1 Einleitung: Wie viele Schulen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung?

Die von Manfred G. Schmidt entwickelte Unterscheidung von Schulen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung hat Einzug in die Lehrbücher gefunden und darf zum festen Kanon der vergleichenden Politikwissenschaft gerechnet werden (siehe beispielsweise Schmidt 1995, S. 576–587; Zohlnhöfer 2007, S. 157–164 sowie die Beiträge in Schmidt et al. 2007, Abschn. I). Die Leistung dieser Unterscheidung liegt vor allem darin, dass sie dem Anwender ein Grundraster an Theorieangeboten zur Verfügung stellt, dessen Bestandteile sich zu unterschiedlichen politikfeld- oder problemspezifischen Teiltheorien kombinieren lassen. In minimaler Abwandlung lassen sich mit Schmidt folgende Theorieschulen unterscheiden:

  1. 1.

    Theorien der sozioökonomischen Determination

  2. 2.

    Machtressourcen-Theorien

  3. 3.

    Theorien der Parteiendifferenz

  4. 4.

    Politisch-institutionalistische Theorien

  5. 5.

    Theorien der Internationalisierung und der De-Industrialisierung

Die Gemeinsamkeit dieser Theorieschulen liegt darin, dass aus ihnen jeweils eigenständige Hypothesen zur Erklärung von Staatstätigkeit im internationalen Vergleich oder im Zeitvergleich folgen. Neben Anwendungen in der Staatstätigkeitsforschung im engeren Sinne wurde die Schmidtsche Unterscheidung auch zur Analyse von Handlungen anderer Akteure als Regierungen, zur Beschreibung von Systemzuständen und zur vergleichenden Betrachtung von Outcomes wie Wachstum, Inflation und Arbeitslosigkeit genutzt (siehe beispielsweise die Beiträge in Obinger et al. 2003). In einem weiteren Sinne ließe sich also von Schulen der (vergleichenden) Politischen Ökonomie sprechen, deren Anwendungsbereich über die Analyse von Staatstätigkeit hinausreicht.

Theorien der sozioökonomischen Determination weisen dem sozioökonomischen Entwicklungsstand Erklärungskraft zu. Zu einflussreichen Theorien der sozioökonomischen Determination zählen Wagners Theorie der wachsenden Staatstätigkeit vor dem Hintergrund komplexer werdender kapitalistischer Gesellschaften (Wagner 1911/1970) sowie, auf höherem Abstraktionsgrad, die Marxsche Theorie der gesellschaftlichen Prägekraft des Stands der Produktivkräfte (Marx u. Engels 1848/1973, Abschn. I). Machtressourcen-Theorien rücken Stand und Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Schichten und Klassen ins Zentrum von Erklärungen. Ein eindrückliches Beispiel ist Korpis Erklärung der Genese moderner Wohlfahrtsstaaten und der schwedischen Sozialstaatsexpansion im Speziellen (Korpi 1978). In relativer Nähe hierzu bewegen sich Parteiendifferenztheorien, denen es aber nicht auf gesellschaftliche Kräfteverhältnisse allgemein, sondern vielmehr auf die parteipolitische Zusammensetzung von Regierungen ankommt (grundlegend Hibbs 1977, 1992). Politisch-institutionalistische Theorien betonen hingegen die Erklärungskraft unterschiedlicher institutionalisierter Spielregeln der politischen Systeme. Dazu zählen beispielsweise systematische Politikeffekte der Mehrheitsdemokratie in Abgrenzung zur Verhandlungsdemokratie (Lijphart 1999, Kap. 15, 16), der Zentralbankunabhängigkeit (Busch 1995, S. 91–134) oder direktdemokratischer Institutionen ( Schmidt 2008, Kap. 20; Wagschal u. Freitag 2007). Die fünfte hier unterschiedene Theorieschule fokussiert auf die Effekte der Internationalisierung der Güter-, Arbeits- und Finanzmärkte und deren ermöglichende oder behindernde Wirkung auf die Staatstätigkeit (Zohlnhöfer 2005); neben der Internationalisierung wurde die De-Industrialisierung reifer Volkswirtschaften als Determinante von Staatstätigkeit, insbesondere im Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Politik, ausgemacht (Iversen u. Cusack 2000).

Diese ZusammenstellungFootnote 1 existiert in unterschiedlichen Ausprägungen, und sie sollte nicht als abschließendes, sondern als ein je nach Anwendungsfall offenes Angebot verstanden werden. Auch existieren Theorien, deren Zuordnung zu den unterschiedenen Schulen nicht eindeutig ist. So wäre beispielsweise diskutabel, Parteiendifferenztheorien als Spezialfall von Machtressourcen-Theorien zu werten;Footnote 2 es wäre denkbar, Theorien der Internationalisierung und der De-Industrialisierung unter die Theorien der sozioökonomischen Determination zu subsumieren;Footnote 3 es wurden weit reichende Policy-Konsequenzen der Europäisierung nachgewiesen, hinter denen eine andere Logik steht als hinter Internationalisierungsprozessen, so dass bedenkenswert erscheint, Theorien supranationaler hoheitsstaatlicher Integration als eigenständige Theorieschule in die Unterscheidung aufzunehmen (grundlegend Scharpf 1999); und verschiedentlich wurde vorgeschlagen, Theorien des pfadabhängigen Wandels in der Liste von Schulen der Staatstätigkeitsforschung einen eigenständigen Platz einzuräumen.Footnote 4

An der prinzipiellen Offenheit dieser Liste setzt die nachfolgende Argumentation an. Ich werde aufzeigen, dass insbesondere im englischsprachigen Raum seit den neunziger Jahren, vor allem aber in der laufenden Dekade eine neue Theorieschule herangewachsen ist, die als eigenständige Schule der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung gewertet werden sollte: „Spielarten des Kapitalismus“ (nachfolgend mitunter: VoC, Varieties of Capitalism; alternative Bezeichnung: Produktionsregime-Ansatz). Die vorgeschlagene Einordnung dieser Schule in die vergleichende Staatstätigkeitsforschung mag zunächst verwundern. Niemand würde bestreiten, dass die „Spielarten des Kapitalismus“-Schule in den vergangenen Jahren eine der lebhaftesten Debatten der Politischen Ökonomie angestoßen und produktive Erkenntnisse insbesondere über die institutionellen Grundlagen wirtschaftlicher Wettbewerbsvorteile hervorgebracht hat (siehe stellvertretend für viele andere die Beiträge in Hall u. Soskice 2001b; Hancké et al. 2007a). Von Staatstätigkeit im engeren Sinne war in Hall u. Soskices “Introduction to Varieties of Capitalism” aber vergleichsweise wenig die Rede (Hall u. Soskice 2001a, Abschn. 1.7, 1.8). In den nachfolgenden Jahren indes wurden die Grundannahmen der „Spielarten des Kapitalismus“-Schule, mitunter mit verblüffenden Ergebnissen, auf unterschiedliche Aspekte der Staatstätigkeit angewandt, und insbesondere zur vergleichenden Analyse des modernen Wohlfahrtsstaats entwickelte sich eine lebhafte, neuartige Diskussion.

