz als Legitimationsargument in beiden Idealmodellen situiert ist, da sie einerseits als Vorbedingung demokratischer Kontrolle anerkannt wird, andererseits einige der Postdemokratieautoren von einer Ersetzung der Idee der Kontrolle durch jene der Transparenz ausgehen (Blühdorn 2009, S. 44–45, 2013, S. 226–227; Crouch 2008a, S. 21, 32).Footnote 3

Einen zweiten Komplex – und eng verwoben mit dem ersten – bilden solche Legitimationsideen, die auf wenig staatliche Aufgaben und Verpflichtungen setzen und entsprechend politische Ziele und Ergebnisse einengen und vorrangig in ihrer ökonomischen Ausrichtung legitimatorisch positiv konnotieren.

Gewissermaßen in Verlängerung der Kontingenznegation und der Deparlamentarisierung, tendiert postdemokratische Legitimation zu einer positiven Würdigung von (formellen oder informellen) Delegationspraktiken statt einer Betonung des Primats politischen Entscheidens und Problemlösens. Dies kann eine Delegation an Expertenkommissionen oder ökonomische Akteure genauso umfassen wie an nicht-parlamentarische politische Akteure, insbesondere inter- und supranationale Institutionen oder an Exekutiven, aber auch an Gerichte (Rancière 2010 [1996], S. 122, 145; Blühdorn 2009, S. 23; Crouch 2008a, S. 56–57; Wolin 2008, S. 136; Mouffe 2011, S. 4; Jörke 2012, S. 154; Ritzi 2014, S. 236–237). Gleichsam ein Sonderfall ist die Delegation in Form der Selbstverantwortung der Bürgerinnen, die zu „individualisierter Selbstverantwortung“ (Blühdorn 2013, S. 157) aufgerufen würden, und in welcher, wie auch in anderen Spielarten der Delegation, politische Zuständigkeit negiert wird (Blühdorn 2013, S. 157; Rancière 2011, S. 99–100; Wolin 2008, S. 195–196; Crouch 2011, S. 96).

Diese geringe Verantwortungsübernahme setze sich in einer Engführung politischer Ziele und Ergebnisse fort. Während sich demokratische Politik – auch legitimatorisch – auf die Förderung von Gleichheit, Gerechtigkeit und sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Politik beziehe, reduziere sich postdemokratische auf die Gewährleistung von Sicherheit und die Mehrung ökonomischen Wohlstands (Blühdorn 2013, S. 222; Crouch 2008a, S. 34, 105–107, 111, 2011, S. 225, 2015, S. 230–231; Rancière 2014 [2002], S. 123–124, 2011, S. 89, 99–100; Wolin 2001, S. 570, 2008, S. 70, 73–76, 81, 92, 109, 143–144; Jörke 2011, S. 16).

Ähnlich nimmt die Postdemokratieliteratur für politische Ziele und Ergebnisse eine Ausrichtung an und Bewertung anhand ökonomischer Kriterien der Effektivität und Effizienz an (Crouch 2008a, S. 108, 111–112; Wolin 2008, S. 135, 138; Ritzi 2014, S. 18, 51, 220), hätten doch „[…] ökonomische Rationalität und das System des Marktes alle anderen Formen des Denkens kolonisiert“ (Blühdorn 2006b, S. 29; Übersetzung d. A.). Demgegenüber orientiere sich idealtypisch demokratische Legitimation an Gemeinwohl und Gemeinwille, halte also die Verbindung zum demokratischen Souverän aufrecht (Crouch 2011, S. 204; Blühdorn 2013, S. 146, 222–223, 227; Wolin 2008, S. 262; Rancière 2006b, S. 75).

Uneins ist sich die Postdemokratieliteratur über den Stellenwert von Rechtsstaatlichkeit: Während Rancière und Mouffe beobachten, Postdemokratisierung ginge mit einer Überbetonung von Rechtsstaatlichkeit einher – was keine Geringschätzung einer rechtsstaatlichen Orientierung in der Demokratie impliziert, sondern auf die Überbetonung gegenüber anderen demokratischen Prinzipien verweist (Rancière 2011, S. 89–90, 2014 [2002], S. 121–122; Mouffe 2008, S. 21–22) –, identifiziert Wolin (2008, S. xxiv) gegenteilig Postdemokratisierung mit einer Vernachlässigung rechtsstaatlicher Orientierung, während Crouch die (übermäßige) Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit sowohl als Symptom als auch als Gegenbewegung zur Postdemokratie auffasst (Crouch 2016, S. 74).Footnote 4

Ein dritter Komplex von Legitimationsideen kontrastiert Individualisierungs- und Objektivierungstendenzen im Postdemokratiemodell gegenüber demokratischer Subjektivierung.

Postdemokratie und postdemokratische Legitimationsideen gingen einher mit Entpolitisierung, Individualisierung, Atomisierung und „Vereinzelung“ (Blühdorn 2006a, S. 74, Endnote 3) der Bürgerinnen, die in der Postdemokratie, als einer „Demokratie ohne demos“ (Rancière 2010 [1996], S. 139, Hervorhebung im Original), nurmehr eine „apathische Rolle“ (Crouch 2008a, S. 10) spielten (Crouch 2008a, S. 67; Blühdorn 2006a, S. 74, 2006b, S. 29; Wolin 2001, S. 571). Die fehlende politische Identität könne – so befürchten insbesondere Rancière und Mouffe – entlang (extrem) nationalistischer Linien rekonfiguriert werden (Rancière 2010 [1996], S. 124, 153, 2003, S. 15, 121; Mouffe 2008, S. 98–99, 105). In idealtypisch demokratischen Legitimationsvorstellungen bilde hingegen die Politisierung der Bevölkerung und deren Ausbildung einer kollektiven Identität den legitimatorischen Bezugspunkt (Rancière 2014 [2002], S. 125–126; Blühdorn 2012, S. 78).

