Auch das Reden über arme Kinder und ihre Familien sowie der politisch-mediale Streit über die Kindergrundsicherung sind wichtige Einflussfaktoren für die gesellschaftliche Bearbeitung von sozialer Polarisierung, in deren Kontext auch Soziale Arbeit eingebunden ist. Die Aussagen zentraler Akteure und ihre sozialen Interessen lassen sich dabei als Ausdruck gesellschaftspolitischer Kräfteverhältnisse von Macht-Ungleichheiten und Herrschaftsstrukturen entziffern.

Es wird die These vertreten, dass bei allen Hilfen immer wieder sozio-ökonomische Sachzwänge überwiegen, die dafür sorgen, dass Ungleichheitsverhältnisse beibehalten bleiben.

Zwischen verbaler und realer Armutsreduktion

Der Ökonom Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kommt anhand seiner Berechnung aller Minderjährigen in Haushalten mit weniger als 60 % des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens zu der Zahl von 1,2 Mio. armen Kindern in Deutschland. Dagegen rechnete noch zuletzt das Statistische Bundesamt (vgl. Statistisches Bundesamt v. 26.07.2023) mit über 20 % Kindern in Armut. Ein Fünftel von ca. 14 Mio. Kindern wären etwa 2,8 Mio. Minderjährige. Wie kommt es zu solch starken Differenzen? (vgl. Plünnecke 2022, S. 26).

Anhand der im DJI-Heft gezeigten Graphik lässt sich feststellen, dass die von Plünnecke genannten 1,2 Mio. Kinder nur diejenigen in der obersten Spalte der Graphik betreffen, deren Eltern nicht erwerbstätig sind. In den Spalten darunter gibt es jedoch ebenfalls Kinder in Haushalten, deren Einkommen sich unterhalb der Armuts(risiko)schwelle von 60 % des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens befinden. Dazu zählen etwa noch Kinder in Armut aus Teilzeit-Alleinverdiener-Haushalten (904.000), aus Vollzeit-Alleinverdiener-Haushalten (533.000), aus Teilzeit-Doppelverdiener-Haushalten (76.000) und aus Teilzeit‑/Vollzeit-Doppelverdiener-Haushalten (166.000) sowie aus Vollzeit-Doppelverdiener-Haushalten (16.000). Diese insgesamt über 1,6 Mio. Kinder werden im Heft der DJI-Impulse 1/2022 auf S. 26 durch die Überschrift „Ca. 1,2 Mio. Kinder gelten bundesweit als armutsgefährdet“ fälschlicherweise unterschlagen, womit über die Hälfte der vorhandenen Kinder in Armut übersehen bzw. ignoriert werden.

Die Wahrnehmung des realen Ausmaßes der Kinderarmut in Deutschland ist immer noch von verschiedenen absichtlichen und unabsichtlichen Verzerrungen und Verharmlosungen gekennzeichnet. Die Fixierung auf arme Kinder nicht-erwerbstätiger Eltern ist jedoch nicht nur eine Ignoranz gegenüber der Mehrheit armer Kinder erwerbstätiger Eltern. Sie entspricht auch einer neoliberalen Workfare-Logik, wonach jegliche Erwerbsarbeit die Lösung aller sozialen Probleme und vor allem von Armut sei (ein Argument, welches zuletzt v. a. FDP-Politiker gegen die Kindergrundsicherung vorbrachten und dabei Kinderarmut z. T. sozialdemagogisch geschickt als v. a. „Ausländerarmut“ hinstellten; vgl. ZEIT.de v. 21.08.2023). In dieses Bild passen einfach keine Kinder von Niedriglöhner_innen, da dann auch z. B. über prekäre Arbeitsverhältnisse und armutsfeste Mindestlöhne usw. gesprochen werden müsste.

Zwar erscheint die Ermittlung von Primärdaten zweifellos notwendig zur Erforschung der sozialen Lage von Kindern; es kommt jedoch vor allem darauf an, wie diese Daten politisch und wissenschaftlich behandelt und verhandelt werden. Demnach wäre es nicht so entscheidend, ob wir 15,7 % oder 20,3 % Kinderarmut, ob wir 2,3 Mio. oder 3,4 Mio. Kinder in Armut(snähe) haben, sondern was mit diesen Zahlen und Daten gemacht wird. Kinderarmut in Deutschland heute bedeutet Armut in einem der reichsten Länder dieser Erde. Und Armut selbst lässt sich präzise nur im jeweiligen zeitlichen und räumlichen Kontext, dem jeweiligen aktuellen allgemeinen Lebensstandard betrachten. Schmerzhafter noch als materielle Einschränkungen können sich Diffamierungen und Stigmatisierungen auswirken. Auch das Reden über (arme) Kinder und ihre Familien macht also einen Teil der gesellschaftlichen Polarisierungs-Problematik aus, die immer weniger geleugnet werden kann. Für eine kritische Kinderarmutsforschung besonders untersuchenswert sind diejenigen Debatten, in denen die betroffenen Kinder und Familien mit den Etiketten ‚selbst schuld‘ oder ‚asozial‘ rhetorisch bedacht werden, denn dann steht statt der Bekämpfung von Armut eher die Herabwürdigung und letztlich Bekämpfung der Armen im Vordergrund (sog. Blaming the Victims).