Kurz: Sollte die Schmidtsche Unterscheidung von Schulen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung um eine weitere Schule ergänzt werden, wäre „Spielarten des Kapitalismus“ der nachdrücklichste Kandidat. Er erfüllt alle Kriterien einer solchen Schule: Aus ihm folgen Hypothesen, die sich auf keine der anderen Schulen, oder auf Kombinationen von ihnen, abbilden lassen;Footnote 5 die Theorie ist, anders als beispielsweise funktionale Systemtheorien Luhmannscher Prägung, mit Bestandteilen der anderen Theorien zu politikfeldspezifischen Teiltheorien kombinierbar; und Originalität sowie die hohe Anzahl von Anwendungen auf Forschungsfragen der vergleichenden Policy-Forschung rechtfertigen die Wertung als eigenständige Theorieschule.

Um dies zu zeigen, werde ich nachfolgend in drei Schritten vorgehen. Zunächst spitze ich die Grundzüge des Theorieangebots problemorientiert und im Hinblick auf ihre Anwendung in der Politikanalyse zu. Im Anschluss daran zeige ich anhand von drei Beispielen, inwiefern aus „Spielarten des Kapitalismus“ eigenständige Hypothesen zu sowohl vergleichender Staatstätigkeitsforschung als auch, allgemeiner, zur vergleichenden Politischen Ökonomie folgen. Abschließend diskutiere ich die Implikationen für gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung.

2 Sechs Grundannahmen und Perspektiven „Spielarten des Kapitalismus“-Schule

„Spielarten des Kapitalismus“ erlangt seine distinkte Stellung als „Schule“ durch Setzung einer Anzahl von Grundannahmen und Einnahme von Perspektiven, die nachfolgend eingehender erläutert und im Hinblick auf ihren Erklärungswert für die Staatstätigkeitsforschung zugespitzt werden.

2.1 Unternehmenszentrierung

Das „Spielarten des Kapitalismus“-Konzept fokussiert auf Unternehmen als maßgebliche Akteure in Produktionsregimen und als entscheidende Empfänger wirtschaftspolitischer Regulierung. Diese Setzung unterscheidet VoC grundsätzlich von allen anderen Schulen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung (Hall u. Soskice 2001a, S. 6/7; Hall u. Thelen 2009, S. 8; kritisch: Amable u. Palombarini 2009, S. 126–129; Schmidt 2008, S. 311–313). Die theoriegeschichtlichen Ursachen dieser entscheidenden Grundintuition der VoC-Forschung werden deutlich, wenn man sich ihre Verwurzelung in der Korporatismusdiskussion der siebziger und achtziger Jahre vor Augen führt.

Spätestens seit den siebziger Jahren betrat die vergleichende Politikwissenschaft Terrain, das eigentlich die Wirtschaftswissenschaften für sich beanspruchten: nämlich, Erklärungen für die unterschiedlichen Grade an wirtschaftlichem Erfolg von Volkswirtschaften, gemessen anhand von Indikatoren wie dem Wirtschaftswachstum, der Inflation oder der Arbeitslosigkeit, bereitzuhalten. Das reine Marktmodell, so die starke These, war alternativen Formen der Steuerung der Wirtschaft nicht grundsätzlich überlegen. Ganz im Gegenteil erschien der Neokorporatismus, also die Durchorganisierung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit in starken Verbänden und deren institutionalisierte Einbindung in die Politikproduktion, eine den Problemen reifer Volkswirtschaften adäquate Steuerungsform. Mit den Daten der siebziger Jahre ließ sich diese These plausibel bestätigen. Zahlreiche ländervergleichende Studien zeigten linear-inverse Zusammenhänge zwischen dem Grad an Neokorporatismus einerseits, und Inflation und Arbeitslosigkeit andererseits (Bruno u. Sachs 1985; Crepaz 1992; Crouch 1990; Czada 1983; Dell’ Aringa u. Lodovici 1992; Schmid 1993, 1982).

Dieses Ergebnis hielt aber nur, so lange sich die betrachteten Daten nicht zu weit in die achtziger oder gar neunziger Jahre hinein erstreckten. Bereits für die achtziger Jahre wich die Vermutung eines monotonen Zusammenhangs zwischen der Struktur der Verbändesysteme und deren quasi-staatlicher Einbindung in die Politikproduktion einerseits und der Leistungsfähigkeit der Ökonomien andererseits der These eines U-Kurven-förmigen Zusammenhangs, und zwar dahingehend, dass Marktsysteme und zentralisiert-korporatistische Systeme ebenbürtige, Mischsysteme hingegen schlechtere Ergebnisse hervorbrachten (Freeman 1988; Heitger 1987; Scarpetta 1996; in Bezug auf die Zentralisation der Lohnfindung: Calmfors u. Driffill 1988). Das Korporatismus-Konzept war nicht mehr geeignet, die Unterlegenheit des Marktmodells nachzuweisen. Dieses Problem aber ließ sich mit einer graduellen Umsortierung der Länder auf den gängigen Korporatismus-Skalen und einer damit einhergehenden graduellen Anpassung des dahinter stehenden theoretischen Konzepts beheben.

Nichts anderes tat Soskice (1990) in einer der ersten Darstellungen seiner Unterscheidung strategisch koordinierter und marktkoordinierter Ökonomien. Er zeigte auf, dass sich der von Calmfors und Driffill nachgewiesene U-Kurven-förmige Zusammenhang in einen monotonen Zusammenhang rücktransformierte,Footnote 6 wenn man Japan und die Schweiz nicht als marktkoordinierte, sondern als strategisch koordinierte Ökonomien behandelte. Zudem wurde Deutschland, seinerzeit noch eine Ökonomie mit beispielgebendem Mix aus geringer Inflation und allenfalls auf mittlerem Niveau ausgeprägter Arbeitslosigkeit, von einem Mischtyp zum Paradefall einer koordinierten Ökonomie umklassifiziert. Wie musste das diese Umsortierung rechtfertigende Theoriekonzept aussehen? Erstens: Man musste sich von der Gewerkschaftsfixiertheit der Korporatismusdebatte lösen und stärker als bisher auf die Koordination auf Arbeitgeberseite schauen. Zweitens: Man musste auch dezentrale Koordinationsformen, die nicht über zentralisierte Verbändesysteme zustande kamen, als nichtmarktliche Koordination werten. Weder Japan noch die Schweiz verfügten über starke Gewerkschaften, und in Japan erfolgte arbeitgeberseitige Koordination über Industriegruppen statt über formale Verbände. Die logische Konsequenz lautete, dass sich der Fokus der Forschung von den in die Politik eingebundenen Verbänden ablösen und den Unternehmen zuwenden musste. So lässt sich die Genese des „Spielarten des Kapitalismus“-Konzepts als graduelle und von einer spezifischen makroökonomischen Datenlage getriebene Weiterentwicklung des Korporatismuskonzepts verstehen.