Die kaum mehr artikulierte und artikulierbare direkte oder indirekte, gleiche Partizipation werde in der Postdemokratie durch den legitimatorisch positiv besetzten Einbezug partikularer Gruppen und Interessen ersetzt, was zugleich den legitimatorischen Bezug zur Volkssouveränität auflöst (Crouch 2008a, S. 10, 30; Blühdorn 2013, S. 219, 228; Rancière 2006a, S. 25–26; Mouffe 2011, S. 5; Jörke 2005, S. 486; Ritzi 2014, S. 215). Mit dieser Aufnahme partikularer, nicht gleicher, Interessen finde – ähnlich wie im Fall der Delegation – eine Verschränkung politischen und insbesondere ökonomischen Einflusses statt (Rancière 2011, S. 110). Gleichwohl gelte diese privilegierte Artikulationsmöglichkeit bestimmter Interessen auch für andere Gruppen, bspw. für Experten (Crouch 2008a, S. 10, 22, 32–35, 95; Rancière 2010 [1996], S. 145; Jörke 2006, S. 40), welche „statt einer subjektiv-politisierten eine wissenschaftlich fundierte und evidence-based Politik ermöglichen sollen“ (Blühdorn 2013, S. 222; Hervorhebung im Original). Der Wille der breiten Bevölkerung werde nun erfasst über „Formen der minimalen Beteiligung“ (Blühdorn 2013, S. 226; s. auch Crouch 2008a, S. 143) – in jedem Fall handelt es sich lediglich um einen Teilbereich möglicher Identitäten und Interessen, mit Rancière um eine „Aufzählung der Gruppen, die ihre Identität darstellen sollen“ (Rancière 2014 [2002], S. 146), welche dann insbesondere in demoskopischen Umfragen abgefragt werden (Rancière 2010 [1996], S. 139; Crouch 2008a, S. 22, 32; Wolin 2001, S. 571; Ritzi 2014, S. 54–55, 219).

Dies steht in Opposition zur demokratischen Norm des gleichen Zugangs (Rancière 2010 [1996], S. 140; Ritzi 2014, S. 55, 59, 225), welche in der Postdemokratie durch eine top-down Kommunikation ersetzt werde, die eine nachträgliche legitimatorische Anbindung an den Willen der Bürger herstelle (Blühdorn 2013, S. 227; Rancière 2010 [1996], S. 141).

Schließlich äußere sich die postdemokratische Individualisierung gegenüber einer demokratischen Subjektivierung in einer Überbetonung negativer Freiheits- oder Abwehrrechte – Freiheit von Eingriffen in die Privatsphäre sowie Schutz vor dem Staat – gegenüber positiven Teilhaberechten, insbesondere Partizipationsrechten, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit (Crouch 2008a, S. 22; Rancière 2014 [2002], S. 117–118; Blühdorn 2013, S. 146–148, 157; Mouffe 2008, S. 20–22, 2011, S. 4–5; Wolin 2008, S. 56), was im Zusammenhang mit einer stärkeren Prägung durch die liberale als durch die republikanische Dimension der Demokratie steht (Niederberger 2009, S. 93; Salomon 2017, S. 105).

Die aus den Postdemokratieansätzen gewonnenen Legitimationsargumente des postdemokratischen Modells sind als idealtypisches Gegenüber demokratischer Argumente zu begreifen und lassen sich heuristisch entlang der Phasen des politischen Prozesses einordnen, wodurch zugleich verdeutlicht wird, dass eine Postdemokratisierung der Legitimationsargumente sowohl die Input-, die Throughput- als auch die Output-Dimension betrifft (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Legitimationsargumente in den Idealmodellen. (Quelle: Vereinfachte Darstellunga nach Barnickel 2019, S. 157–158)

Da das demokratische Idealmodell aus der Argumentation der Postdemokratieliteratur entwickelt ist, spiegelt es ein spezifisches Demokratieverständnis, welches vor allem partizipationsorientierte und egalitätszentrierte Merkmale vereint (Ritzi 2014, S. 148). Das postdemokratische Idealmodell weist Anknüpfungspunkte an eine liberale Demokratievorstellung auf, ist allerdings nicht mit einem solchen Modell gleichzusetzen. Zwar finden sich einige klassisch liberale Argumente, insbesondere negative Freiheitsrechte. Es fehlen allerdings andere legitimationsrelevante Charakteristika des liberalen Modells, wie Partizipation über Wahl oder demokratische Kontrolle, die im demokratischen Idealmodell verortet sind (ausführlicher hierzu Barnickel 2019, S. 159–160). Dieser Umstand unterscheidet das postdemokratische Modell auch von minimalistischen Demokratiekonzeptionen wie jener Schumpeters (1950) oder Dahls (1971). Auch um von solchen Demokratiekonzeptionen abzugrenzen, gilt insgesamt für die Diagnostizierung einer Postdemokratisierung, dass die Verwendung eines einzelnen Legitimationsarguments als Indikator nicht ausreicht. Schließlich wird sich auch demokratische Legitimationspolitik bspw. der negativen Freiheitsargumente bedienen – den Autoren geht es nicht um die Exklusivität, sondern um die Unterstreichung dessen, dass postdemokratische Legitimation diese Argumente zuungunsten demokratischer Teilhaberechte überbetont. Der postdemokratische Gehalt lässt sich also nicht aus der isolierten Verwendung einzelner Legitimationsargumente ableiten, sondern ist erst aus deren Verwendungsweise bestimmbar. Es gilt, deren Zusammenwirken und gemeinsame Verwendung – die Relationen der Legitimationsargumente zueinander – zu betrachten, auch um zu identifizieren, welche Argumente welches Idealmodells besonders kohäsiv verwendet werden (genauer hierzu im folgenden Abschnitt und bei Barnickel 2019, S. 160–161).

