Chronisches Koronarsyndrom

Das Jahr 2020 wird auch kardiologisch ein erinnerungswürdiges Jahr bleiben. Der Zusammenhang zwischen COVID-19 und chronischem (CCS) bzw. akutem Koronarsyndrom (ACS) hat uns bereits seit Beginn der Pandemie beschäftigt. Schwierig gestaltet sich nach wie vor die Diagnostik eines CCS in Zeiten knapper Ressourcen durch die Pandemie. Hier wird in den gegenwärtigen ESC(European Society of Cardiology)-Leitlinien [1] die ärztliche Entscheidungsfreiheit, angepasst an die lokale COVID-Infektionslage, in den Vordergrund gestellt: Wo immer möglich, sollte die verfügbare und klinisch passende Diagnostik eingesetzt werden (cave: Stressuntersuchungen mit engem Patienten-Personal-Kontakt) mit der Einschränkung, dass Patienten mit vermuteter ausgeprägter Ischämie bevorzugt untersucht werden sollten. Der Patient mit diagnostiziertem CCS braucht eine umfassende, nichtmedikamentöse und medikamentöse Begleittherapie, die in den entsprechenden Leitlinien aus dem Jahr 2019 ausführlich dargelegt wird und an das ischämische Risiko des Patienten angepasst ist. Die Qual der Wahl, ob rein medikamentös, interventionell oder chirurgisch behandelt werden muss, wird beim CCS allerdings nicht erst seit COVID-19 kontrovers diskutiert. In 2020 haben uns die Ergebnisse der ISCHEMIA-Studie [2], die den prognostischen Nutzen der invasiven Diagnostik mit folgender Revaskularisation gegenüber einer alleinigen optimalen medikamentösen Therapie (OMT) bei Patienten mit stabiler koronarer Herzerkrankung (KHK) untersucht hat, weiter beschäftigt [2]. Insgesamt wurden in der 2020 im NEJM publizierten Studie mehr als 5000 Patienten eingeschlossen und 1:1 randomisiert. Primärer Endpunkt der ISCHEMIA-Studie war die Kombination aus kardialem Tod, Myokardinfarkt, Hospitalisierung infolge instabiler Angina pectoris, Herzinsuffizienz oder Reanimation nach Herzstillstand. Als sekundäre Endpunkte wurden die Dauer von der Randomisierung bis zum Auftreten von kardialen Ereignissen (kardiovaskulärer Tod und Myokardinfarkt) und eine Verbesserung der Lebensqualität definiert. Nach einem medianen Beobachtungszeitraum von 3,3 Jahren konnte keine Prognoseverbesserung durch das invasive Vorgehen gegenüber einem konservativen Vorgehen nachgewiesen werden.

In der Gruppe der Patienten mit einer invasiven Strategie vs. alleinige OMT konnte eine Verbesserung der Lebensqualität und Reduktion der Angina-pectoris-Symptomatik (Risikoreduktion 30 %, NNT [„number needed to treat“] = 3) nachgewiesen werden. Eine Verbesserung der Symptomatik konnte v. a. bei hochsymptomatischen Patienten mit hoher Anginafrequenz nachgewiesen werden (mehrmals wöchentlich oder mehrmals im Monat).

Spezifische Aspekte der ISCHEMIA-Studie beschäftigen uns weiterhin noch: So wurden Patienten mit relevanter Hauptstammstenose, einem akuten Myokardinfarkt innerhalb der letzten 2 Monate vor Studieneinschluss, einer Herzinsuffizienz mit reduzierter LV(linksventrikulär)-Funktion oder starker Angina pectoris trotz OMT nicht eingeschlossen. Hier kam der Koronar-CT (Computertomographie) eine bedeutende Rolle zu: Alle Patienten mit deutlichem Ischämienachweis (in der Studie eigentlich definiert als > 10 % des linken Ventrikels, jedoch 25 % nur Belastungs-EKG [Elektrokardiogramm]) erhielten vor Einschluss eine CT zum Ausschluss einer Hauptstammstenose! Dies bedeutet in der klinischen Praxis, dass wir bei Patienten mit Ischämienachweis zumindest eine Hauptstammstenose ausschließen müssen.