Das Neokorporatismus-Konzept wurde mitunter (Schmidt 1995, S. 584; Zohlnhöfer 2007, S. 161) der politisch-institutionalistischen Theorieschule zugerechnet, so dass sich die Frage stellt, ob nicht auch „Spielarten des Kapitalismus“ letztlich als politisch-institutionalistischer Ansatz gewertet werden sollte.Footnote 7 Meines Erachtens würde diese Zuordnung mehr verdecken als erhellen. Die Nähe korporatistischer Erklärungen zu den politisch-institutionalistischen Ansätzen ergab sich aus der Staatsbezogenheit des Neokorporatismus, also der Tatsache, dass Politikproduktion als Aushandlungsdreieck zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden modelliert wurde. Im Neokorporatismus wurde das Verbändesystem damit faktisch zu einem Bestandteil des politischen Systems. Gerade dieser Theorieaspekt ist es aber, der bei dem Schritt vom Neokorporatismus zu „Spielarten des Kapitalismus“ verloren ging. Folgerichtig wird sich in Abschn. 3 zeigen, dass die Hypothesen, die VoC zur Erklärung von Staatstätigkeit generiert, mit gänzlich anderen, eigenen Kausalitäten operieren. Bei diesen Hypothesen geht es durchweg um Muster der Präferenzformierung auf der Mikro-Ebene, die mit korporatismus- oder beispielsweise vetospielertheoretischen Erklärungen nichts gemein haben.

2.2 Koordinationsmodi

Was genau interessiert an den Unternehmen, die durch die oben skizzierten Weiterentwicklungen des Korporatismuskonzepts in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wurden? Es geht um die institutionalisierten Modi, mit denen sich Unternehmensleitungen untereinander und mit den Trägern der Ressourcen koordinieren, die für die Produktion gebraucht werden: mit Beschäftigten, Kunden und Zulieferern, Eigentümern, Kreditgebern und mit anderen Unternehmen. In dieser Hinsicht knüpft VoC an die Governance-Diskussion an, beschäftigt sich also mit Regelungsformen, die sich nicht unter den Begriff der hierarchischen Steuerung subsumieren lassen. Beispielsweise unterschieden sowohl Streeck u. Schmitter (1985) als auch Mayntz u. Scharpf (1995) vier typische Steuerungsarenen und ihnen zugehörige dominante Regelungsmodi: den Markt (Modus: unkoordinierte Konkurrenz), die Gemeinschaft (Modus: Solidarität), die Bürokratie (Modus: Hierarchie) und Verbände (Modus: Aushandlung); als fünfte Form trat in der Steuerungsdiskussion der achtziger und neunziger Jahre die Koordination in Netzwerken hinzu, die mal als Mischtyp zwischen den anderen Steuerungsformen, mal als eigenständige Regelungsform interpretiert wurde.

Bemerkenswert an der Aufnahme von Ergebnissen der Governance-Diskussion in das VoC-Konzept ist, dass sie mit einem radikalen Vereinfachungsschritt einhergeht: Es werden lediglich zwei Koordinationsmodi unterschieden, nämlich marktliche Koordination einerseits und alle Formen langfristiger, strategischer Koordination andererseits – gleichgültig, ob es sich um Koordination über Netzwerke handelt, ob Elemente der Hierarchie zwischen den Trägern der Koordination präsent sind, ob verbandliche Arenen zur Koordination genutzt werden oder ob sich Elemente von Reziprozität zwischen den beobachteten Einheiten nachweisen lassen. Kontroverse Diskussionen über die Heterogenität der als „koordinierte Marktökonomien“ zusammengefassten Ländergruppe (vergleiche Abschn. 2.5) wurzeln in dieser Verschiedenheit der Steuerungsformen, die unter dem Typus der strategischen Koordination zusammengefasst und dem Marktmechanismus gegenübergestellt werden.

2.3 Institutionelle Sphären

Die unterschiedlichen Koordinationsmodi werden in einer begrenzten Anzahl institutioneller Sphären (alternative Bezeichnung: Domänen) lokalisiert, wobei Anzahl und insbesondere Abgrenzung der Sphären in unterschiedlichen Darstellungen variieren. Insbesondere aber sind folgende vier Sphären zu nennen: Arbeitsbeziehungen, Unternehmensfinanzierung und -kontrolle (Corporate Governance), Ausbildungswesen sowie eine heterogene Kategorie, in der es um die Koordination zwischen Unternehmen geht und die sich auf Felder wie die Produktstandardisierung, den Technologietransfer und die allgemeine Wettbewerbspolitik bezieht. In einigen Darstellungen wird die interne Struktur der Unternehmen (z. B.: institutionelle Separierung der Leitungsorgane in Vorstände und Aufsichtsräte, Unternehmensmitbestimmung) als eigenständige, von Unternehmenskontrolle und Arbeitsbeziehungen abzugrenzende Domäne behandelt (Hall u. Soskice 2001a, S. 24).

Aus institutionentheoretischer Perspektive ist von besonderem Interesse, ob das Verhältnis dieser Sphären zueinander als heterarchisch modelliert wird, oder eine Leitdomäne existiert, deren Struktureigenschaften in asymmetrischer Weise prägend auf benachbarte Domänen einwirken (vergleiche Abschn. 2.4 zur funktionalen Komplementarität). Mit dem Gedanken einer im Zeitverlauf wechselnden Hierarchie zwischen den Sphären von Produktionsregimen operiert beispielsweise die französische Regulationsschule. Dieser Sicht zufolge fungierten die Institutionen der Arbeitsbeziehungen im Fordismus als Leitsphäre, wurden im Lauf der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aber von einer Dominanz der Wettbewerbspolitik über die Struktureigenschaften anderer Domänen abgelöst (Aglietta 1976, S. 383; Amable u. Petit 2001, S. 10; Boyer 1990, S. 108; Boyer u. Saillard 2002, S. 39). Bei Boyer (1998, 2000) findet sich die These, dass sich die Institutionen des Finanzmarktregimes im späten zwanzigsten Jahrhundert in eine zunehmend dominante Position schoben und Anpassungen der institutionellen Verfasstheit anderer Sphären erzwangen. Eine explizite Thematisierung solch institutioneller Hierarchien findet sich im „Spielarten des Kapitalismus“-Konzept nicht.

Implizit hingegen finden sich auch in der VoC-Schule Zuschreibungen, die ein hierarchisches Verhältnis zwischen den institutionellen Sphären nahe legen. “Financial deregulation”, schreiben Hall u. Soskice (2001a, S. 64), “could be the string that unravels coordinated market economies”. Dies würde für eine übergeordnete Stellung des Finanzmarktregimes sprechen. Allerdings findet gerade die Beziehung zwischen Unternehmen und Investoren in jüngeren Diskussionsbeiträgen aus dem VoC-Umfeld kaum noch explizite Beachtung (Hall u. Thelen 2009; Iversen 2005), so dass sich anstelle der Frage einer etwaigen institutionellen Dominanz dieser Sphäre sogar eher die Frage stellt, ob sie im Konzept überhaupt noch zur Erklärung von Verhaltensweisen der Unternehmen und der Politik sowie Outcomes gebraucht wird. Indes hat sich eine andere Sphäre in das Zentrum der Aufmerksamkeit geschoben: die Domäne der Humankapitalproduktion. Diesen Sachverhalt werde ich in Abschn. 3 anhand der drei Beispiele zur policybezogenen Erklärungskraft der „Spielarten des Kapitalismus“-Schule illustrieren.Footnote 8

2.4 Institutionelle Komplementarität

Neben der Unternehmenszentrierung ist die herausragende Bedeutung der institutionellen Komplementarität ein distinktes Merkmal der „Spielarten des Kapitalismus“-Schule. Sie interessiert sich weniger für unabhängig voneinander bestehende, kumulierte Wirkungen von Institutionen aus unterschiedlichen Sphären, als vielmehr für systematische Interaktionseffekte zwischen ihnen. Institutionelle Komplementarität liegt vor, wenn die Funktionalität einer Institution von der Präsenz anderer Institutionen abhängt.Footnote 9 Diese an sich einfache Setzung der Theorie hat weit reichende Konsequenzen für das Denken über Institutionen. Das sei anhand eines Beispiels erläutert, das bereits auf die in Abschn. 3 erfolgende Diskussion der Staatstätigkeit in unterschiedlichen Produktionsregimen hinausweist. Darin geht es um die Komplementarität zwischen den Institutionen der Humankapitalproduktion und dem Kündigungsschutz.Footnote 10