Kinderarmutsbekämpfung durch die Kindergrundsicherung

Bundeskanzler Olaf Scholz hat am 23. Mai 2023 seine Vorstellung zur Kinderarmutsbekämpfung mithilfe der Kindergrundsicherung etwas vollmundig skizziert, als er sagte: „Mit der Kindergrundsicherung werden wir dafür sorgen, Kinderarmut in unserem Land hinter uns zu lassen“ (Scholz 2023, S. 2). Auch wenn es recht fraglich ist, ob dieses Ziel mit den Regierungsmaßnahmen zu erreichen ist, sollten alle Konzepte an diesem Kriterium des Kanzlers gemessen werden.

Für ihr Konzept zu einer armutsfesten Grundsicherung für Kinder errechnet z. B. das „Bündnis Kindergrundsicherung“ (2021) einen Bruttobedarf von ca. 113 Mrd. € und netto 20,5 Mrd. (vgl. Bündnis Kindergrundsicherung 2021, S. 4). Doch ist bei allen Überlegungen in Richtung Kindergrundsicherung wichtig, dass Kinder und ihre Familien nach den anvisierten Maßnahmen auch wirklich aus Armut und Hilfsbedürftigkeit befreit werden. Dabei sollte man nicht der Illusion verfallen, Kinder als anscheinend „autonom“ aus dem Familienkontext fiktiv herauszulösen und mit einer „eigenständigen Kindergrundsicherung“ oder ähnlichem scheinbar aus der Bedürftigkeit zu holen, während der Rest der Familie weiterhin in der Hilfsbedürftigkeit verbleibt. Arme Kinder sind in der Regel Kinder armer Eltern(teile) und sollten nicht gegen sie ausgespielt werden. Überdies sollte jede Konzeption, die pauschal allen und damit auch vielen nicht bedürftigen Eltern und Kindern mit enormen Finanzmitteln unter die Arme greifen will, daraufhin kritisch unter die Lupe genommen werden, wie ihre effektiven Folgen für die Verhinderung und Verminderung von Kinderarmut aussehen. Das heißt, die Ziel-Mittel-Relation bedarf einer präzisen Analyse. Außerdem ist es auch und gerade für ein Eingreifen in politische Diskurse über soziale Polarisierung wichtig, die Primärverteilung des gewachsenen gesellschaftlichen Reichtums bei allen sinnvollen Forderungen von Maßnahmen gegen Kinderarmut im Blick zu behalten. Schließlich kann ein arm gemachter Staat nur schwerlich (Kinder‑)Armut bekämpfen (vgl. Klundt 2023, S. 108).

