Wer sich beraten lassen möchte, geht in die Beratungsstelle. Diese alte Gewissheit wird seit gut zwanzig Jahren von zahllosen Alternativen im Internet infrage gestellt, ganz zu schweigen von den noch älteren Möglichkeiten der Telefonberatung. Doch was ist mit all jenen Menschen, für die weder die klassische Präsenzberatung noch die Nutzung der zahlreichen Möglichkeiten im Internet infrage kommt?

Etwa, weil die nächste Beratungsstelle zu weit entfernt ist und der Bus bloß zwei Mal am Tag fährt. Oder weil die wöchentliche Außensprechstunde immer dann stattfindet, wenn die Kinder betreut werden müssen. Manchen fällt es vielleicht schwer, die eigenen Gedanken in einer E‑Mail oder in einem Chat aufzuschreiben. Andere wissen nicht, ob sie den Angeboten im Internet trauen können oder schrecken vor dem (Video‑)Telefonat mit einer Beraterin zurück, wenn sie zu Hause nicht die notwendige Privatsphäre haben. Es gibt viele Gründe dafür, dass bestehende Online- und Offlineberatungsangebote Menschen nicht erreichen.

Videoberatungsräume in ländlichen Regionen und darüber hinaus: Zum Projekt STellaR

Über die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands lebt in außerstädtischen Regionen, rund 18 Mio. Menschen in primär ländlich geprägten Gemeinden mit geringer Bevölkerungsdichte (Knetsch 2017). Eine wesentliche Herausforderung ländlicher Gebiete besteht in der hinreichenden Aufrechterhaltung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Hierzu zählt auch der Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zu sozialen Beratungsdienstleistungen (Williger und Wojtech 2018). Ähnlich wie im Bereich der Telemedizin (Troeger-Weiß und Anslinger 2015), wird der Digitalisierung hier ein großes Potenzial zugesprochen. Wunsch und Wirklichkeit stehen jedoch noch in Widerspruch, wenn die Versorgung mit Breitbandanschlüssen nicht ausreichend sichergestellt ist oder die Internetnutzung und Digitalaffinität der – zumeist älteren – Bevölkerung in ländlichen Gebieten geringer ausgeprägt ist. Mitunter droht die zunehmende Verbreitung digitaler Angebote daher sogar, die Bevölkerung in ländlichen Gebieten zusätzlich auszugrenzen (digital divide), statt ihre gesellschaftliche Teilhabe zu stärken (Williger und Wojtech 2018). Das gilt auch für Onlineberatung. Neben den technischen Voraussetzungen und der Möglichkeit, mit diesen umzugehen, ist es erforderlich, aus den vielfältigen Beratungsangeboten im Internet seriöse und passende Angebote auszuwählen (Klein und Pulver 2020).

Das Projekt „Stationäre Telepräsenzberatung im ländlichen Raum“ (STellaR) greift die beschriebenen Herausforderungen auf, indem es eine neue Form des Zugangs zur Beratung entwickelt. In vertrauenswürdigen Institutionen wie einem Rathaus und einer Außenberatungsstelle wurden stationäre Videoberatungsräume eingerichtet. Diese Räume sind technisch so ausgestattet, dass Beraterinnen und Berater Ratsuchende per Video beraten können. Für die Ratsuchenden soll das Erlebnis dem Besuch einer Beratungsstelle möglichst nahekommen. Ein großer, hochauflösender Bildschirm sowie die Tontechnik sollen ein Nutzungserlebnis ermöglichen, das dem tatsächlichen Gegenübersitzen am selben Ort entspricht. Die Bedienung technischer Geräte durch die Ratsuchenden ist hierfür nicht nötig. Die Videoberatung wird zudem in einem nächsten Schritt erweitert um die Möglichkeit des gemeinsamen Arbeitens mit Dokumenten (Laak et al. 2021). So können der Beraterin oder dem Berater mitgebrachte Briefe und Rechnungen gezeigt sowie Formulare gemeinsam ausgefüllt und von Ratsuchenden unterschrieben werden. Damit wird sichergestellt, dass beispielsweise die Schuldner- und die Insolvenzberatung (Schmitz et al. 2022) sowie die Allgemeine Sozialberatung über räumliche Distanz hinweg Ratsuchenden in gewohnter Weise helfen können.

Auch in Städten könnte stationäre Videoberatung zum Einsatz kommen, zum Beispiel als Element einer digital unterstützen Quartiersarbeit oder als niedrigschwelliger Zugang zu verschiedenen Beratungsleistungen in Familienzentren, Schulen, Mehrgenerationenhäusern, Pflegeeinrichtungen oder Flüchtlingsunterkünften.