Aus Sicht der Neoklassik bürdet Kündigungsschutz Unternehmen Kosten auf, die sich zu den primären Personalkosten hinzuaddieren, die faktischen Personalkosten somit über das markträumende Gleichgewichtsniveau heben und deshalb in Unterbeschäftigung münden müssen. Vertreter der VoC-Schule halten dem entgegen, diese Betrachtung vernachlässige Interaktionseffekte zwischen Institutionen. Angenommen sei ein Unternehmen, dessen Wettbewerbsvorteile bei der Produktion spezialisierter Qualitätsprodukte auf der Verfügbarkeit unternehmensspezifischen Humankapitals beruhen. Was konkret bedeutet: Die zur Produktion notwenigen Fertigkeiten lassen sich auf dem externen Arbeitsmarkt nicht einkaufen, sondern müssen im Unternehmen erbracht werden. Die betroffenen Humankapitalträger haben im Fall von Kündigungen nur geringe Chancen, ein vergleichbares Einkommen in anderen Unternehmen oder sogar Sektoren zu erzielen; ihre Humankapitalinvestitionen sind sunk cost und entwerten sich bei dem Versuch, sie auf andere Unternehmen zu übertragen. Dieses Unternehmen ist somit auf die Bereitschaft älterer Arbeitnehmer angewiesen, ihre Fertigkeiten im Rahmen betrieblicher Ausbildungsgänge an jüngere Beschäftigte weiterzugeben. Warum sollten sie dies tun, wenn sie befürchten müssten, im Anschluss durch den jüngeren, potenziell produktiveren Beschäftigten ersetzt zu werden? Die Bereitschaft, eigene unternehmensspezifische Qualifikationen effektiv an andere zu übertragen, so die Schlussfolgerung, setzt glaubhaften Schutz vor Kündigungen voraus. Was aber, wenn man dieses Gedankenmodell von der Unternehmensebene auf die Ebene einer Volkswirtschaft überträgt, also eine „Spielart des Kapitalismus“ annimmt, deren Wettbewerbsvorteile in der internationalen Arbeitsteilung auf friktionsloser Generierung spezifischen Humankapitals beruht? Dann gewinnt der Kündigungsschutz als Institution eine produktionsbezogene, effizienztechnische Funktionalität.

Bemerkenswert ist nun, dass die oben skizzierte Argumentation nicht mit Annahmen operiert, die der wirtschaftswissenschaftlichen Neoklassik widersprechen würden. Es ist lediglich die Einsicht in – wenn man so will – „Querwirkungen“ von Institutionen, die den Kündigungsschutz plötzlich nicht mehr als sozialpolitisch vielleicht wünschenswertes, wirtschaftlich aber gewiss nicht effizientes Instrument erscheinen lässt. Vielmehr, so das Argument, hängt es von den anderen institutionellen Elementen des Produktionsregimes ab, ob eine Institution wie der Kündigungsschutz einen funktionalen Beitrag zu Produktion und Wettbewerbsfähigkeit leistet oder nicht. Ähnliches lässt sich für weitere Institutionen durchdeklinieren, die ihre Funktionalität auf den ersten Blick lediglich im Sinne des Arbeitnehmerschutzes entfalten, nicht aber im Sinne eines produktiven Beitrags zur Wettbewerbskraft von Volkswirtschaften: so beispielsweise für Elemente der Sozialpolitik (vergleiche Abschn. 3.1), der zentralisierten Lohnfindung oder der Mitbestimmung. Allgemein formuliert: Die Einsicht in die Eigenschaft institutioneller Komplementarität legt nahe, dass die Funktionalität der Institutionen von Produktionsregimen niemals isoliert bestimmt werden kann, sondern sich erst aus dem Zusammenspiel mit anderen Institutionen ergibt.

2.5 Nationale Spielarten des Kapitalismus

Mit Hilfe der bis hier dargestellten Konzepte lassen sich nationale Spielarten des Kapitalismus unterscheiden und zu Gruppen oder Rangfolgen sortieren. Hall und Soskice operieren mit der binären Unterscheidung zwischen liberalen Marktökonomien (liberal market economies, LMEs) und koordinierten Marktökonomien (coordinated market economies, CMEs) und klassifizieren zudem einige Länder als Mischtypen (siehe Tab. 1, Spalte 2). Wegen der in Abschn. 2.2 angesprochenen Heterogenität der in CMEs dominanten Steuerungsmodi haben einige Autoren die Ausweitung der Typologie auf mehr als zwei Ausprägungen vorgeschlagen. So unterscheidet Schmidt (2002) drei Kapitalismustypen: Marktkapitalismus, koordinierten Kapitalismus (in ihrer Terminologie: managed capitalism) und den Staatskapitalismus französischer Prägung. Hancké et al. (2007b, S. 24–28) greifen diesen Vorschlag auf, spalten aus der Gruppe der CMEs aber eine weitere Unterkategorie ab, die sie durch die Kombination von in starken Verbänden organisierten Firmen und einem industriepolitisch aktiven Staat charakterisiert sehen und der sie Italien, Spanien und einige osteuropäische Länder zuordnen.Footnote 11 Amable (2003, Kap. 5) unterscheidet fünf Typen: den marktbasierten, den asiatischen, den sozialdemokratisch-nordischen, den mediterranen sowie den kontinentaleuropäischen Kapitalismus (Spalte 3).

Tab. 1 Länderskalen in der „Spielarten des Kapitalismus“-Forschung: 20 OECD-Länder, unterschiedliche Bezugszeiträume

Eine andere Möglichkeit besteht darin, nach dem Vorbild der Korporatismus-Skalen der siebziger bis neunziger Jahre zwei Idealtypen zu definieren und die vorgefundenen Realtypen auf einer Achse zwischen ihnen zu verorten. Wegen ihrer Eindimensionalität bleiben diese Skalen beispielsweise gegenüber Amables Typologisierung notwendig unterkomplex. Ihre Vorteile liegen indes darin, dass sie den Anschein der Möglichkeit eindeutiger kategorialer Zuordnung vermeiden und dass sie als metrische Skalen in der quantitativen Politikforschung einsetzbar sind. Tabelle 1 zeigt drei solche Messversuche: Hall und Gingerichs Index des Ausmaßes an strategischer Koordination in Ökonomien (Spalte 4), Hicks und Kenworthys Kooperationsindex (Spalte 5) sowie Höpners Skala des organisierten Kapitalismus (Spalte 6). Der Index von Hall u. Gingerich (2004) fasst Daten zu den Rechten von Minderheitsaktionären, zum Anteil des Streubesitzes an den Eigentümerstrukturen großer Unternehmen, zur Kapitalisierung der Aktienmärkte, zur Koordination im Bereich der Lohnaushandlung und zur Arbeitsmarktfluktuation zusammen. Hicks u. Kenworthys (dies. 1998) Index wurde aus Rohdaten zur Langfristigkeit der Zulieferer- und Abnehmerbeziehungen, zur Kooperation zwischen Unternehmen in Bereichen wie Ausbildung und Technologietransfer, zum Ausmaß an Gruppenarbeit sowie zur ressortübergreifenden Projektarbeit in Unternehmen gebildet. Höpners (2007) Index des organisierten Kapitalismus besteht aus vier Einzelkomponenten: Aktienanteile großer Unternehmen in Eigentümerschaft von öffentlichen Gebietskörperschaften und von anderen Großunternehmen (Unternehmensverflechtungen), Arbeitnehmermitbestimmung auf der Ebene der Leitungsorgane, Organisationsquoten der Arbeitgeberverbände sowie entsprechende Quoten der Gewerkschaften.