Die invasive Strategie verbesserte die Lebensqualität und reduzierte die Angina-pectoris-Symptomatik

Weiterer Aspekte der Studie wie die hohe Cross-over-Rate (insgesamt 20 % der Patienten, die in die invasive Gruppe randomisiert wurden, erhielten keine PCI [perkutane koronare Intervention] oder Bypassoperation; 21 % der konservativ behandelten Patienten erhielten im Verlauf eine invasive Revaskularisation) wurden bereits an anderer Stelle ausführlich diskutiert.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die detaillierte Analyse der Endpunkte: Myokardinfarkte waren der relevante Treiber der Endpunkte innerhalb des primären und sekundären Endpunkts. Die unterschiedliche Definition von Myokardinfarkt anhand von Biomarkern innerhalb der ISCHEMIA-Studie hat relevanten Einfluss auf die Ereignisrate und die Endpunkte. So führte die primäre Myokardinfarktdefinition (basierend auf CK[Kreatinkinase]-MB[Muscle-Brain type]-Konzentrationen) zu vergleichbaren primären und sekundären Endpunkten zwischen beiden Therapiegruppen, während die sekundäre Infarktdefinition (basierend auf Troponin-Konzentrationen) zu mehr Ereignissen in der invasiven Therapiegruppe führte [3]. Dagegen steht die Beobachtung, dass im Gegensatz zu prozeduralen Infarkten Typ-1-Myokardinfarkte eine klare Korrelation mit einem erhöhten Risiko zu versterben hatten und diese signifikant reduziert waren in der invasiven Gruppe im Vergleich zur medikamentösen Therapie.

Zusammenfassend ließ sich im Kollektiv der ISCHEMIA-Studie anhand des primären Endpunkts kein prognostischer Vorteil der Myokardrevaskularisation nachweisen. Es zeigte sich jedoch eine signifikante und klinisch bedeutsame Verminderung spontaner Myokardinfarktinfarkte (MI) im Langzeitverlauf, die mit einer erhöhten Rate periinterventioneller MI erkauft wurde. Während die periinterventionellen MI mit einer nur geringen und statistisch nicht signifikanten Erhöhung der Sterblichkeit einhergingen, war die Sterblichkeit nach spontanen Infarkten erheblich und statistisch signifikant erhöht. Das Risikoprofil und die Zahl der in die ISCHEMIA-Studie eingeschlossenen Patienten sowie die Dauer der Nachverfolgung reichen nicht aus, um zu zeigen, dass das verminderte Risikos von spontanen Infarkten im Arm mit Myokardrevaskularisation im Vergleich zum konservativen Arm zu einem bessern Überleben führt. Zusätzlich zur Verminderung des postinterventionellen Myokardinfarktrisikos ergab die angestrebte Myokardrevaskularisation eine statistisch signifikante und klinisch bedeutsame Verminderung der Angina pectoris sowie eine Verbesserung der Lebensqualität im Vergleich zur konservativen Behandlungsstrategie. Die Bedeutung einer optimalen medikamentösen Behandlung des chronischen Koronarsyndroms unabhängig von der Revaskularisationstherapie bleibt hiervon unberührt.

Akutes Koronarsyndrom

Größere Studien, die zu einem Paradigmenwechsel auf dem Gebiet der akuten Koronarsyndrome (ACS) geführt hätten, wurden im Jahr 2020 nicht publiziert. Dennoch gab es eine Reihe neuer Erkenntnisse, unter anderem auch aus Subanalysen zuvor publizierter randomisierter Studien. Ein Meilenstein war die Präsentation der neuen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) zu ACS ohne ST-Streckenhebung (NSTE-ACS) [4]. Wichtige Publikationen aus Jahr 2020 führen die dort vorgestellten Konzepte weiter.

Diagnostik, Behandlungsstrategie und Risikostratifizierung

Diagnostik.

Nach Ausschluss von ST-Streckenhebungen ist die Bestimmung des hochsensitiven Troponins von zentraler Bedeutung für die Diagnostik des ACS. Neben dem etablierten 0/1-h-Algorithmus empfiehlt die neue Leitlinie erstmals auch gleichberechtigt einen 0/2-h-Algorithmus [4].

Behandlungsstrategie.