Solche Bedenken sind zu unterscheiden von workfare-orientierter, grundsätzlicher Ablehnung einer armutsfesten Kindergrundsicherung, weil den Eltern unterstellt wird, sie veruntreuten das Geld ihrer Kinder bloß (z. B. zugunsten von Alkohol und Zigaretten) und würden überdies durch diese vermeintlich „zu hohe“ Sozialleistung von der Erwerbsarbeitsaufnahme abgehalten. So hatte der FDP-Bundestagsabgeordnete Markus Herbrand in einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche vom 5. März 2023 behauptet: „Noch mehr Geld für Eltern führt in den wenigsten Fällen zu mehr Erfolg“. Für den Finanzpolitiker steht im Vordergrund, „Missbrauch zu verhindern“, denn die „richtigen Ziele Armutsprävention und verbesserte Teilhabe von Kindern dürfen nicht dazu führen, dass wir uns gutgläubig ausnutzen lassen“ (Herbrand 2023). Die bemerkenswerte „wir/uns“-Konstruktion lässt erkennen, dass die armen Kinder und ihre Familien schonmal nicht dazugehören. Auch würde man sich sicherlich eine solche Rede gegen das „Ausnutzen“ des Staates von einem FDP-Politiker beim nächsten Steuerskandal (CumEx, Wirecard, Steueroasen etc.) ebenfalls wünschen. Doch für Herbrand müssen vor allem die Eltern „stärker in die Pflicht genommen werden“, um „nicht einfach mehr Geld für die minderjährigen Kinder abzukassieren“. Auch hier bringt die Sprache die Haltung an den Tag: Arme Eltern beantragen oder erhalten keine Sozialleistungen im Sinne des Sozialrechts eines sozialen Rechtsstaates, sondern sie „kassieren ab“ – gerne mit ein bisschen Mafia-Assoziationen verziert gedacht. Denn für den FDP-Finanzexperten steht fest: „Wenn die Kindergrundsicherung als bequemes Ruhekissen bis zur Volljährigkeit missverstanden wird, ist der Weg zum anschließenden Bürgergeld-Bezug nicht weit und wir haben bis auf gestiegene Kosten nichts erreicht.“ Missverstehen lässt sich an diesem Satz einiges. Doch zumindest ließe sich fragen, ob Herbrand tatsächlich davon ausgeht, dass Kinder vor der Volljährigkeit zur Erwerbstätigkeit gezwungen werden sollten, damit sie ihre ersten 18 Lebensjahre nicht „als bequemes Ruhekissen“ missverstehen. Dann wäre natürlich interessant zu erfahren, ab wann Kinderarbeit verpflichtend sein sollte. Oder geht es ihm doch nur wieder um die sog. faulen Eltern auf dem „Ruhekissen“, bei denen verhindert werden müsse, dass sie, so Herbrand, „das zusätzliche Geld einfach für ihre eigenen Bedürfnisse wie beispielsweise Alkohol oder Zigaretten verwenden“?

In jedem Fall wird es mit dieser stigmatisierenden Sichtweise schwierig, über die praktische Ausgestaltung einer armutsfesten Kindergrundsicherung auch nur rational zu verhandeln. Trotzdem versuchten Kinderrechtsorganisationen und Sozialverbände die verschiedenen wissenschaftlich-politisch-medialen Verzerrungen zur Verwendung von Familienleistungen durch Verweise auf dagegen sprechende Forschungsergebnisse zu entkräften (vgl. Schneider 2023; Bündnis Kindergrundsicherung 2023; Paritätischer Wohlfahrtsverband 2023). Demnach lässt sich nachweisen, dass die allermeisten Eltern das Geld korrekt für ihre Kinder verwenden und sich bei finanziellen Engpässen eher selbst einschränken, als bei den Kindern zu sparen (vgl. Schneider 2023; Bündnis Kindergrundsicherung 2023; Paritätischer Wohlfahrtsverband 2023; AK Armutsforschung 2023). Außerdem werden nach einem Gutachten des DIW im Auftrag der Diakonie die Kosten der verfestigten Kinderarmut in Deutschland in einer breit angelegten OECD-Studie von 2022 auf jährlich 110 bis 120 Mrd. € geschätzt (Butterwegge 2023a, S. 3). In jedem Fall erweisen sich die gesundheitlichen, Bildungs- und sonstigen sozialen Kosten von Kinderarmut als um ein Vielfaches höher als die Kosten einer armutsfesten Kindergrundsicherung.

Als Ausdruck politischer Prioritäten stellt Christoph Butterwegge zum Streit innerhalb der Ampelkoalition zwischen Finanzminister Lindners Absicht, nur 2 Mrd. € für die Kindergrundsicherung zur Verfügung zu stellen und dem Konzept der Bundesfamilienministerin Paus, welches 12 Mrd. € beinhaltet, folgendes fest: „Zwischen der Forderung der Grünen und den Vorstellungen der FDP liegt eine Differenz von zehn Milliarden Euro im Jahr. Mit diesen zehn Milliarden Euro wird der Rüstungshaushalt aufgestockt. Mit zehn Milliarden Euro jährlich will die FDP aber auch die private Vorsorge für das Alter fördern. Und mit zehn Milliarden Euro wird die Ansiedlung einer Chipfabrik von Intel bei Magdeburg subventioniert. Dass für alle drei Vorhaben so viel Geld da ist, wie man der Kindergrundsicherung vorenthält, hat schon ein Geschmäckle.“ (Butterwegge 2023a).