2.6 Effizienz und institutioneller Wandel

Aus einem Vergleich der für die deutsche und die amerikanische Ökonomie typischen Innovationsmuster leiten Hall u. Soskice (2001a, S. 36–44) die These ab, dass es kohärent liberalen und kohärent koordinierten Produktionsregimen in besonderem Maße gelingt, komparative Vorteile in der internationalen Arbeitsteilung zu erwirtschaften, indem sie systematisch bestimmte Innovationstypen unterstützen: Inkrementelle Innovationen (zum Beispiel: im Maschinenbau) im Fall der koordinierten Ökonomien, radikale Innovationen (zum Beispiel: in der Informations- und Biotechnologie) im Fall der liberalen Ökonomien (kritisch: Taylor 2004). Hall u. Gingerich (2004) untersuchen Zusammenhänge zwischen dem Grad an Koordiniertheit von Ökonomien und Wachstumsraten der siebziger, achtziger und neunziger Jahre. Unter statistischer Kontrolle für zahlreiche weitere Variablen zeigen sie einen U-Kurven-förmigen Zusammenhang dahingehend, dass kohärent koordinierte und kohärent liberale Ökonomien höhere Wachstumsraten erwirtschaften als Mischtypen. Kohärenz, so die These, erlaubt die wirtschaftliche Ausschöpfung der Potenziale institutioneller Komplementarität. Demnach erscheint vorteilhaft, sich an den äußersten Rändern der Hall-Gingerich-Skala (Tab. 1, Spalte 4) zu befinden.

Im Hinblick auf politische Implikationen der VoC-Perspektive ist entscheidend, dass aus den Überlegungen zur Überlegenheit kohärenter Produktionsregime eine These über langfristigen institutionellen Wandel fließt. Denn halten die Überlegungen zu den Wirkungen der Kohärenz, dann wäre zu erwarten, dass wirtschaftliche und politische Eliten auf ökonomische Schocks und auf Wettbewerbsverschärfungen mit Reformen zur Steigerung der Kohärenz reagieren – und damit im Ergebnis höchst verschieden: mit weiterer Liberalisierung im Fall der ohnehin bereits auf wirtschaftsliberalen Grundsätzen beruhenden LMEs, mit der Beseitigung von Störungen strategischer Koordination im Fall der CMEs. Im Ergebnis, so diese wegen ihres kruden Funktionalismus wohl umstrittenste These der VoC-Schule (eindrücklich: Streeck 2009), wäre anzunehmen, dass sich Produktionsregime im Lauf ihrer Evolution immer stärker den kohärenten Enden der Koordinations-Skala annähern: “[N]ations with a particular type of coordination in one sphere of the economy should tend to develop complementary practices in other spheres as well”, schreiben Hall u. Soskice (2001a, S. 17).

Diese weitreichende These kontrastiert in bemerkenswerter Weise mit den Prognosen führender Politökonomen des zwanzigsten Jahrhunderts über die langfristigen Entwicklungsdynamiken moderner Industriegesellschaften (ausführlich: Höpner et al. 2009, Abschn. 2). So unterschiedliche Autoren wie Keynes (1926), Schumpeter (1942/1950) und Olson (1982) gingen davon aus, den Wirtschaftssystemen liberaler Demokratien sei ein evolutionärer Trend der Entfernung von Marktprinzipien eigen. Das Gegenteil erwarteten evolutionäre Effizienztheorien: Der Markt, so diese Sicht, werde sich als effizientester Allokationsmechanismus langfristig durchsetzen (North u. Thomas 1973). „Spielarten des Kapitalismus“ prognostiziert hingegen keine konvergente, langfristige Entwicklungsdynamik, sondern eine über die Zeit erfolgende Verfestigung unterschiedlicher Entwicklungspfade, in der Terminologie von Soskice (1999, S. 123): “bifurcated convergence”.

Anzumerken bleibt, dass der Funktionalismus der bifurcated convergence-These auch von Autoren zurückgewiesen wurde, die der VoC-Schule im engeren Sinne zugerechnet werden können (siehe beispielsweise Hancké et al. 2007b, S. 12–14; vergleiche auch Höpner 2005; Howell 2003; Streeck 2005 und viele andere). Die These hat zwei hohe Plausibilitätshürden zu nehmen. Zum einen, dass die behaupteten Effizienzwirkungen der Kohärenz tatsächlich in spürbarer Stärke vorliegen. Und zum anderen, dass sich diese Wirkungen tatsächlich in Schubkräfte institutionellen Wandels übersetzen und stärker wirken als alle anderen vergleichbaren Schubkräfte, deren Mechanismen im Zentrum anderer Schulen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung stehen; dass Dynamiken institutionellen Wandels also tatsächlich zuvörderst wirtschaftlichen Effizienzgesichtspunkten folgen. “[T]he presence of one set of institutions cannot dictate the presence of a specific set of other institutions, even if the two are complementary”, stellt Hall (2005, S. 375) vier Jahre nach Erscheinen der “Introduction to Varieties of Capitalism” als Ergebnis einer Debatte zur institutionellen Komplementarität klar. In seinem Beitrag zum Band “Beyond Varieties of Capitalism” geht Hall (2007) von Liberalisierungsprozessen sowohl in CMEs als auch in LMEs aus und sieht den Mehrwert der VoC-Perspektive vor allem in der Spezifizierung unterschiedlicher, von den Ausprägungen der Produktionsregime determinierter Liberalisierungspfade.

Bereits auf diesem hohen Abstraktionsniveau also werden Hypothesen zu typischen Fragestellungen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung generiert. Wie ich nachfolgend zeigen werde, wurde das „Spielarten des Kapitalismus“-Konzept zudem zur Generierung politikfeldspezifischer Hypothesen zur Genese von Staatstätigkeit genutzt, die über eine strikte Mikrofundierung verfügen und über die funktionalistische Zuschreibung von Politikmustern zu vermeintlichen Effizienzwirkungen hinausgehen.

3 „Spielarten des Kapitalismus“ als Quelle von Hypothesen zur vergleichenden Staatstätigkeitsforschung

Inwiefern also fließen aus dem VoC-Konzept spezifische Hypothesen zur Erklärung von Staatstätigkeit? Die drei nachfolgend skizzierten Beispiele haben gemein, dass sie nach den policy-Wirkungen des Sets komplementärer Institutionen fragen, das auf die Ausbildung unternehmens- oder sektorspezifischen Humankapitals hinwirkt. Den Grundannahmen des Konzepts folgend, werden diese Institutionen nicht nur in der Sphäre der Humankapitalproduktion im engeren Sinne verortet, sondern auch in den „benachbarten“ Sphären der Produktionsregime, also namentlich des Wettbewerbsregimes, der Arbeitsbeziehungen und der Unternehmenskontrolle. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass alle drei Beispiele die Voraussetzungen der Humankapitalbildung in das Zentrum der Überlegungen rücken. Implizit erlangt diese Domäne, trotz der eigentlich heterarchischen Modellierung des Verhältnisses der Sphären zueinander, damit den Charakter einer Leitdomäne (vergleiche die Diskussion in Abschn. 2.3).