Für Patienten mit akutem Koronarsyndrom ohne ST-Streckenhebung wird bei mittlerem bis hohem Risiko weiterhin die invasive Behandlungsstrategie favorisiert [4]. Dies wird durch Arbeiten gestützt, die 2020 neu erschienen sind. So konnte die SENIOR-NSTEMI-Studie zeigen, dass auch bei Patienten mit einem Alter von ≥ 80 Jahren die invasive Strategie mit einem Überlebensvorteil verbunden ist [5]. Auch zeigte eine neuere Metaanalyse, dass bei Patienten mit ACS die perkutane Koronarintervention (PCI) das Risiko von Tod und Myokardinfarkt reduziert [6].

Nur bei Patienten mit niedrigem Risiko ist ein „selektiv-invasives“ Vorgehen angezeigt [4]. Dabei wird einer möglichen invasiven Koronarangiographie entweder ein bildgebender Funktionstest oder eine kardiale Computertomographie-Angiographie (CCTA) vorgeschaltet. Analog zu der bereits 2019 erschienenen Leitlinie zu chronischen Koronarsyndromen wertet die neue Leitlinie die Bedeutung der CCTA auf. Dies wird durch die 2020 erschienene publizierte VERDICT(Very Early Versus Deferred Invasive Evaluation Using Computerized Tomography in Patients With Acute Coronary Syndromes)-Studie gestützt, bei der in einer ergänzenden Beobachtungsstudie eine verblindete CCTA durchgeführt wurde [7]. In dieser Studie hatte die CCTA eine hohe diagnostische Genauigkeit bezüglich des Ausschlusses einer klinisch relevanten koronaren Herzkrankheit bei Patienten mit NSTE-ACS.

Nur bei Patienten mit niedrigem Risiko ist ein „selektiv-invasives“ Vorgehen angezeigt

Eine weitere Ausnahme von der frühinvasiven Strategie stellen hämodynamisch stabile Patienten ohne ST-Streckenhebung nach präklinischer Reanimation wegen Kammerflimmerns dar. Hier ist eine verzögerte Angiographie anstelle der sofortigen Angiographie angeraten. Dies wird durch das 2020 publizierte 1‑Jahres-Ergebnis der COACT(Coronary Angiography after Cardiac Arrest)-Studie gestützt, das zeigt, dass eine frühe Koronarangiographie keine Vorteile bringt gegenüber einer verzögerten Angiographie nach neurologischer Erholung der Patienten [8].

Risikostratifizierung.

Bei Patienten mit NSTE-ACS und hohem Risiko sollten die Patienten weiterhin innerhalb von 24 h einer invasiven Diagnostik zugeführt werden. Kriterien für ein solches hohes Risiko sind die Diagnose eines Myokardinfarkts ohne ST-Streckenhebung (NSTEMI), dynamische oder vermutlich neue ST-/T-Segment-Veränderungen vereinbar mit Myokardischämie, transiente ST-Streckenhebungen sowie ein GRACE(Global Registry of Acute Coronary Events)-Risk-Score von über 140 [4]. Durch eine 2020 erschienene Arbeit wird die Bedeutung des GRACE-Risk-Scores relativiert. Diese Arbeit verglich randomisiert die routinemäßige Verwendung des GRACE-Risk-Scores mit klinischer Einschätzung ohne Score-Berechnung [9]. Mit 2318 eingeschlossenen Patienten ergab sich hierbei kein Vorteil der routinemäßigen Verwendung des GRACE-Risk-Scores in Bezug auf den primären kombinierten Endpunkt von Tod und Myokardinfarkt im 1‑Jahres-Verlauf.

Myokardrevaskularisation

Komplette Revaskularisation.

Bei Patienten mit NSTE-ACS oder Myokardinfarkt mit ST-Streckenhebung (STEMI) und Mehrgefäßerkrankung sollte eine komplette Revaskularisation erfolgen. Hierzu sind bereits in den letzten Jahren mehrere Studien erschienen, zuletzt die große COMPLETE(Complete versus Culprit-Only Revascularization Strategies to Treat Multivessel Disease after Early PCI for STEMI)-Studie. Diese Studien wurden 2020 in 2 Metaanalysen zusammengefasst, die beide zeigen, dass bei Patienten mit STEMI und Mehrgefäßerkrankung die komplette Revaskularisation im Vergleich zur alleinigen PCI der Culprit-Läsion die kardiovaskuläre Sterblichkeit sowie das Risiko von Myokardinfarkt und erneuter Revaskularisation vermindert [10, 11]. Eine dieser Metaanalysen untersuchte auch die mögliche Rolle von funktionellen Messungen mittels „fractional flow reserve“ (FFR) zur Auswahl der Interventionsziele. Diese Metaanalyse fand keine Heterogenität im Behandlungseffekt der kompletten Revaskularisation zwischen Studien mit und ohne FFR-Führung. Dieser Befund muss jedoch vorsichtig interpretiert werden, da bisher kein direkter Vergleich zwischen FFR- und rein angiographisch geführter PCI im akuten Myokardinfarkt vorliegt. Eine Subanalyse der COMPLETE-Studie ergab, dass sich der Vorteil der kompletten Revaskularisation v. a. aus der Behandlung von Stenosen mit einer Lumeneinengung von ≥ 60 % bei der quantitativen Koronarangiographie ergab [12]. Die neue ESC-Leitlinie zur NSTE-ACS empfiehlt nun auch bei Patienten mit NSTE-ACS eine komplette Revaskularisation, die im Rahmen des primären Eingriffs oder kurzfristig im Intervall durchgeführt werden kann.

