Klinische Präsentation und Diagnostik

Eine 71-jährige Frau wurde vom behandelnden Hauszahnarzt der Klinik und Poliklinik für Mund‑, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Bonn zugewiesen.

Die Patientin berichtete über eine präaurikuläre Schwellung, einhergehend mit einer zunehmend eingeschränkten Mundöffnung und Mittellinienverschiebung des Unterkiefers nach rechts.

In der klinischen Untersuchung zeigte sich eine palpatorisch schmerzhafte und derbe Schwellung präaurikulär links. Weiterhin waren bei der intraoralen Untersuchung eine eingeschränkte Mundöffnung von 15 mm Schneidekantendistanz, eine Mittellinienverschiebung des Unterkiefers nach rechts und Hyperbalancen im Bereich der Molaren im 1. und 2. Quadranten festzustellen. Die Patientin berichtete über eine Beschwerdeprogredienz in den vergangenen Monaten.

Allgemeinanamnestisch umfasste die Krankengeschichte der Patientin eine Thrombophilie mit stattgehabter tiefer Beinvenenthrombose. Vorausgegangene Traumata wurden verneint.

In der radiologischen Basisdiagnostik mittels Orthopantomogramm (OPG) und Kiefergelenkaufnahme (TM1) zeigte sich ein deformiertes Kiefergelenk links im Sinne einer Entrundung (Abb. 1). Die weiterführende Diagnostik mittels Magnetresonanztomographie (MRT) bestätigte den Befund des OPG und der TM1-Aufnahme. Zusätzlich fielen ein Kiefergelenkerguss, eine Verbreiterung der Kiefergelenkpfanne und zahlreiche metaplastisch verknöcherte, freie Gelenkkörper auf (Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Das Orthopantomogramm (a) zeigt eine Verbreiterung des linken Kiefergelenks und die ergänzend angefertigte Kiefergelenkaufnahme (be) mit geschlossenem und geöffnetem Mund lässt eine Deformation des linken Kiefergelenks erkennen

Abb. 2
figure 2

Im Magnetresonanztomogramm sind eine Deformität des linken Kiefergelenks, ein erweiterter Gelenkspalt und zudem zahlreiche freie Gelenkkörper zu erkennen. a Sagittale Ansicht, b koronare Ansicht

Chirurgisches Management und Histologie

Aufgrund der progredienten Beschwerdesymptomatik und zur histologischen Diagnosesicherung wurde bei der Patientin die Indikation zur operativen Entfernung der freien Gelenkkörper und Arthroplastik gestellt.

Als Zugangsweg wurde eine präaurikuläre Schnittführung gewählt und es erfolgte eine stumpfe, schonende Präparation unter Monitoring des N. facialis bis zur Kiefergelenkkapsel. Diese wurde scharf durchtrennt. Bereits bei Eröffnung des oberen Gelenkspalts zeigten sich zahlreiche freie Gelenkkörper (Abb. 3). Der Diskus und der Bandapparat waren intakt.

Abb. 3
figure 3

Intraoperative Darstellung des linken Kiefergelenks mitsamt der freien Gelenkkörper über einen präaurikulären Zugang

Nach dem Entfernen der freien Gelenkkörper (Abb. 4) wurde eine Arthroplastik zur Kondylenglättung durchgeführt.

Abb. 4
figure 4

Freie Gelenkkörper nach Entfernen aus dem linken Kiefergelenk

Die histologische Aufarbeitung der freien Gelenkkörper zeigte kompaktes und trabekuläres Knochengewebe mit zellarmen Markräumen. Umgebend war lobulär aufgebauter Knorpel mit reaktiven Chondrozyten in brutkapselähnlicher Formation zu erkennen.

Wie lautet Ihre Diagnose?

Es wurde die Diagnose einer Osteochondrosis dissecans (OCD) des Kiefergelenks gestellt.

Klinischer Verlauf

Unmittelbar postoperativ zeigte sich bereits keine Mittellinienverschiebung mehr sowie eine Rückkehr in die Normokklusion und eine deutliche Beschwerderegredienz.

Diskussion

Die OCD des Kiefergelenks ist mit lediglich sechs histologisch gesicherten und publizierten Fällen eine seltene Erkrankung [1,2,3,4,5]. Osteochondrosen zählen zu den Chondropathien, betreffen typischerweise die größeren Gelenke des Körpers und sind durch eine aseptische Nekrose des subchondralen Knochens gekennzeichnet [6]. Sie gehen mit zahlreichen freien Gelenkkörpern einher, die sich von Defekten im Bereich der Kiefergelenkköpfchen gelöst haben [2].

Zu den klinischen Leitsymptomen zählen die präaurikuläre Schwellung, Kiefergelenkbeschwerden und Mundöffnungseinschränkungen.

Die Ätiologie der OCD ist bislang nicht abschließend geklärt. Als Einflussfaktoren werden v. a. Traumata des Kiefergelenks, Entzündungen, hämatologische Grunderkrankungen, avaskuläre Nekrosen oder auch Durchblutungsstörungen diskutiert [2, 5,6,7].

Bezüglich der Pathogenese werden verschiedene Stadien beschrieben: Die OCD beginnt durch eine intraossäre subchondrale Osteopenie, gefolgt von einem intraossären Ödem des subchondralen Knochens, das zu Mikrofrakturen mit sklerotischem Randsaum führt. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer Abstoßung der Fragmente und somit zur Bildung freier Gelenkkörper [6].

Mögliche Differenzialdiagnosen, die zur Bildung freier Gelenkkörper führen, sind intrakapsuläre Frakturen, die rheumatoide Arthritis und die synoviale Chondromatose [2]. Besonders die Abgrenzung von der synovialen Chondromatose, einer ebenfalls seltenen Erkrankung des Kiefergelenks, ist eine klinische und radiologische Herausforderung. Lediglich durch histologische Aufarbeitung der Gelenkkörper kann die Diagnose abschließend gestellt werden [5]. Der Hauptunterschied liegt im Aufbau der freien Gelenkkörper, die bei der synovialen Chondromatose auch aus hyalinem Knorpel mit hypertrophen Chondrozyten bestehen, im Gegensatz zur OCD jedoch ohne Knochengewebe [8].

Diagnose: Osteochondrosis dissecans des Kiefergelenks

Therapeutisch gibt es aufgrund der Seltenheit kein einheitliches Vorgehen. Die Bandbreite der Therapien reicht von konservativen Konzepten bis hin zu chirurgischen Vorgehensweisen.

Die Indikation zu einer chirurgischen Therapie sollte insbesondere bei symptomatischen Patienten oder unklarer Dignität im Sinne einer operativen Entfernung mit histologischer Aufarbeitung und Modellierung der veränderten knöchernen Strukturen des Kiefergelenks gestellt werden.

Fazit für die Praxis

  • Die Osteochondrosis dissecans des Kiefergelenks ist eine seltene Erkrankung der Kiefergelenke.

  • Die Therapieoptionen reichen von konservativen Behandlungsmöglichkeiten bis hin zu offenen kiefergelenkchirurgischen Eingriffen.

  • Eine operative Therapie sollte insbesondere bei Patienten mit ausgeprägter klinischer Symptomatik erwogen werden.

  • Die Abgrenzung von der synovialen Chondromatose ist eine klinische und diagnostische Herausforderung und lediglich durch eine histologische Untersuchung des entnommenen Gewebes abschließend möglich.