Zusammenhänge zwischen Anlässen und Ursachen

Ausgehend davon, dass junge Menschen, die dauerhafte Armutslagen erleben und SGB-II-Leistungen beziehen, seltener in einem Verein aktiv oder an organisierten Freizeitaktivitäten beteiligt sind als besser gestellte Gleichaltrige, sehen Annette Stein und Jörg Dräger (2018) von der Bertelsmann-Stiftung die Gefahr, dass sich diese jungen Menschen auch als Erwachsene aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft abkoppeln – mit weitreichenden Folgen. „So hängt unter anderem auch die politische Beteiligung mit dem sozialen Status zusammen: je niedriger der sozioökonomische Hintergrund, desto geringer die Wahlbeteiligung. Gerade in Zeiten einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft sollte dies ein Warnsignal sein“ (Tophoven et al. 2018, S. 7). Es sei daran erinnert, dass die beklagte „zunehmende Polarisierung“ gerade von verschiedenen Veröffentlichungen der Bertelsmann-Stiftung seit Jahrzehnten mit einflussreichen Konzepten zur Privatisierung, Flexibilisierung, Deregulierung und Neoliberalisierung aller gesellschaftlicher Bereiche und besonders von Bildung und Sozialstaat maßgeblich mit vorangetrieben worden ist und wird (Klundt 2023, S. 84). Über Jahrzehnte hinweg forderten und beförderten Gutachten der Stiftung mehr Ungleichheit in allen gesellschaftlichen Bereichen, wohingegen nun demonstrativ sowie medienwirksam die Armuts- und Ungleichheitsfolgen (per Forschungsaufträge) beklagt werden. Das spricht selbstverständlich nicht gegen die honorigen Armuts-Studien und ihre Verfasser_innen der Gegenwart, sondern allerhöchstens gegen die jahrzehntelange Stiftungspolitik zuvor und deren Forderungen von Zuständen, die nun in den aktuellen Studien der Stiftung berechtigterweise als armutsbegünstigend kritisiert werden (vgl. Klundt 2023, S. 84). Ein Großteil der etablierten Kinderarmutsforschung in Deutschland blendet diese Kausalitäten regelmäßig aus.

In einer Bertelsmann-Studie aus dem Jahre 2016 werden insgesamt über 70 Kinderarmutsstudien für die zurückliegenden 15 Jahre gezählt. Die meisten davon ließen den Aspekt der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge und Ursachen (weitgehend) außen vor (Laubstein et al. 2016, S. 24 ff.). Eine andere, vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie der Bertelsmann-Stiftung geförderte Untersuchung aus dem Jahre 2016 betont z. B. folgende Kausalitäten: „Als häufige Ursachen der Armut von Kindern können das Aufwachsen bei nur einem Elternteil, eine geringe Arbeitsmarktintegration der erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder, ein geringes Bildungsniveau der Eltern sowie ein Migrationshintergrund benannt werden (…). Besonders von Armut betroffen sind daneben auch Familien mit vielen Kindern“ (Tophoven et al. 2016, S. 18). In einer weiteren, über hundert Seiten langen IAB/Bertelsmann-Studie zu Kinderarmut von 2018 findet sich der Begriff „Ursache(n)“ genau zwei Mal. Einmal im Vorwort des Geldgebers, der Bertelsmann-Stiftung, das verspricht, dass Ursachen im Folgenden genannt werden (Tophoven et al. 2018, S. 6). Ein zweites Mal im Text, wo eine andere Studie referiert wird, die Ursachen von Kinderarmut in Alleinerziehung und/oder Arbeitslosigkeit der Eltern zu finden meint (ebd., S. 32).

Für den „Sozialbericht 2021“ des Bundesarbeits- und Sozialministeriums liegen ebenfalls die „Gründe dafür, dass Kinder in Haushalten mit niedrigem Einkommen leben, (…) insbesondere in eingeschränkter Erwerbstätigkeit der Eltern“ (BMAS 2021, S. 146). Zweifellos gibt es in Deutschland gegenwärtig für bestimmte Gruppen höhere Armutsrisiken. Aber Armutsanlässe, wie Scheidung, Alleinerziehendenstatus, Migrationshintergrund oder Arbeitslosigkeit werden oft mit den zugrundeliegenden Ursachen im vorhandenen Wirtschafts- und Sozialsystem verwechselt. Denn eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und eine gute Bildungs‑, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik kann auch für Kinder von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen (manche skandinavische Sozialstaaten konnten bzw. können das z. B. für Kinder von Alleinerziehenden oder von erwerbslosen Eltern vorweisen; vgl. Klundt 2023, S. 85).