3.1 Die revisionistische Wohlfahrtsstaatsdebatte

Bereits in Abschn. 2.4 wurde am Beispiel des Kündigungsschutzes eine Hypothese zu den produktionsbezogenen Wirkungen CME-typischer Institutionen entwickelt. Der Kündigungsschutz, so lautete die Hypothese, leistet einen funktionalen Beitrag zur Bereitschaft von Unternehmen und Beschäftigten, in unternehmensspezifisches Humankapital zu investieren. Nehmen wir nun in leichter Modifikation des Modells an, das vom Unternehmen benötigte Humankapital sei zwar nicht gänzlich unternehmensspezifisch, aber sektorspezifisch. Es sei im Prinzip transferierbar, der hierfür in Frage kommende Pool an Unternehmen sei aber klein und folglich müsse im Fall von Kündigungen mit einer im Vergleich zu generellen Skills längeren Phase der Sucharbeitslosigkeit gerechnet werden. Warum sollten die Beschäftigten in die Ausbildung eines solchen, mit hohem Entwertungsrisiko behafteten Humankapitals investieren, wo ihnen doch prinzipiell auch Wege zur Ausbildung genereller Fertigkeiten offen stehen? Müsste eine Volkswirtschaft, die aufgrund ihrer Stellung in der internationalen Arbeitsteilung auf die Ausbildung sektorspezifischer Fertigkeiten angewiesen ist, nicht latent mit Problemen der Unterversorgung mit dem benötigten Humankapital konfrontiert sein, und müsste der Staat den betroffenen Beschäftigten, um die Bereitschaft in die entsprechenden Investitionen zu fördern, im Fall der Arbeitslosigkeit nicht statusbezogene, also vom letzten erzielten Arbeitsentgelt abhängige Lohnersatzleistungen garantieren? Und wenn das so wäre: Sollten dann nicht auch die Arbeitgeber des hochproduktiven Exportsektors ein Interesse an der Gewährung solcher Sozialleistungen haben?

Für diese Überlegungen gilt, was bereits in Abschn. 2.4 für die Hypothesen zum Kündigungsschutz herausgestellt wurde: Sie beruhen nicht auf Prämissen, die neoklassischen Annahmen grundsätzlich widersprechen würden. Es ist allein die systematische Berücksichtigung der institutionellen Komplementarität (der „Querwirkung“ von Institutionen), die die Perspektive auf Institutionen wie die statusbezogene Sozialpolitik grundsätzlich verändert. Mit weit reichenden Konsequenzen nicht nur für die neoklassische Beurteilung von Kündigungsschutz und Sozialpolitik, sondern auch für die politikwissenschaftliche Machtressourcen-Theorie, die den Wohlfahrtsstaat vor allem als Resultat der relativen Machtstellung der Arbeiterklasse interpretierte und seine „dekommodifizierende“ Wirkung betonte, was, im Sinne eines positiven Rückkopplungseffekts, den Wohlfahrtsstaat seinerseits als Machtressource der Arbeiterklasse erscheinen ließ (Esping-Andersen 1990; Korpi 1978). Die implizite Annahme lautete hierbei, die Arbeitgeber seien Gegner des Wohlfahrtsstaats, hätten seine Genese zu verhindern gesucht und würden ihn (wieder) abschaffen, würden ihre Machtressourcen das zulassen. Diese Annahme wird durch die „revisionistische Wohlfahrtsstaatsdebatte“ hinterfragt. Ist der moderne Wohlfahrtsstaat, so ließe sich provokant fragen, am Ende ein Instrument von und für Arbeitgeber?

Das skizzierte Argument wird auf zwei Arten geführt und mit Empirie unterfüttert. In der historisch-genetischen Variante untersuchen Autoren wie Mares (2000, 2001, 2003) und Swenson (2002, 2004) entscheidende Wendepunkte bei der Entstehung moderner Wohlfahrtsstaaten und zeigen auf, dass die Haltungen der Arbeitgeber nicht von monolithischer Gegnerschaft geprägt waren. Beide Autoren argumentieren mit großer Vorsicht und warnen vor der Fehlinterpretation, der Wohlfahrtsstaat sei funktional und genetisch als Arbeitgeberinstrument zur Generierung von Wettbewerbsvorteilen zu verstehen. Swenson geht es um sektoral begrenzte, klassenübergreifende Koalitionen als Grundlage wohlfahrtsstaatlicher Politik in den USA und Schweden (Swenson 2002) sowie, in einem parallelen Argument, um die machtpolitischen Determinanten der Zentralisation der schwedischen und dänischen Tarifsysteme (Swenson 1991). Mares argumentiert noch zurückhaltender und stellt am Beispiel Deutschlands heraus, dass dominante Fraktionen des Kapitals – ihren ursprünglichen, „vorstrategischen“ Präferenzen folgend – in den zwanziger Jahren tatsächlich zunächst gegen die Einführung der allgemeinen Arbeitslosenversicherung votierten. Um aber die aus ihrer Sicht schlechtesten Ergebnisse zu verhindern, ließen sich Unternehmen aus den hochproduktiven Exportsektoren auf Kompromisse ein und wurden so zu potenziellen Verbündeten der Reformflügel der Arbeiterbewegung. Die agenda setter und Architekten der Reformen, so stellt Mares heraus, waren keine Arbeitgeber, sondern Reformpolitiker, denen es gelang, auf Grundlage „nachstrategischer“, zweiter Präferenzen fragile Kompromisse zu schmieden und die sozioökonomischen Akteure auf diese zu verpflichten (Mares 2003).

Im Zentrum der revisionistischen Wohlfahrtsstaatsdebatte steht aber vor allem die mikrofundierte, wählerzentrierte Variante, die von Iversen und einigen Mitautoren vertreten wird (Estévez-Abe et al. 2001; Iversen 2005; Iversen u. Soskice 2001; Iversen u. Stephens 2008). Im Kern geht es dabei um eine Modifikation des Meltzer/Richard-Modells, das vom Einkommen des Wählers auf die Präferenz gegenüber staatlicher Sozialpolitik schließt und besagt, dass Wähler bis zum Medianeinkommen Befürworter von Umverteilung sind, Wähler oberhalb des Medianeinkommens hingegen Gegner (Meltzer u. Richard 1981).Footnote 12 Diese Interpretation, so der Einwand, modelliere Einstellungen gegenüber Umverteilung im Prinzip korrekt, ignoriere aber die Versicherungsfunktion des Wohlfahrtsstaats, genauer: seine Schutzfunktion in Bezug auf nur begrenzt über Unternehmensgrenzen hinweg transferierbares Humankapital. Beide Funktionen, Umverteilung und Absicherung, seien im Wohlfahrtsstaat untrennbar verknüpft, und ebenso wie die Verfügung über physisches Kapital die Präferenzen gegenüber Umverteilung determiniere, präge die Verfügung über Humankapital die Präferenzen gegenüber der Versicherungsfunktion des Wohlfahrtsstaats. Wähler mit unternehmens- oder sektorspezifischem Humankapital, so zeigen Iversen u. Soskice (2001, S. 883–886) anhand von Umfragedaten, weisen auch dann noch eine Präferenz für Umverteilung auf, wenn man es aufgrund ihrer Einkommenshöhe nicht mehr erwarten würde. Die Autoren schließen: In Produktionsregimen, deren komplementäre Institutionen auf die Ausbildung spezifischen Humankapitals hinwirken, konkurrieren die großen Parteien um einen Medianwähler, der „pro Sozialstaat“ ist – und entwickeln deshalb eine dezidierte wohlfahrtsstaatliche Programmatik. Im Ergebnis wird die institutionelle Ausgestaltung des Produktionsregimes über den Umweg des Grads an Humankapitalspezifität zum Prädiktor für wohlfahrtsstaatliche Politik.Footnote 13