3 Legitimationsvorstellungen und ihre Analyse

Die Analyse von Diskursen bietet Zugang zu, im Rahmen legitimationspolitischer Bemühungen artikulierter (und umkämpfter), Vorstellungen legitimen Regierens. Hier wurden diese über die Analyse von Großen Regierungserklärungen und den darauffolgenden parlamentarischen Aussprachen erhoben. Große Regierungserklärungen sind solche Regierungserklärungen, die zu Beginn einer Legislaturperiode oder nach Kanzlerwechsel im Laufe einer andauernden Legislaturperiode abgegeben werden (von Beyme 1979, S. 7–8; Korte 2002b, S. 13). Sie eignen sich wegen ihrer grundsätzlichen Funktion und ihres Kontextes besonders für die Rekonstruktion von Legitimationsargumenten. So ist eine intensive Legitimationstätigkeit gegeben, die sich zudem nicht (nur) auf einzelne Politikfelder oder -entscheidungen, sondern auch auf die Legitimation der politischen Ordnung bezieht (Korte 2002a, S. 453–456; Stüwe 2005, S. 164–165, 225; von Beyme 1979, S. 8).

Solche Legitimationsaussagen, die die Legitimation (oder Delegitimation) der politischen Ordnung zum Gegenstand haben, sind es, für die sich die vorliegende Analyse interessiert. Hierfür sind Große Regierungserklärungen gegenüber Regierungserklärungen während der Legislaturperiode aber auch gegenüber bspw. öffentlichen Auftritten, Reden oder Interviews von Politikerinnen ein geeigneteres Analysematerial, weil Große Regierungserklärungen (und auch die Aussprachen) ein breiteres Themenspektrum abdecken (Korte 2002a, S. 453–456; Stüwe 2005, S. 164–165). Dies erlaubt es, ebensolche Aussagen herauszudestillieren und zugleich die Gefahr eines durch das jeweilige Politikfeld, in dem bspw. eine gewöhnliche Regierungserklärung situiert wäre, bestimmten Bias zu vermeiden (Barnickel 2019, S. 169).

Freilich haben Große Regierungserklärungen nicht nur die Funktion der „Legitimation“, sondern auch der „Selbstdarstellung“ (beide Zitate Stüwe 2005, S. 225) und sind somit auch im Kontext des Dualismus zwischen Regierungskoalition und Opposition zu betrachten. Was zunächst gegen Große Regierungserklärungen und Aussprachen als Analysematerial sprechen mag, ist im vorliegenden Fall jedoch aus zwei Gründen nachrangig: Erstens schließt die Analyse – aufgrund des Fokus auf (De‑)Legitimation der politischen Ordnung – Legitimationsaussagen aus, die auf die Delegitimation des politischen Gegners abheben oder der Selbstlegitimation dienen. Gleiches gilt für Legitimationsaussagen, die sich auf einzelne Politikentscheidungen oder Institutionen richten. Zweitens ist aus diskursanalytischer Perspektive unerheblich, aus welchen Motiven heraus eine bestimmte Legitimationsvorstellung artikuliert wird, insbesondere ob dies (auch) der politischen Gegnerschaft geschuldet ist und die „eigentliche Intention“ bspw. die Delegitimation des Gegners oder Stützung der eigenen Fraktion oder Koalition ist. Selbst wenn dem so ist, verlieren die Aussagen dadurch nicht ihren Charakter der öffentlich artikulierten Legitimationsaussage und als Praktik der (versuchten) Legitimitätsherstellung oder -absprechung (Gaus 2011, S. 3).

Ein weiterer Vorteil ist, dass Rollen und Funktionen der Redner in der parlamentarischen Aussprache kontrollierbar sind und Vertreterinnen aller Fraktionen an der Debatte teilnehmen. Die Rednerauswahl bleibt im Zeitverlauf vergleichbar, weil meist die Fraktionsvorsitzenden in der ersten Runde der parlamentarischen Aussprache auf die Große Regierungserklärung antworten (Korte 2002a, S. 453). Natürlich wird nicht negiert, dass sich der Charakter der Regierungserklärungen (und auch der historische Kontext) im Zeitverlauf gewandelt hat. So wurden die Koalitionsvereinbarungen immer detaillierter und schon ab WP 5 sprechen die Fachministerinnen zu ihrem Ressort. Im vorliegenden Fall ist allerdings nicht davon auszugehen, dass dies einen Bias produziert, abermals aus dem Grund, dass Legitimationsaussagen zu policies und auch die Reden der Fachminister sowie die Aussprachen hierzu, aufgrund der Beschränkung auf die Regierungserklärung des Kanzlers sowie die erste Ausspracherunde, nicht Teil der Analyse sind.

Tab. 2 zeigt eine Übersicht der Großen Regierungserklärungen seit 1949 und die relevanten Daten, Regierungskoalitionen und Oppositionsfraktionen.

Tab. 2 Regierungserklärungen, Regierungskoalitionen und Oppositionsfraktionen 1949–2018. (Quellen: für WP 1–13: Schindler (1999, S. 903, 1123–1132, 1174–1188), für WP 14–17: Bundestag (2013, S. 5–15), für WP 18: Bundestag (2014b, S. I–III, 2014c, S. I–IV, 2014d, S. I–II), für WP 14–18: Bundestag (2014a, S. 2–5), für WP 19 Bundestag (2018c, S. I–II, 2018a, S. II–IV, 2018b, S. I–III). Die Tabelle basiert auf Barnickel (2019, S. 171, 384–385))

Für jede Große Regierungserklärung wurde jeweils die Regierungserklärung selbst sowie die erste Runde der Aussprache, in der eine Vertreterin jeder Fraktion – in der Regel die Fraktionsvorsitzenden – auf die Regierungserklärung des Kanzlers antwortet, analysiert. In der hier im Zentrum stehenden WP 19 waren dies folgende Redner (genannt in der Redefolge): Angela Merkel (Kanzlerin, CDU), Alexander Gauland (AfD), Andrea Nahles (SPD), Christian Lindner (FDP), Volker Kauder (CDU/CSU), Dietmar Bartsch (DieLinke), Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen). Die Ergebnisse der Analyse der Wahlperioden 1–18 werden nicht im Detail referiert, sondern dienen als Vergleichsfolie, um Konstanten und Veränderungen in der 19. WP zu identifizieren.Footnote 5

Der analytische Fokus liegt auf der Identifikation der Vorstellungen legitimen Regierens, d. h. der empirischen Muster positiv besetzter Legitimationsargumente – unabhängig davon, ob sie als realisiert angesehen werden (und damit in der Regel als legitimierendes Argument vorgebracht) oder nicht (und damit in der Regel ihr Mangel der Grund einer delegitimierenden Aussage ist).

