Zusammenfassung
Die strafrechtliche Sanktionierung von Homosexualität wurde im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation institutionalisiert, überdauerte Kleinstaaterei, autoritäres Kaiserreich und die Weimarer Republik, wurde im totalitären NS-Regime verschärft und sowohl in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland (BRD) als auch in der staatssozialistischen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zunächst beibehalten. Wie können nach dieser Kontinuität die in BRD und DDR Ende der 1960er Jahre fast gleichzeitig durchgeführten Entkriminalisierungen der Homosexualität erklärt werden? Mithilfe eines Process Tracing-Ansatzes wird gezeigt, dass die Entkriminalisierung in der BRD auf einen internationalen Individualisierungsprozess zurückgeführt werden kann, während die Legitimierung der politischen Herrschaft durch die Staatsführung als entscheidende Determinante der Entkriminalisierung in der DDR gelten kann. Die verschiedenen kausalen Pfade, die zu den Entkriminalisierungen in BRD und DDR geführt haben, stellen ein Beispiel für äquifinale Kausalität dar.
Abstract
In Germany, the criminal sanctioning of homosexuality was established during the Holy Roman Empire of the German Nation, remained in force during the territorial fragmentation in Germany, the authoritarian empire and the Weimar Republic, became more rigorous during the totalitarian Nazi regime and was initially maintained in both the parliamentarian Federal Republic of Germany (FRG) as well as the socialist German Democratic Republic (GDR). After this striking continuity, how can we explain that the decriminalization of homosexuality occurred nearly simultaneously in the FRG as well as the GDR at the end of the 1960s? Using process tracing, the article reveals that the decriminalization in the FRG was due to an international process of individualization, whereas in the GDR, the decriminalization was mainly caused by the fact that the SED sought to legitimize its political power. Thus, the two different causal paths which led to the decriminalization of homosexuality in the FRG as well as the GDR provide a good example of equifinality.
Notes
Das hier verwendete Mechanismen-Konzept der ontologischen Schule ist von der Konzeption der analytischen Schule nach Hedström und Swedberg abzugrenzen, die durch einen starken Fokus auf individuelles Verhalten gekennzeichnet ist (George und Bennett 2005, S. 135–136).
Dieser Beitrag konzentriert sich somit bewusst auf die substanziellen Entkriminalisierungen der Homosexualität, die 1968 bzw. 1969 durchgeführt wurden. Wenn auch in entschärfter Fassung, existierten gleichwohl weiterhin in beiden deutschen Staaten Gesetze, die die Homosexualität unter bestimmten Bedingungen pönalisierten. Das 1968 reformierte StGB-DDR stellte mit dem § 151 homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen unter Strafe. Dieser wurde 1988 ersatzlos gestrichen. In der BRD wurden ab 1969 weiterhin die qualifizierten Fälle nach § 175a unter Strafe gestellt. Nach der Strafrechtsreform 1973 waren homosexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren weiterhin strafbar, wobei sexuelle Kontakte zwischen Frauen keine Erwähnung fanden. Erst seit der 1994 erfolgten Streichung des § 175 kann somit von einer vollständigen Entkriminalisierung die Rede sein.
Der von Mitgliedern aller Bundestagsfraktionen verfasste Bericht wurde sowohl von den Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD als auch von der FDP mitgetragen. Der Sonderausschuss arbeitete die ersten beiden Strafrechtsreformgesetze aus, die im Juni/Juli 1969 vom Bundestag verabschiedet wurden.
Die Vorbereitung der Strafrechtsreform wurde maßgeblich durch den SPD-Justizminister Gustav Heinemann geprägt (Stümke 1989, S. 152). 1967 erklärte Heinemann, „daß Homosexualität unter erwachsenen Männern nicht bestraft werden soll, ebensowenig wie der gleichgeschlechtliche Verkehr unter erwachsenen Frauen […] In beiden Fällen handelt es sich um Vorgänge des intimen Lebens, in die sich der Strafrichter nicht einmischen sollte.“ (Der Spiegel 1967).
Trotz der innerparteilichen Liberalisierung der Unionsparteien darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Reform des § 175 innerhalb von CDU/CSU keineswegs unumstritten war. Dasselbe gilt für die SPD (Stümke 1989, S. 153).
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Danksagung
Der Verfasser bedankt sich herzlich bei Christoph Knill, Sophie Schmitt und Stephan Heichel, die nicht nur sein Interesse für das spannende Feld der Moralpolitik geweckt, sondern auch wertvolle Hinweise für den vorliegenden Beitrag gegeben haben. Auch den beiden Gutachtern sei für ihre hilfreichen Anmerkungen gedankt.
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Rinscheid, A. Entkriminalisierung ohne Individualisierung? Eine komparativ-historische Fallstudie zur Entkriminalisierung von Homosexualität in BRD und DDR. Z Vgl Polit Wiss 7, 251–275 (2013). https://doi.org/10.1007/s12286-013-0165-6
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