3.2 Geschlechtersegregation

Das zweite Beispiel bezieht sich genau genommen nicht auf policies, sondern auf outcomes, die ihrerseits Problemkonstellationen herbeiführen, an denen sich Staatstätigkeit abarbeiten muss. Das Argument verknüpft auf verblüffende Weise Literaturstände, die auf den ersten Blick weit voneinander entfernt erscheinen: die Literaturen über Produktionsregime und Geschlechtersegregation. Die Vertreter des Arguments legen nahe, mit den Einsichten der „Spielarten des Kapitalismus“-Schule in die institutionellen Voraussetzungen der Bildung spezifischen Humankapitals sei auch ein Schlüssel zum Verständnis der im internationalen Vergleich variierenden Grade an horizontaler und vertikaler Geschlechtersegregation gefunden.

Die Protagonisten der „revisionistischen Wohlfahrtsstaatsdebatte“ stellen die Unsicherheit, die mit Investitionen in spezifisches Humankapital verbunden ist, in das Zentrum ihrer Argumentation (Abschn. 3.1). Diese Risiken indes, so Autoren wie Estévez-Abe (2006; siehe auch Estévez-Abe et al. 2001, S. 158–160), sind über die Geschlechter ungleich verteilt. Setzen hoch produktive Beschäftigungsverhältnisse Investitionen in spezifisches Humankapital voraus, werden Frauen die entsprechenden Investitionen scheuen, weil sie befürchten müssen, dass sich ihr Humankapital während Babypausen überdurchschnittlich entwertet. Ähnliches gilt für Arbeitgeber, die befürchten müssen, dass die betroffenen Beschäftigten den Arbeitsplatz zeitweilig verlassen und befristeter Ersatz nur schwer über den externen Arbeitsmarkt beschaffbar ist. Beides, so das Argument, senkt die Wahrscheinlichkeit, dass Investitionen weiblicher Beschäftigter in spezifisches Humankapital zustande kommen. Das aber bedeutet: Länder mit Institutionen, die in überdurchschnittlichem Maß auf die Formierung spezifischen Humankapitals hinwirken, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit ein überdurchschnittliches Maß an geschlechtsspezifischer Segregation der Arbeitsmärkte aufweisen. Damit bietet das Argument eine theoretische Erklärung für den im internationalen Vergleich hoch signifikanten Zusammenhang zwischen dem Stellenwert beruflicher, im Unternehmen vollzogener Ausbildung und dem Frauenanteil im verarbeitenden Gewerbe (Estévez-Abe 2006, S. 164).Footnote 14

Im selben argumentativen Fahrwasser zeigen verschiedene Autoren weitere, mitunter nicht minder überraschende Zusammenhänge zwischen Produktionsregime-Variablen einerseits und gender-bezogenen Ausprägungen andererseits. So argumentieren Iversen et al. (2005), es bestünde ein Kausalzusammenhang zwischen den Institutionen der Produktionsregime und Scheidungsraten: Je spezifischer das Humankapital hoch produktiver Arbeitsplätze, um so schlechter die Arbeitsmarktchancen nicht berufstätiger Frauen im Fall einer Ehescheidung und umso niedriger deshalb die tatsächlichen Scheidungsraten. Iversen u. Rosenbluth (2006) zeigen anhand von Umfragedaten, dass das Skill-Profil von Frauen (und damit, mittelbar, die institutionelle Ausgestaltung des Produktionsregimes) – unter statistischer Kontrolle für weitere Variablen – die Arbeitsteilung innerhalb von Partnerschaften beeinflusst: Je höher die Arbeitsmarktchancen von Frauen, umso stärker sei ihre Position bei der Aushandlung der innerfamiliären Arbeitsteilung, und umso symmetrischer seien deshalb Tätigkeiten wie Putzen und Kochen innerhalb der Familien über die Geschlechter verteilt.Footnote 15 Und Rosenbluth et al. (2002) sehen in derselben Argumentation einen potenziellen Beitrag zur Erklärung unterschiedlicher Fertilitätsraten entwickelter Industrieländer: Etwa seit den achtziger Jahren setzen hohe Geburtenraten ein hohes Maß an Vereinbarkeit von Familie und Beruf voraus (Castles 2003), und diese Vereinbarkeit sinkt mit dem Ausmaß an Spezifität des Humankapitals.Footnote 16

3.3 Makroökonomische Politik

Auch das letzte Beispiel setzt am Problem der Humankapitalspezifität an, zielt aber auf Erklärung eines gänzlich anderen Sachverhalts: der Fähigkeit von Regierungen, mit ihrer Wirtschaftspolitik makroökonomische Aggregate zu steuern (Carlin u. Soskice 2009; Soskice 2006, 2007). Makroökonomische Politik, so die aus den Grundüberlegungen der „Spielarten des Kapitalismus“-Schule abgeleitete These, funktioniere in CMEs anders als in LMEs. Genauer: Die Reaktion der Binnennachfrage auf ökonomische Schocks ist abhängig von der Spezifität des Humankapitals. Geht das Wirtschaftswachstum zurück und nehmen die Beschäftigungsrisiken zu, so das Argument, werden die Mittelschichten in Ländern mit überdurchschnittlicher Spezifität des Humankapitals mit verstärkter Spartätigkeit, also mit einem makroökonomisch suboptimalen prozyklischen Nachfrageverhalten reagieren. Setzt in dieser Situation die Regierung auf fiskalische Expansion, werden die eingesetzten Mittel in überdurchschnittlichem Ausmaß in die Sparquote statt in den Konsum fließen. Die Multiplikatoreffekte, auf die antizyklische Fiskalpolitik zielt, werden nicht oder zumindest doch nur auf schwachem Niveau einsetzen. Im Ergebnis sinkt die Effektivität antizyklischer Fiskalpolitik.Footnote 17

Hält dieser Grundgedanke, dann stellt die „Spielarten des Kapitalismus“-Schule ein Instrumentarium bereit, mit dem sich im alten Streit zwischen Neoklassikern und Keynesianern um die Frage, ob antizyklische Steuerungsversuche des Staats in Abschwungphasen sinnvoll sind, vermitteln lässt. Beide Schulen könnten gleichermaßen Recht und Unrecht haben, abhängig von den institutionellen Ausgestaltungen der Produktionsregime, in denen die makroökonomische Politik ihre Wirkungen entfalten soll. Hatte die Politikwissenschaft in der Vergangenheit produktive Erkenntnisse über die Steuerungsfähigkeit der Regierungen angesichts ökonomischer Schocks hervorgebracht (grundlegend Scharpf 1987), ließe sich mit dem skizzierten Instrumentarium möglicherweise der Wissensstand über die im internationalen Vergleich variierende Steuerbarkeit makroökonomischer Aggregate erweitern.