Um die empirisch verwendeten Legitimationsargumente und deren Relationen zu rekonstruieren, wurden die genannten Debatten qualitativ kodiert und netzwerkanalytisch ausgewertet.Footnote 6 Die Kodierung orientiert sich an einer angepassten Version der claims-analysis, wie sie häufig in inhaltsanalytischen Studien zu Legitimation zur Anwendung kommt (Leifeld und Haunss 2012; Schneider 2010, S. 48–54). Dazu wurden Legitimationsaussagen anhand eines KodierleitfadensFootnote 7 hinsichtlich vier Dimensionen verkodet: (a) Sprecher, (b) Legitimationsobjekt (hier sind nur Legitimationsaussagen einbezogen, deren Objekt das politische System ist), (c) Evaluation der Legitimität (ob die Aussage das Legitimationsobjekt legitimiert oder delegitimiert) und (d) Legitimationsargument. Da im vorliegenden Interesse – das sich auf diskursiv artikulierte Legitimationsvorstellungen richtet – unerheblich ist, inwieweit diese Vorstellungen von den Sprecherinnen als empirisch realisiert angesehen werden, ist die Unterscheidung zwischen legitimierenden und delegitimierenden Aussagen nachrangig. Relevant ist lediglich, welche Legitimationsargumente es sind, die als bedeutsam für eine anerkennungswürdige politische Ordnung präsentiert werden. Somit können aus der Analyse keine Rückschlüsse darauf gezogen werden, ob und inwieweit die politische Ordnung von den Sprechern legitimiert oder delegitimiert wird bzw. als legitim oder illegitim angesehen wird (ausführlich zur Kodierung Barnickel 2019, S. 173–180). Das primäre analytische Interesse liegt auf der Verwendungsweise der Legitimationsargumente. Anzumerken ist, dass diese nicht nur in der positiven Verwendung auftauchen, sondern auch explizit negiert werden können, bspw. in einer Aussage wie: „Eine politische Ordnung ist dann legitim, wenn es keine Partizipation der Bürgerinnen gibt.“Footnote 8

Die Auswertung erfolgte diskursnetzwerkanalytisch, denn durch die Kombination inhalts- bzw. diskursanalytischer Komponenten mit der relationalen Perspektive und Auswertungsstrategie der Netzwerkanalyse können mehrdimensionale Vorstellungen legitimen Regierens – als ein System von in-Bezug-gesetzten Wissenselementen – methodisch passgenau analysiert werden (DiMaggio 2011, S. 286, 294). Legitimationsvorstellungen sind als komplexe Ensembles unterschiedlicher Wissenselemente – insbesondere Normen und Werte – zu denken, die erst in ihrer je spezifischen Zusammensetzung zur Legitimationsvorstellung werden (Lehner 2015, S. 31–32; mit Bezug auf die Multidimensionalität von Demokratievorstellungen Shin 2015, S. 16–17).

Neben diesem theoretisch-konzeptionellen Grund ist die relationale Betrachtung von Legitimationsargumenten auch durch die Argumentation der Postdemokratieliteratur angezeigt. Wie in Abschn. 2 gesehen, geht es bei legitimatorischen Leitideen gerade nicht um eine vollständige Ersetzung des einen (demokratischen) durch das andere (postdemokratische) Modell, sondern vielmehr, bspw. im Fall der negativen Freiheiten und der positiven Rechte, um die Überbetonung des einen gegenüber dem anderen Argument. Die postulierte Postdemokratisierung von Legitimationen erschöpft sich nicht in der Verwendung einzelner postdemokratischer Legitimationsargumente. Vielmehr müssten postdemokratische Legitimationsargumente nicht nur quantitativ häufig genannt werden, sondern auch prominent innerhalb der Legitimationsvorstellung fungieren und sich gegenseitig stützen, also Relationen zueinander aufweisen (Barnickel 2019, S. 161–165). Kurz: Die Identifikation einzelner, isolierter idealtypisch postdemokratischer Legitimationsargumente ist noch kein Indikator für eine Postdemokratisierung der Legitimationspolitik. Eine solche lässt sich erst aus der Analyse der Relationen der Legitimationsargumente zueinander erkennen.

Eine diskursnetzwerkanalytische Auswertung der kodierten Legitimationsaussagen ermöglicht die Darstellung und Analyse der Relationen zwischen den Legitimationsargumenten, die als verbunden gelten, wenn sie von einem Sprecher gemeinsam vorgebracht werden. Wenn sich zwei oder sogar mehrere Sprecherinnen auf zwei Legitimationsargumente berufen, werden diese als umso enger verknüpft gewertet. So können diskursive Kerne, aber auch besonders umkämpfte Argumente, freigelegt werden und, über die Betrachtung der Konstellationen von demokratischen und postdemokratischen Legitimationsargumenten, nicht nur Erkenntnisse über die Verwendungsweise spezifischer Argumente gewonnen werden, sondern es ist auch bestimmbar, ob und inwieweit Tendenzen der Postdemokratisierung vorliegen (genauer zur Auswertung Barnickel 2019, S.180–183; zur Diskursnetzwerkanalyse generell sowie Anwendungsbeispielen bspw. Janning et al. 2009; Leifeld 2016; Leifeld und Haunss 2012, 2010; Haunss 2014).