Kardiogener Schock.

Eine Ausnahme von der Empfehlung zur frühen kompletten Revaskularisation bei ACS stellen die Patienten mit kardiogenem Schock bei akutem Myokardinfarkt dar. Dies hatte bereits die CULPRIT-SHOCK(Culprit Lesion Only PCI versus Multivessel PCI in Cardiogenic Shock)-Studie gezeigt, und die darauf basierenden Empfehlungen sind bereits in früheren Leitlinien verankert. Eine 2020 publizierte Registerstudie mit 64.301 Patienten bestärkt dies noch einmal, indem sie zeigt, dass die Mehrgefäß-PCI im kardiogenen Schock bei Infarkt mit einem ungünstigen Ergebnis für die Patienten einhergeht [13].

Stent-Design.

Bezüglich des Stent-Designs gab es die Vermutung, dass bei Patienten mit ACS Drug-eluting-Stents (DES) mit bioresorbierbarem Polymer DES mit permanentem Polymer überlegen sein könnten. Diese Frage wurde in der 2020 publizierten HOST-REDUCE-POLYTECH-ACS(Harmonizing Optimal Strategy for Treatment of coronary artery diseases – comparison of REDUCtion of prasugrEl dose or POLYmer TECHnology in ACS patients)-Studie untersucht [14]. Hierbei ergab sich, dass im 1‑Jahres-Verlauf der primäre Endpunkt von Tod, Myokardinfarkt und wiederholter Revaskularisation zwischen beiden Stenttypen nicht signifikant unterschiedlich war. Für die „target vessel failure“ (kardialer Tod, Zielgefäßmyokardinfarkt und Zielgefäßrevaskularisation) ergaben die DES mit permanentem Polymer sogar ein gering, aber signifikant besseres Ergebnis als DES mit bioresorbierbarem Polymer. Insgesamt fand sich somit kein Argument für die präferenzielle Verwendung von DES mit bioresorbierbarem Polymer bei Patienten mit ACS.

Antithrombotische Therapie

Vorbehandlung.

Auf der Basis von Studien und Metaanalysen, die bereits in den vergangenen Jahren erschienen sind, gibt die neue ESC-Leitlinie zu NSTE-ACS erstmals die generelle Empfehlung, bei Patienten mit NSTE-ACS und unbekannter Koronaranatomie auf eine Vorbehandlung mit einem P2Y12-Inhibitor zu verzichten, wenn eine frühinvasive Behandlung geplant ist. Diese Empfehlung wird durch eine 2020 erschienene Subanalyse der ISAR-REACT(Intracoronary Stenting and Antithrombotic Regimen Rapid Early Action for Coronary Treatment)-5-Studie gestützt. Diese konnte zeigen, dass bei Patienten mit NSTE-ACS eine Vorbehandlung mit Ticagrelor im Vergleich zur Gabe von Prasugrel im Katheterlabor keinen erkennbaren Vorteil in Bezug auf die 30-Tage-Inzidenz von Tod, Myokardinfarkt und Schlaganfall bringt [15].

Wahl des P2Y12-Inhibitors.