Strengere empirische Tests dieser Erwartungen stehen noch aus. Jedoch scheint die Beobachtung international vergleichend operierender Ökonomen, der zufolge makroökonomische Steuerung in den achtziger und neunziger Jahren in Großbritannien und den USA besser gelang als in Japan und Deutschland (vergleiche etwa Heine et al. 2006), bemerkenswert gut zu Soskices Überlegungen zu passen.Footnote 18 Möglicherweise könnte im selben Gedankengang auch eine potenzielle Erklärung für den Umstand liegen, dass im englischen Sprachraum seit längerem ein neo- bzw. postkeynesianischer Konsens im Entstehen begriffen scheint, nicht aber in Deutschland. Die Erfahrungen mit keynesianischer Makropolitik, so ließe sich als Hypothese formulieren, sind in den betroffenen Ländern unterschiedlich und übersetzen sich in Lehrmeinungen, die als allgemeine Theorien verabsolutiert werden, obwohl die doch eigentlich spezielle, von spezifischen Kontextfaktoren – den Institutionen der Produktionsregime – abhängige Theorien sein müssten.

4 Fazit: „Spielarten des Kapitalismus“ als Schule der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung

In diesem Beitrag habe ich „Spielarten des Kapitalismus“ als Schule der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung gewertet. Diese Wertung ist alles andere als selbstverständlich, ist VoC doch ursprünglich zur Aufdeckung anderer Zusammenhänge angetreten. Die institutionellen Grundlagen der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, die im Zentrum des Erkenntnisinteresses der Theorieschule stehen, scheinen auf den ersten Blick weit weg von typischen Problemen der Forschung über Staatstätigkeit. Tatsächlich aber, so habe ich gezeigt, haben sich die Elemente des Ansatzes – Unternehmenszentrierung, Unterscheidung von Koordinationsmodi und institutionellen Sphären, institutionelle Komplementarität, Unterscheidung unterschiedlicher Spielarten des Kapitalismus und Analyse der Implikationen für Wettbewerbskraft und institutionellen Wandel (Abschn. 2.1–2.6) – zu einer Perspektive verdichtet, aus der neuartige, nicht auf Kombinationen der Annahmen anderer Schulen rückführbare Hypothesen zum Regierungshandeln generiert wurden. Fruchtbare Diskussionen, die hieraus entstanden sind, habe ich beispielhaft anhand der Analyse wohlfahrtsstaatlicher Politik, der Geschlechtersegregation und der makroökonomischen Politik nachgezeichnet (Abschn. 3.1–3.3). Im Ergebnis schlage ich vor, die Unterscheidung von Schulen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung wie folgt zu erweitern:Footnote 19

  1. 1.

    Theorien der sozioökonomischen Determination

  2. 2.

    Machtressourcen-Theorien

  3. 3.

    Theorien der Parteiendifferenz

  4. 4.

    Politisch-institutionalistische Theorien

  5. 5.

    Theorien der Internationalisierung und der De-Industrialisierung

  6. 6.

    Spielarten des Kapitalismus

Was bedeutet diese Erweiterung für die vergleichende Staatstätigkeitsforschung? Sie leitet zum einen zur Berücksichtigung von VoC-spezifischen Hypothesen im konkreten Forschungsprozess an. Bestätigen sich die aus VoC abgeleiteten Hypothesen im qualitativen oder quantitativen Test, kann der spezifische Erklärungswert der Theorieschule additiv zu komplementären Befunden interpretiert werden. So mag die Berücksichtigung von VoC beispielsweise bei der Analyse von Sozialquoten den Anteil erklärter Varianz an der Gesamtvarianz erhöhen, ohne dass dies direkte Konsequenzen für die Befunde zur Erklärungskraft politisch-institutioneller oder parteipolitischer Variablen nach sich zöge. Denkbar ist aber auch, dass die Aufnahme von VoC-Hypothesen in das Analyseraster zur Verkleinerung des Erklärungswerts konkurrierender Hypothesen führt. So mögen Anteile erklärter Varianz, die früher der Erklärungskraft von Klassentheorien zugeschrieben wurden, nunmehr auf die Erklärungskraft der Humankapitalproduktions-Theorie entfallen, ohne dass sich der Anteil erklärter Varianz an der Gesamtvarianz erhöhen würde. Im Ergebnis würde die Berücksichtigung der „Spielarten des Kapitalismus“-Schule die Erklärungskraft konkurrierender Schulen einem härteren empirischen Test aussetzen.Footnote 20 Diese Überlegungen gelten unabhängig davon, ob mit quantitativ-ländervergleichenden Tests, mit qualitativen Vergleichen kleiner Fallzahl oder mit Fallstudien operiert wird.

Die Implikationen greifen aber tiefer. Die im oben beschriebenen Sinne additive Behandlung der neu gewonnen Befunde ändern nichts daran, dass – technisch gesprochen – das Ziel der vergleichenden Analyse in der Schätzung von über Länder- und Sequenzgrenzen hinweg konstanten Regressionskoeffizienten und deren Zuordnung zu konkurrierenden, möglicherweise komplementären Erklärungsansätzen besteht.Footnote 21 „Spielarten des Kapitalismus“ als Schule der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung ernst zu nehmen, impliziert aber, der Möglichkeit Rechnung zu tragen, dass die in den Koeffizienten zum Ausdruck kommende Konstanz aufzudeckender Kausalität in der Realität nicht existiert. Wenn die Funktionalität beispielsweise des Kündigungsschutzes systematisch zwischen unterschiedlichen Spielarten des Kapitalismus variiert, warum sollen dann die hinter der Institution stehenden politischen Dynamiken, nach deren Offenlegung die vergleichende Staatstätigkeitsforschung strebt, über Ländergrenzen hinweg konstant sein?

In diesem Sinne leitet VoC zu einer grundsätzlicheren Überprüfung von Grundprämissen der Staatstätigkeitsforschung an, die beispielsweise dadurch erfolgen kann, dass Kausalitäten zunächst ländergruppenspezifisch zugeschrieben werden und die Verallgemeinerung über Länder- oder Ländergruppengrenzen hinweg erst dann erfolgt, wenn sich erweist, dass sich die aufgedeckten Kausalitäten nicht oder nur in begrenztem Umfang unterscheiden. Da aber die quantitative Forschung wegen der begrenzten Anzahl der auf unterschiedliche Spielarten des Kapitalismus entfallenden Länder – etwa die bei Amable unterschiedenen fünf Ländergruppen (siehe Abschn. 2.5) – und der damit einhergehenden Reduktion statistischer Freiheitsgrade an Grenzen stoßen würde, spricht die Wertung von „Spielarten des Kapitalismus“ als Schule der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung für eine vermehrte Kopplung qualitativer und quantitativer Forschungsstrategien. Möglicherweise trägt VoC in diesem Sinne dazu bei, dass sich Verfechter beider Forschungsstrategien, die sich in der Forschungspraxis häufig leider allzu wenig zu sagen haben, in der Staatstätigkeitsforschung künftig vermehrt aufeinander beziehen.