4 Legitimationsvorstellungen in der Großen Regierungserklärung und Aussprache der 19. Wahlperiode

Abb. 1 stellt das Kookkurrenznetzwerk der Legitimationsargumente in der Großen Regierungserklärung und Aussprache der 19. WP dar. Es handelt sich um ein transformiertes bipartites Netzwerk, in dem die Knoten die Legitimationsargumente symbolisieren und die Informationen über die Sprecher in die Kanten bzw. die Kantengewichte verlagert werden (zu bipartiten und bimodalen Netzwerken und deren Transformation bspw. Borgatti und Everett 1997, S. 244–245; Everett und Borgatti 2013, S. 204–205). Die Legitimationsargumente sind durch Kreise, Quadrate und Dreiecke symbolisiert und auf diese Weise sowie durch die Graustufen den unterschiedlichen Idealmodellen zugeordnet (weiß: demokratisches Idealmodell, dunkelgrau: postdemokratisches Idealmodell). Die Knoten sind über Kanten miteinander verbunden. Im vorliegenden Fall entstehen die Kanten über die gemeinsame Nennung der Argumente durch mindestens einen Sprecher. Bspw. werden die beiden Argumente ‚Volkssouveränität‘ und ‚nicht verrechtlicht‘Footnote 9 von Christian Lindner vorgebracht (rechts oben in Abb. 1). Er nennt nur diese beiden Argumente, auf die sich zudem keine weitere Sprecherin beruft, weshalb sie isoliert von dem übrigen Netzwerk situiert sind. Je mehr Sprecher ein Paar aus zwei Argumenten (eine Dyade) gemeinsam vorbringen, umso höher gewichtet ist die Kante zwischen der jeweiligen Dyade (in Abb. 1 symbolisiert durch eine dunklere und dickere Kante). So werden die Argumente ‚unspezifischer Output‘ (das einzige induktiv generierte Argument), welches auf die Ergebnisdimension abhebt, ohne die Ergebnisse genauer zu spezifizieren, und ‚Delegation international‘ von drei Sprecherinnen (Kauder, Merkel und Nahles) vorgebracht. Gleiches gilt für die Dyade ‚unspezifischer Output‘ und die negierte Variante von ‚Pluralismus‘, also ‚Konsens/Homogenität‘ (Gauland, Merkel und Nahles).

Abb. 1
figure 1

Kookkurrenznetzwerk Wahlperiode 19 (Negierte Argumente des demokratischen Idealmodells (graues Dreieck) werden in der Debatte nicht genannt. Da deren Verwendung aber theoretisch möglich ist, sind sie in der Legende aufgeführt). (Quelle: Eigene Darstellung, visualisiert mit Visone)

Bei der Betrachtung des Netzwerks auf die Verwendungsweise der Legitimationsargumente hin, sind fünf zentrale Ergebnisse festzuhalten:

Erstens zeigt die Verteilung der Knoten, dass in der Debatte idealtypisch demokratische und postdemokratische Legitimationsargumente relativ gleichgewichtig vorgebracht werden Dies spiegelt sich in den durchschnittlichen Zentralitätswerten der beiden Idealmodelle, wie sie Tab. 3 ausweist.Footnote 10 Die hier verwendete normalisierte Gradzentralität ermittelt für jedes Argument, wie viele Sprecherinnen es aufrufen – sie entspricht einer einfachen Quantifizierung.Footnote 11 Ein Wert von 0 gibt an, dass keines der Argumente des jeweiligen Idealmodells vorgebracht wird, ein Wert von 1, dass alle Argumente von allen Sprechern genannt werden – ein sehr unwahrscheinlicher Fall bei der Vielzahl der Argumente, was erklärt, warum die Durchschnittswerte, nicht nur in WP 19, deutlich näher an dem Wert 0 als an dem Wert 1 liegen (zur Berechnung der Gradzentralität bei bipartiten Daten vgl. bspw. Borgatti und Everett 1997, S. 254; Borgatti und Halgin 2011, S. 425–426; Borgatti et al. 2013, S. 240; zum Vorgehen hier vertiefend Barnickel 2019, S. 204–205, 212–213). Die Interpretation ergibt sich daher weniger aus den absoluten Werten, sondern aus dem Vergleich. Die ähnlichen durchschnittlichen Zentralitätswerte verweisen darauf, dass demokratische Legitimationsargumente gegenüber postdemokratischen nicht (länger) deutlich häufiger zur Legitimation herangezogen werden.Footnote 12

Tab. 3 Durchschnittliche Zentralitätswerte Wahlperiode 19. (Quelle: Eigene Darstellung, Berechnung der einzelnen Zentralitätswerte mit UCINET, manuelle Berechnung der Durchschnittswerte)

Gegenüber der relativen Ausgeglichenheit hinsichtlich der Zentralität der Legitimationsargumente erhellt Abb. 1, zweitens, dass der Kern des Netzwerks, der zwischen den meisten Sprechern geteilt ist, (abgesehen von dem Argument der ‚Repräsentation‘) ausschließlich aus Argumenten des postdemokratischen Idealmodells und solchen, die keinem der beiden Modelle zuzuordnen sind, besteht. Im Zentrum des Netzwerkes stehen vier Legitimationsargumente, die alle durch mehr als einen Sprecher untereinander verwoben werden: ‚unspezifischer Output‘, ‚Delegation international‘, ‚Sicherheit‘ und ‚Rechtsstaatlichkeit‘. Es zeichnet sich eine Legitimationsvorstellung ab, die vorrangig auf Politikergebnisse setzt, welche allerdings unspezifisch bleiben bzw. auf die Gewährleistung von Sicherheit fokussiert sind. Neben der Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien wird zudem die Abtretung von Entscheidungskompetenz an inter- oder supranationale Institutionen legitimatorisch positiv besetzt. Dieses insgesamt stark outputbezogene Muster ist mithin durch eine Abkopplung der Legitimationsvorstellungen von der Bevölkerung und insbesondere deren Partizipation gekennzeichnet. Zwar wird es durch zwei Dimensionen ergänzt, die Input und Throughput bedienen, allerdings nur teilweise mit dem oben genannten Vierermuster in Verbindung stehen: Die Argumente ‚Konsens/Homogenität‘ (in der Abbildung als ‚Neg_Pluralismus‘ bezeichnet) sowie ‚Repräsentation‘ sind nur mit den Argumenten ‚unspezifischer Output‘ und ‚Delegation international‘ durch mehr als eine Sprecherin verbunden. Mit den beiden Argumenten wird zwar die Bevölkerung vordergründig legitimatorisch eingefangen, allerdings über eine von Partizipationsmechanismen abgekoppelte Repräsentation von ohnehin konsensual gedachten Positionen. Das idealtypisch demokratische Repräsentationsargument wird also durch den Bezug zu einer idealtypisch postdemokratischen Konsensualität im Input zu einem gewissen Grad entleert, indem Repräsentation offenbar eher homogen als plural gedacht wird.