Chancen des Blended Counseling

Mit der Nutzung digitaler Technik sollten sich auch die konzeptionellen Grundlagen der Beratung weiter entwickeln. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, ist der des Blended Counseling. Dabei handelt es sich um die „systematische, konzeptionell fundierte, passgenaue Kombination verschiedener digitaler und analoger Kommunikationskanäle in der Beratung“ (Hörmann et al. 2019). Sowohl hinsichtlich des Zugangs zur Beratung als auch im Beratungsverlauf werden verschiedene Kommunikationskanäle, also Mail‑, Chat‑, Messenger‑, Telefon- und Videokommunikation sowie die klassische Präsenzberatung, zielgruppengerecht eingebunden und miteinander verknüpft (Hörmann und Engelhardt 2022). Dabei stehen die Interessen und Bedürfnisse der Ratsuchenden im Mittelpunkt. Jede und jeder soll den für sich passenden Zugang zur Beratung wählen können und im Verlauf von sequenziellen Beratungsprozessen mit darüber entscheiden, auf welchen Kommunikationskanälen und in welcher Frequenz der Kontakt zur Beraterin oder zum Berater aufrechterhalten bleibt. Kürzere Kommunikationswege, bessere Erreichbarkeit und eine flexiblere Gestaltung des Beratungsprozesses können aus Sicht der Ratsuchenden Vorteile der Nutzung des Blended Counseling sein. Auch im Anschluss an die eigentliche Beratung oder zwischen einzelnen Sitzungen ergeben sich auf diese Weise neue Möglichkeiten der Nachsorge, so dass Blended Counseling dazu beitragen kann, Beratungserfolge nachhaltig im Alltag der Ratsuchenden zu verankern (Engelhardt und Reindl 2016; Hörmann 2018).

Blended Counseling ermöglicht zudem, das Kommunikationssetting im Laufe der Beratung an veränderte Bedürfnisse anzupassen. Dies kann etwa für Ratsuchende entlastend sein, die zwischen zwei Wohnorten pendeln oder die durch einen Umzug nicht mehr in die Beratungsstelle kommen können (Engelhardt und Reindl 2016). Beraterinnen und Berater in ländlichen Regionen sind oftmals für ein großes regionales Einzugsgebiet zuständig, sie bieten an verschiedenen Orten Außensprechstunden an. Für sie ermöglicht Blended Counseling eine räumliche und zeitliche Flexibilisierung, indem Anfahrtswege reduziert und im Beratungsprozess asynchrone Kommunikationskanäle bewusst zum Einsatz kommen können. Ein weiterer Vorteil kann für Beraterinnen und Berater darin liegen, eine erste Problemanalyse anhand einer Nachricht im Vorfeld eines Face-to-Face-Termins durchzuführen. Aus Sicht der Organisationen kann Blended Counseling zudem zur Fachkräftebindung und -gewinnung beitragen, da in ihrem Rahmen zum Beispiel Beratung aus dem Home-Office möglich wird (Deutscher Caritasverband e. V. 2020).

Herausforderungen des Blended Counseling

Der Umgang mit verschiedenen Kommunikationskanälen kann für Beraterinnen und Berater allerdings auch anstrengend und belastend sein. Die Qualität der Beratung könnte leiden, wenn Blended Counseling nicht konzeptionell abgesichert ist und mit entsprechenden Anpassungen der Arbeitsprozesse einhergeht. So müssen die Träger sicherstellen, dass Beraterinnen und Berater hinsichtlich der Chancen und Risiken verschiedener Kommunikationskanäle, ihrer jeweiligen Handhabung und Kombinationsmöglichkeiten sowie zu relevanten Datenschutzaspekten geschult und sensibilisiert werden (Hörmann 2018; Engelhardt und Reindl 2016). Weder die reine Onlineberatung noch das Blended Counseling sollten dazu führen, dass Beraterinnen und Berater außerhalb ihrer Arbeitszeit auf Anfragen reagieren oder hierfür gar private Geräte benutzen müssen. Es liegt in der Verantwortung der Träger, die nötige technische Ausstattung und ihren sinnvollen, datenschutzkonformen Einsatz sicherzustellen. Ratsuchende müssen den für sie passenden Zugang zur Beratung finden können, Arbeitszeitmodelle von Beraterinnen und Beratern müssen mitunter angepasst werden.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die klassische Präsenzberatung oftmals als beste Form der Beratungsinteraktion angesehen wird. Auch wenn die Coronapandemie hier einige alte Gewissheiten infrage gestellt haben dürfte und die Lebenswelt beinahe aller Menschen zunehmend durch die Nutzung digitaler Medien mitgeprägt ist, erschwert die Einstellung vieler Beraterinnen und Berater ebenso wie die oftmals kaum ausreichende technische Ausstattung von Beratungseinrichtungen eine bewusste Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Blended Counseling. Indem im Zuge der Digitalisierung die Nutzung neuer Kommunikationskanäle zur Selbstverständlichkeit wird, bedarf es einer Anpassung der Gewohnheiten, um gute Beratungsleistungen weiterhin für möglichst viele Menschen lebensweltnah und niedrigschwellig anzubieten.