Eine Reihe von Studien, die 2020 erschienen sind, beschäftigt sich mit der Frage der optimalen Wahl des P2Y12-Inhibitors bei Patienten mit NSTE-ACS. Aufgrund der ISAR-REACT-5-Studie sieht die neue Leitlinie hier erstmals eine Präferenz für Prasugrel im Vergleich zu Ticagrelor bei Patienten, die mit PCI behandelt werden. Dies wird durch eine Subanalyse der ISAR-REACT-5-Studie für das NSTE-ACS-Kollektiv gestützt [12]. Vergleichbare Ergebnisse wurden auch für die präspezifizierte Subgruppe der Patienten mit STEMI gefunden [16].

Zwei 2020 erschienene Kohortenstudien, eine aus Kanada, eine aus Korea, beschäftigen sich mit dem Vergleich zwischen Ticagrelor und Clopidogrel bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom, die sich einer PCI unterziehen. In der kanadischen Studie war die Verwendung von Ticagrelor im Vergleich zu Clopidogrel nicht mit einer statistisch signifikanten Reduktion des kombinierten Endpunkts von Gesamtsterblichkeit, Hospitalisation wegen ACS, ungeplanter koronarer Revaskularisation und Stentthrombose im 1‑Jahres-Verlauf verbunden, es fand sich jedoch eine höhere Inzidenz von Blutungskomplikationen und Dyspnoe unter Ticagrelor [17]. Auch in der koreanischen Studie war nach „propensity score matching“ der Nettoeffekt bezüglich ischämischer und hämorrhagischer Ereignisse nach 12 Monaten neutral [18]. Beide Studien müssen aufgrund der Limitationen von Kohortenstudien vorsichtig interpretiert werden.

Von besonderem Interesse sind ältere Patienten, bei denen das Blutungsrisiko besonders hoch ist. Hierzu wurde die randomisierte POPular-AGE-Studie 2020 publiziert [19]. In dieser Studie wurden Patienten mit einem Mindestalter von 70 Jahren zusätzlich zur Standardtherapie randomisiert entweder einer antithrombozytären Therapie mit Clopidogrel oder einem der potenteren P2Y12-Inhibitoren, Ticagrelor (zu 95 %) oder Prasugrel, zugeteilt. Im 1‑Jahres-Verlauf hatten die Patienten des Clopidogrel-Arms weniger Blutungskomplikationen ohne eine Zunahme des kombinierten Endpunkts von Gesamtsterblichkeit, Myokardinfarkt, Schlaganfall und Blutung. Die Ergebnisse der POPular-AGE-Studie werden durch eine Subanalyse des SWEDEHEART(Swedish Web-system for Enhancement and Development of Evidence-based care in Heart disease Evaluated According to Recommended Therapies)-Registers bestätigt [20]. In dieser Analyse war Ticagrelor bei alten Patienten (≥80 Jahre) im Vergleich zu Clopidogrel mit einem höheren Risiko von Blutungen und einer erhöhten Sterblichkeit verbunden. Auch eine Subanalyse der ISAR-REACT-5-Studie spricht für eine abgeschwächte P2Y12-Inhibition bei älteren Patienten [21]. In dieser Studie wurde die Dosis von Prasugrel bei den ≥ 75-Jährigen auf 5 mg reduziert. Im Vergleich zur vollen Dosis von Ticagrelor ergaben sich keine erkennbare Einschränkung der Wirksamkeit, jedoch ein Trend zugunsten von weniger schweren Blutungen sowie eine signifikante Reduktion der Gesamtblutungsrate.

Deeskalation.

Während sich ältere Studien vorwiegend mit der Intensivierung der antithrombozytären Therapie beschäftigen, steht in jüngster Zeit das Konzept der Deeskalation mit Abschwächung der Thrombozyteninhibition im Fokus des Interesses. Schon die ESC-Leitlinie zur Myokardrevaskularisation hatte die Deeskalation der antithrombozytären Therapie als Option v. a. für Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko erwähnt. Diese Empfehlung wird in der neuen Leitlinie zu NSTE-ACS aufgegriffen. Unterstützend erschien hierzu 2020 die randomisierte TICO(Ticagrelor Monotherapy After 3 Months in the Patients Treated With New Generation Sirolimus-eluting Stent for Acute Coronary Syndrome)-Studie [22]. In dieser Studie wurden Patienten mit akutem Koronarsyndrom, die initial mit Ticagrelor und Azetylsalizylsäure (ASS) behandelt wurden, nach 3 Monaten auf eine Fortführung der dualen antithrombozytären Therapie (DAPT) oder eine Ticagrelor-Monotherapie randomisiert. Der Wechsel auf die Ticagrelor-Monotherapie erbrachte eine geringe, aber statistisch signifikante Reduktion des kombinierten Endpunkts von Blutung und kardiovaskulären Ereignissen nach 1 Jahr. Da die Studie vorzeitig abgebrochen wurde, nachdem 3056 Patienten eingeschlossen waren, sind die Ergebnisse vorsichtig zu interpretieren. Konsistente Ergebnisse wurden auch in der TWILIGHT-ACS-Subanalyse der TWILIGHT(Ticagrelor With Aspirin or Alone in High-Risk Patients After Coronary Intervention)-Studie erzielt [23]. Hier erbrachte das Absetzen von ASS nach 3 Monaten DAPT mit Ticagrelor eine signifikante und klinisch relevante Reduktion der Blutungsereignisse, ohne das ischämische Risiko zu erhöhen.