Drittens existiert daneben ein Muster aus drei ausschließlich demokratischen Legitimationsargumenten: ‚Gerechtigkeit‘, ‚Gleichheit‘ und ‚Negation Nationalismus‘, die durch Bartsch und Merkel hochgehalten werden. Somit vereint dieses Muster eine Regierungsakteurin mit einem Vertreter der Opposition. Anzumerken ist, dass Merkel auch Argumente des postdemokratischer geprägten Musters teilt, welches sie – zu unterschiedlichem Ausmaß – mit Kauder, Nahles und Gauland verbindet.

Insgesamt werden diese zwei Kernmuster nur von wenigen Sprechern geteilt. Die schwarzen Kanten in Abb. 1 repräsentieren drei Sprecher, die dunkelgrauen zwei. Dies erhellt, viertens, dass es nicht nur kaum geteilte Muster gibt, sondern dass sich kein Paar von Legitimationsargumenten findet, das von mehr als der Hälfte der Sprecher genannt wird. Es gibt – trotz fehlender Fragmentierung (nur Lindner teilt kein Legitimationsargument mit den übrigen Sprechern) – keinen breiten Konsens über gemeinsame Legitimationsvorstellungen oder zumindest legitimatorische Kernnormen.

Diese geringe Kohäsion spiegelt sich in den geringen Dichtewerten (vgl. Tab. 4).Footnote 13 Im vorliegenden Fall interessiert besonders die Dichte innerhalb und zwischen den theoretischen Idealmodellen, also dessen, wie eng die Legitimationsargumente miteinander verknüpft werden, indem sich viele Sprecherinnen auf sie beziehen (zur Dichteanalyse von Gesamtnetzwerken und Teilgruppen bspw. Wasserman und Faust 1994, S. 181, 315–316; Borgatti et al. 2013, S. 150–151; Hanneman und Riddle 2011, S. 346–348). Auch hier ist aufgrund der hohen Zahl an Argumenten (und damit vieler theoretisch möglicher Verbindungen) sowie der Gewichtung der Kanten und dem daraus resultierenden Erfordernis, dass alle Sprecher alle Argumente eines Modells teilen müssten, um einen Wert von 1 zu erreichen, zu vermerken, dass weniger die absoluten Werte, sondern vor allem der Vergleich für die Interpretation der Daten bedeutsam ist (Borgatti et al. 2013, S. 151–152; Hanneman und Riddle 2011, S. 341–342). Aus Tab. 4 ist abzulesen, dass die Dichtewerte im Vergleich zu früheren Wahlperioden sehr niedrig liegen und damit einen Trend der vergangenen Jahre fortsetzen (hierzu unten genauer).

Tab. 4 Dichte Wahlperiode 19. (Quelle: Eigene Darstellung nach der Dichtematrix in UCINET, Berechnung mit UCINET)a

Fünftens ist die Dichte innerhalb und zwischen den demokratischen und postdemokratischen Idealmodellen – auf niedrigem Niveau – ähnlich. Wie schon Abb. 1 nahelegte, zeichnen sich die artikulierten Legitimationsvorstellungen nicht durch eine deutlich kohäsivere Verknüpfung idealtypisch demokratischer Legitimationsargumente aus und zudem werden postdemokratische Argumente nicht maßgeblich durch demokratische eingehegt.

5 Vergleichende Einordnung der Legitimationsvorstellungen

Was bedeuten nun die Ergebnisse für die längerfristige Entwicklung der im Rahmen der Legitimationspolitik artikulierten Legitimationsvorstellungen?

Unter Einbezug der Daten bis WP 18 ist zwar keine lineare Entwicklung hin zu einer Postdemokratisierung nachzuweisen, allerdings kann ein Trend rekonstruiert werden, der eine Einteilung in drei Phasen – 1949–1963, 1965–1980, ab 1982 – nahelegt (für eine Charakterisierung und Diskussion der WP 1–18 vgl. Barnickel 2019, S. 185–338). Zwischen diesen unterscheiden sich die Verwendungsweisen der Legitimationsargumente deutlich, entsprechend der theoretischen Annahme einer Postdemokratisierung ab den 1980er-, spätestens den 1990er-Jahren (Crouch 2008a, S. 13–15; Ritzi 2014, S. 21–22, 101; Barnickel 2019, S. 161, 331–332).

Dabei zeichnet sich der Zeitraum von 1965–1980 am stärksten durch eine zentrale und dichte Vorbringung demokratischer Legitimationsargumente aus, welche vergleichsweise deutlich auf Legitimation über (plurale) Teilhabe- und Prozessdimensionen bzw. die Rolle der Bürgerinnen und die Prozessierung deren Positionen im politischen Prozess (bspw. über Repräsentation und Kontrolle) abheben. Die erste Phase bis 1963 weist zwar auch einige dieser idealtypisch demokratischen Legitimationsargumente als Teile des Kernmusters auf, fokussiert aber neben der Legitimation über eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten (noch) deutlich – unter Rückgriff auf Argumente des postdemokratischen Idealmodells – auf Legitimation über einen störungsfreien Politikprozess sowie die Erreichung von Politikergebnissen. Am deutlichsten postdemokratisch geprägt hingegen ist die Phase ab 1982, in der demokratische und postdemokratische Argumente ähnlich zentral und dicht verwendet werden. Mit der gestiegenen legitimatorischen Bedeutung postdemokratischer Legitimationsargumente erfährt das Kernmuster darüber hinaus dahingehend eine Veränderung, als eine legitimatorische Abkopplung der Bürgerinnen stattfindet, indem deutlicher als früher auf (idealtypisch postdemokratische) Politikergebnisse, ökonomische (Effizienz‑)Kriterien und die Selbstverantwortung der Bürger – im Zusammenhang mit wenig staatlich-politischer Verantwortung – verwiesen wird, deren (negative) Freiheiten deutlicher betont werden als deren (positive) Rechte (vertiefend zu den drei Phasen Barnickel 2019, S. 316–337).