Stationäre Videoberatung im Blended Counseling

Stationäre Videoberatung kann Trägern dabei helfen, Vorteile des Blended Counseling zu nutzen und einigen der gegenwärtigen Herausforderungen zu begegnen. Für Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – Onlineberatung zu Hause (zunächst) nicht in Anspruch nehmen können oder wollen, kann ein Erstgespräch mit Hilfe der stationären Videoberatung die Nutzung weiterer elektronischer Kommunikationskanäle einleiten. So könnte gemeinsam erörtert werden, unter welchen Bedingungen im Beratungsverlauf auf andere Kommunikationskanäle zurückgegriffen werden sollte. Womöglich braucht es unbedingt ein persönliches Gespräch in Präsenz, dann kann dies hier festgestellt und gemeinsam geplant und organisiert werden. Begegnet man sich beim nächsten Mal in der Beratungseinrichtung, haben beide Seiten bereits einen umfassenderen Eindruck voneinander gewonnen, als dies in einer E‑Mail oder per Telefon der Fall gewesen wäre. Aber auch der umgekehrte Fall ist denkbar: Jemand kommt in die Beratungseinrichtung, erfährt im Erstgespräch, dass es wohnortnah einen Videoberatungsraum gibt und wie einfach dieser benutzt werden kann und nimmt an der Beratung zukünftig von dort aus teil. Ein Erstgespräch im stationären Videoberatungsraum kann ein Zwischenschritt auf dem Weg in die Beratungsstelle sein, es kann den Gang zur Beratungsstelle ersetzen oder am Ende eines Austauschs per E‑Mail oder Chat stehen. Als interaktiver, koproduktiver Prozess ist Beratung bekanntlich sehr individuell und viele verschiedene Einsatzszenarien sind hier denkbar.

Eine wichtige Rolle für die Attraktivität der stationären Videoberatung dürfte neben den persönlichen Vorlieben der Ratsuchenden sowie den möglichen Alternativen im Internet und in der Region auch der Ort des Beratungsraums spielen. Befindet er sich etwa in einer Einrichtung, die ohnehin regelmäßig besucht wird, könnte die Nutzungsschwelle niedriger sein und Fachkräfte oder Ehrenamtliche könnten – je nach Einrichtungsart – den Zugang erleichtern.

Voraussichtlich könnte die Nutzung stationärer Videoberatung auch für Fachkräfte einen passenden Einstieg in die Möglichkeiten des Blended Counseling bieten. Da die Beratung hier synchron durchgeführt werden kann und nicht von technischen Übertragungsschwierigkeiten oder störenden Umgebungseinflüssen beeinträchtigt wird, können positive Erfahrungen mit digitaler Beratung gesammelt werden.

Ausblick

Das Forschungsprojekt STellaR verfolgt das Ziel, durch stationäre Videoberatung vor allem in ländlichen Regionen Beratung zugänglicher zu machen. Alle technischen und konzeptionellen Entwicklungen des Projekts werden so aufbereitet, dass sie den Trägern als Opensource-Lösungen zur Verfügung gestellt werden. Ein enger Austausch mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege soll dies sicherstellen.

Der vorliegende Beitrag versteht sich als konzeptionelle Rahmung der noch ausstehenden Ergebnisse der empirischen Begleitforschung. Da eine klassische Präsenzberatung aus verschiedenen Gründen für viele Ratsuchenden heute nicht immer die beste Wahl ist, bietet es sich an, die Nutzung des STellaR-Systems mit den Möglichkeiten des Blended Counseling zu verbinden. Die stationäre Videoberatung eröffnet für Träger eine neue Möglichkeit, Face-to-Face-Beratung auch außerhalb der klassischen Präsenzberatung anzubieten und damit den Pfad der Präsenzberatung um zusätzliche, technisch unterstützte Möglichkeiten zu erweitern. Um einer Unterversorgung ländlicher Gebiete mit sozialer Beratung entgegenzuwirken, würde eine stärkere Nutzung der Möglichkeiten des Blended Counseling perspektivisch auch die Bereitstellung überregionaler Beratungsleistungen ermöglichen. Die langjährige Erfahrung aus der Onlineberatung zeigt allerdings, dass es hohe sozialrechtliche und finanzierungsbezogene Hürden für die Verstetigung überregionaler Angebote der sozialen Beratung gibt (Engelhardt 2022), die auch für die stationäre Videoberatung gelten. Wird Überregionalität angestrebt, sind entsprechende Projekte bislang auf eine prekäre Finanzierung, zumeist in Form von zeitlich begrenzten Drittmitteln, angewiesen. Wir wollen im weiteren Projektverlauf daher auch die Hürden der Verstetigung überregionaler Beratungsangebote aufarbeiten und zeigen, welche sozialrechtlichen Anpassungen notwendig wären, um diese zu überwinden.

Es bleibt wichtig, allen Menschen mit Beratungsbedarf einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zu Beratungsleistungen zu ermöglichen. Im Zuge der Digitalisierung vervielfältigen sich die Kommunikationsmöglichkeiten. Die inzwischen selbstverständliche Nutzung digitaler Kommunikationskanäle in unserem Alltag stellt Träger vor die Herausforderung, Zugänge und Beratungsverläufe den veränderten Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Ländliche Regionen mit ihrer geringeren Dichte von Beratungsangeboten könnten hiervon besonders profitieren, wenn es den Trägern gelingt, ihre Beraterinnen und Berater mit der notwendigen Hardware auszustatten, Schulungen anzubieten und Blended Counseling konzeptionell in die Beratungspraxis einzubetten.