Die HOST-REDUCE-POLYTECH-ACS-Studie untersuchte die Deeskalation der DAPT bei Patienten, die initial mit Prasugrel 10 mg plus ASS behandelt wurden [24]; 3429 Patienten wurden randomisiert entweder der Deeskalationsgruppe mit Reduktion der Prasugrel-Dosis auf 5 mg nach 1 Monat oder der konventionellen Gruppe zugeteilt. Es ergab sich ein positiver Nettoeffekt zugunsten der Deeskalation (Gesamtsterblichkeit, nichtfataler Myokardinfarkt, Stentthrombose, erneute Revaskularisation, Schlaganfall und Blutungsereignisse) nach 1 Jahr, die von einer Reduktion der Blutungskomplikationen getrieben war.

Sekundärprävention.

Aufgrund unterschiedlicher Studien hatte bereits die 2019 vorgestellte ESC-Leitlinie zu chronischen Koronarsyndromen empfohlen, im Rahmen der Sekundärprävention bei Patienten, bei denen das ischämische Risiko das Blutungsrisiko überwiegt, langfristig zusätzlich zu ASS eine zweite antithrombotische Substanz zu verordnen. Als Optionen wurden niedrig dosiertes Rivaroxaban, Clopidogrel, Ticagrelor oder Prasugrel genannt. Die neue ESC-Leitlinie zu NSTE-ACS greift diese Empfehlung auf. Unterstützend wurde hierzu 2020 eine neue Subanalyse der PEGASUS-TIMI-54(Prevention of Cardiovascular Events in Patients with Prior Heart Attack Using Ticagrelor Compared to Placebo on a Background of Aspirin-Thrombolysis in Myocardial Infarction 54)-Studie publiziert [25]. Diese zeigt, dass die langfristige Verordnung von Ticagrelor zusätzlich zu ASS im Vergleich zu ASS alleine auch bei Patienten mit vorausgegangenem Myokardinfarkt ohne PCI zu einer Reduktion des ischämischen Risikos führt, wenngleich auf Kosten eines erhöhten Blutungsrisikos.

Fazit für die Praxis

  • Entsprechend der ISCHEMIA-Studie ist bei Patienten mit chronischem Koronarsyndrom ohne kürzlich vorausgegangenes akutes Koronarsyndrom (ACS), Herzinsuffizienz oder Hauptstammstenose die Indikation zur Myokardrevaskularisation kritisch zu prüfen. Ein engmaschiges Monitoring medikamentös behandelter Patienten ist notwendig: bei Persistenz der Beschwerden führt die Myokardrevaskularisation zu Lebensqualitätsverbesserung und Symptomkontrolle.

  • Altersunabhängig wird bei allen Patienten mit NSTE-ACS und Hochrisiko-Charakteristika eine früh-invasive Behandlung angestrebt. Dabei erfolgt keine Vorbehandlung mit P2Y12-Antagonisten, solange die Indikation zur Intervention nicht geklärt ist. Außer im kardiogenen Schock wird bei NSTE-ACS oder STEMI mit Mehrgefäß-Erkrankung eine komplette Revaskularisation angestrebt.

  • Die chronische DAPT sollte in Abwägung des ischämischen und hämorrhagischen Risikos individualisiert werden. Neben den etablierten Therapieregimen umfasst dies einerseits das Absetzen von ASS oder die Dosisreduktion von Prasugrel nach 3 Monaten sowie die primäre Wahl von Clopidogrel und andererseits die langfristige Therapie mit zwei antithrombotischer Substanzen.