Setzen wir die Ergebnisse aus WP 19 in Bezug zu den Debatten seit 1949, setzen sich einige der Trends fort. Dies bezieht sich auf die Annäherung der Zentralitäts- und Dichtewerte, die Grundkonstellation der dominanten Muster sowie die grundsätzliche Struktur diskursiver Legitimation.

Erstens bestätigt sich in WP 19 der Trend zur Angleichung der Zentralität in der Verwendung idealtypisch demokratischer und postdemokratischer Legitimationsargumente. Zwar werden in der deutlichen Mehrzahl der Debatten demokratische Legitimationsargumente zentraler verwendet als postdemokratische – mit einem besonders deutlichen Abstand insbesondere in den Debatten der zweiten der oben charakterisierten Phasen. In der dritten Phase findet allerdings eine deutlichere Annäherung statt, in den Wahlperioden 17 und 18 werden sogar postdemokratische Argumente durchschnittlich (leicht) zentraler verwendet (Barnickel 2019, S. 311, 317, 321, 324). Diese Annäherung bestätigt sich in WP 19 mit der nahezu identischen Zentralität (vgl. abermals Tab. 3): Postdemokratische Legitimationsargumente werden quantitativ bedeutsamer.

Zweitens setzt sich ein Trend hinsichtlich dessen fort, zu welchen Mustern Legitimationsargumente relational verknüpft sind. Bis 1980 – und vor allem zwischen 1965 und 1980 – ist die Legitimationspolitik so charakterisiert, dass, wenn politische Akteure postdemokratische Legitimationsargumente als legitimationsrelevant vorbringen, sie dies vor allem in Kombination mit demokratischen Legitimationsargumenten tun. Ab 1982 sind die Dichtewerte innerhalb beider Argumentgruppierungen und auch zwischen diesen relativ ähnlich (in WP 17 sind sogar die postdemokratischen Argumente recht deutlich dichter verknüpft, Barnickel 2019, S. 315, 320, 324, 328), was auch in WP 19 der Fall ist (vgl. abermals Tab. 4). Postdemokratischen Legitimationsargumenten kommt inzwischen also – auch unabhängig von idealtypisch demokratischen Legitimationsargumenten, die sie nun nicht mehr lediglich ergänzen – eine eigenständigere Legitimationskraft zu.

Drittens setzt sich, zumindest teilweise, die Argumentstruktur der dritten Phase fort. Besonders auffällig ist, neben einer Tendenz zur Vorbringung idealtypisch postdemokratischer Legitimationsargumente, die Inputschwäche, die sowohl auf idealtypisch demokratische als auch auf idealtypisch postdemokratische Argumente zutrifft. Wie in Abb. 1 gezeigt, beziehen sich die argumentativen Kerne vor allem auf Politikergebnisse. Insbesondere fehlen Partizipations- und insgesamt Inputargumente, die sich, wenn überhaupt, vor allem in der Peripherie der Netzwerke zeigen und somit keine besondere legitimatorische Bedeutung im Diskurs haben – ein Muster, das bereits in vielen der Vorgängerdebatten offenbar wurde (Barnickel 2019, S. 297, 300, 304, 307, 315, 326).

Viertens, eher als Nebenbefund und weniger auf die untersuchte Postdemokratisierung bezogen, wiederholt sich eine Beobachtung hinsichtlich der Legitimationsaktivität. Im Zeitverlauf werden zunehmend weniger und weniger eng verbundene (ablesbar an den vergleichsweise niedrigen Dichtewerten) Legitimationsargumente vorgebrachtFootnote 14 und zugleich können sich immer weniger Sprecherinnen auf einen geteilten Kern einigen (Barnickel 2019, S. 337). Dies ist auch in WP 19 der Fall, in der – wie oben ausgeführt – in keinem Fall mindestens die Hälfte der Sprecher zwei oder mehr Legitimationsargumente teilt: Es mangelt an einem Kern gemeinsam artikulierter normativer Grundlagen.

Fünftens besteht eine recht deutliche Konstanz darin, welche Legitimationsargumente vorgebracht werden, in dem Sinne, dass kaum genuin neue generiert werden (zusammenfassend zu WP 1–18 Barnickel 2019, S. 202–203) – allerdings mit Spezifika in der Verwendungsweise. So zeichnen sich in WP 19 einige Besonderheiten ab. Die erste bezieht sich auf den Konflikt um die legitimatorische Bedeutung von ‚Nationalismus‘. Ein positiver legitimatorischer Bezug hierauf wird in WP 19 erstmals seit 1949 vorgebracht – hier von dem Vertreter der AfD. Demgegenüber bestreiten Merkel und Bartsch diese Setzung und verweisen auf den legitimatorischen Wert des Fehlens von Nationalismus bzw. bestreiten Legitimation über Nationalismus. Diese negative Referenz ist auch in früheren Debatten anzutreffen, letztmalig in WP 14. In WP 19 kommt es mithin erstmals nach 1949 zu einem Konflikt um den legitimatorischen Wert des Arguments, da erstmals wieder positive Bezüge auf ‚Nationalismus‘ geäußert werden.

Weitere Argumente aus dem postdemokratischen Idealmodell sind in WP 19 weniger prominent vertreten als in einigen der Vorgängerdebatten. Dies trifft insbesondere zu auf Argumente aus dem Themenkreis der Ökonomisierung, bspw. ‚ökonomische Effizienz‘, TINA und Delegation mit Bezug auf ökonomische Akteure oder Zwänge. Diese sind hier nicht oder nur randständig Teil des zentralen Legitimationsmusters (vgl. Abb. 1), insbesondere das Argument der ‚ökonomischen Effizienz‘ war in den Vorgängerdebatten, insbesondere in WP 15, 17 und 18, deutlich prominenter vertreten (Barnickel 2019, S. 297, 303–304, 306–307). Das Argument der ‚Selbstverantwortung‘, das legitimatorisch darauf zielt, Verantwortung an die Bürgerinnen abzutreten, wird in WP 19 erstmals seit WP 2 nicht als positives Argument genannt. Es fungierte noch in den Wahlperioden 15–18 als wichtiges Teilargument, wurde aber bereits in WP 18 nicht mehr so prominent verhandelt (Barnickel 2019, S. 188, 296–297, 299–300, 303–304, 307–308). Untypisch in WP 19 ist zudem der relativ schwache Bezug auf Argumente, die auf negative Freiheiten abzielen. Allerdings trifft dennoch die These der Postdemokratieliteratur zu, dass negative Freiheiten zulasten positiver Rechte überbetont werden. Letztere sind – erstmals seit 1949 – überhaupt nicht Teil der Legitimationsdebatte in WP 19. Vielleicht deutet sich hier ein abermaliger legitimatorischer Wandel an.

6 Schlussbetrachtung

Der Beitrag konnte zeigen, dass die Legitimationspolitik in der Großen Regierungserklärung und parlamentarischen Aussprache in WP 19 Trends fortsetzt, die sich bereits seit den 80er-Jahren im legitimationspolitischen Diskurs abzeichnen. Seitdem sind Legitimationsvorstellungen stärker durch idealtypisch postdemokratische Legitimationsargumente geprägt. Diese sind im Diskurs zentraler platziert als in früheren Phasen und charakterisieren auch dominante legitimatorische Kerne. Das dominanteste Muster setzt in WP 19 – wie in vielen Vorgängerdebatten – darüber hinaus auf Legitimation über Politikergebnisse und vernachlässigt insbesondere Legitimation über Partizipationsdimensionen. Es sind also nicht nur vermehrt postdemokratische Argumente zu finden, sondern sie konzentrieren sich auch auf die Output-Dimension und werden weder durch postdemokratische noch durch demokratische Input-Argumente in einem relevanten Ausmaß begleitet.

Die Legitimationspolitik der WP 19 offenbart abermals, dass zwar eine relativ geringe Konfliktivität über den legitimatorischen Gehalt von Legitimationsargumenten besteht – in dem Sinne, dass Normen umkämpft wären und die einen sie als positive, die anderen als negative Norm verfechten würden (wie es bei dem Argument ‚Nationalismus‘ in WP 19 der Fall ist). Gleichzeitig können sich aber nur wenige Sprecherinnen auf gemeinsame legitimatorische Grundkonstanten einigen. Es fehlen gemeinsame, deutlich artikulierte (idealerweise demokratische) diskursive Kernnormen, welche dann um weitere, auch kontestierte, Normen ergänzt werden (können).

Trotz dieser Konstanz in der Entwicklung der Legitimationspolitik, offenbart die Debatte in WP 19 Veränderungen hinsichtlich der Konnotation einzelner Argumente. Zum einen spielen manche der früher recht prominenten Argumente (insbesondere der Ökonomisierung, zum Teil auch Freiheitsargumente) eine geringere legitimatorische Rolle. Zum anderen bricht erstmals nach 1949 ein legitimatorischer Konflikt um das Argument ‚Nationalismus‘ auf, das nun auch als positives Legitimationsargument verfochten wird.

Nach welchen Mechanismen und in Zusammenhang mit welchen Ereignissen oder veränderten Konstellationen sich diskursiver Wandel einstellt und wie nachhaltig sich dieser entwickelt, ist (noch) eine offene Frage. Einerseits mögen historische Konstellationen bestimmte Begründungsnotwendigkeiten evozieren, wohingegen (wahrgenommene) Selbstverständlichkeiten nicht mehr diskutiert werden mögen. Dies könnte bspw. für das Argument der demokratischen Wahl gelten, welches nur eine geringe Rolle spielt. Allerdings sprechen einige Ergebnisse gegen diese These. So ist bspw. die Debatte nach der deutschen Wiedervereinigung nicht durch besondere Rekurse auf zentrale demokratische Argumente (wie jenes der Wahl oder anderer Formen demokratischer Partizipation) charakterisiert, also in einer historischen Situation, in der dies erwartbar gewesen wäre (ausführlich Barnickel 2019, S. 336–337). Auch die aktuelle 19. WP mag aufgrund der fraktionellen Zusammensetzung ein solcher Fall sein, in der deutlichere Rekurse auf die jeweiligen Demokratieverständnisse als Legitimationsverständnisse erwartbar gewesen wären – nicht zuletzt um sich von der AfD abzugrenzen. Einzelne Veränderungen im Diskurs, wie die Debatte um Nationalismus, scheinen mit einzelnen Akteuren und der veränderten fraktionellen Zusammensetzung zusammenzuhängen. Inwieweit neue parlamentarische Akteure diskursverändernd wirken, inwieweit sie dauerhaft den Diskurs prägen und wie andere politische Akteure langfristig mit deren Legitimationsargumenten umgehen und wie dies ihr Selbstverständnis prägt, ist eine offene Frage, an die sich über den Vergleich mit anderen Wahlperioden, in denen neue Akteure Teil des Bundestags wurden (insbesondere Die Grünen in WP 10 und die PDS/LL in WP 12), sowie über eine Überprüfung mit anderen Akten der öffentlichen Legitimation angenähert werden kann.