Warum die Armutsentwicklung so gekommen ist, wissen viele Kinderarmutsforscher_innen überwiegend nicht zu berichten. Der sozioökonomische Kontext, soziale Interessen, gesellschaftspolitische Projekte des Neoliberalismus für mehr soziale Ungleichheit und einen breiten Niedriglohnsektor, scheinen ihnen entgangen zu sein. Sowas wie Kapitalismus, Klassengesellschaft oder gar -kämpfe und Kräfteverhältnisse sind für die hegemonialen ABC-Sozialwissenschaften (Anything but Class) genauso inexistent wie mögliche Subjekte des Handelns und des Wandels. Damit entgeht ihnen allerdings weitgehend, dass sich die Entstehungsursachen der sozioökonomischen Ungleichheit aus der häufig „Globalisierung“ genannten neoliberalen Modernisierung erklären lassen sowie aus Fehlentscheidungen und falschen Weichenstellungen der politisch Verantwortlichen. Da die sozioökonomische Ungleichheit in den kapitalistischen Produktions‑, Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen wurzelt und der Anstieg der Ungleichheit nicht die naturwüchsige Folge von digitaler Revolution, Wissensökonomie und kühner schöpferischer Zerstörung ist, müssen auch Konsequenzen politischer Entscheidungen mitberücksichtigt werden. Die Folgen der sozialen Ungleichheit lassen sich, wie Christoph Butterwegge hervorhebt, in der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft, der Prekarisierung der Lohnarbeit und der Pauperisierung eines wachsenden Teils der Bevölkerung beobachten, während auch die politische Spaltung als nicht minder problematisches Resultat der sozioökonomischen Spaltung kontextualisiert werden muss (vgl. Butterwegge 2020, S. 254 ff.).

Fazit

Viele Theorien zeitgenössischer Soziolog_innen abstrahieren indessen laut Butterwegge von sozioökonomischen Produktions‑, Eigentums- und Klassenverhältnissen als zentralem Strukturmoment bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften. Stattdessen vereng(t)en sie sich immer wieder stark auf die Konsumtionssphäre und deren sensationelle Angebotsfülle (Butterwegge 2020, S. 117 f.). Auch die veröffentlichte Meinung habe sich hierzulande zu keinem Zeitpunkt ernsthaft mit dem Problem der sozioökonomischen Ungleichheit auseinandergesetzt und praktisch nie reale Möglichkeiten zu seiner Lösung eruiert. „In den maßgeblichen, das Alltagsbewusstsein prägenden Medien wird der Reichtum (…) eher verschleiert und die Armut verharmlost. Dasselbe gilt für die etablierten Parteien und Politiker, deren ganzes Bestreben darauf gerichtet ist, die bestehenden Verteilungsverhältnisse und ihre eigene Mitverantwortung dafür zu rechtfertigen“ (ebd., S. 143). Zu Recht referiert Butterwegge die Position des Soziologen Jürgen Ritsert, wonach die meisten soziologischen Ansätze während der verschiedensten Phasen der BRD-Geschichte das Ziel verfolgten, die Klassen durch Theorie zum Verschwinden zu bringen (vgl. Butterwegge 2020, S. 205). Stattdessen beharrt er auf der Relevanz klassenanalytischer Forschung, wenn er sagt: „Auch im digitalen Finanzmarktkapitalismus der Gegenwart haben wir es mit einer Klassenspaltung zu tun.“ (Butterwegge 2023a, S. 3).

Da laut Angaben der Bundesregierung die „schwarze Null“ und die Schuldenbremse wieder eingehalten werden sollen, stellt sich zur Bekämpfung von (Kinder‑)Armut die Frage, wie notwendige Investitionen in Brücken, Bildung und Bürgergeld adäquat und nachhaltig finanziert werden sollen. Die nächsten Spar- bzw. Kürzungsrunden scheinen dagegen bereits beschlossene Sache zu sein. Sofern keine Vermögensteuer eingeführt wird, keine Bürgerversicherung die Zwei-Klassenversorgung im Gesundheits- und Pflegesystem beendet, wenn mit der gesetzlichen Rente an der Börse spekuliert werden und der Rüstungsetat wie geplant steigen soll, stehen der gewagte Fortschritt der Bundesregierung und die UN-Nachhaltigkeitsziele auf ziemlich wackeligen Beinen – und die Bekämpfung von Kinderarmut wäre ebenfalls geschwächt. Doch das ändert sich nur, wenn die Betroffenen gemeinsam mit kritischer Wissenschaft, Politik, Medien und den Aktiven der Sozialen Arbeit real existierende Klassenstrukturen und Klasseninteressen zur Kenntnis nehmen und die Profiteure und deren Klassenkampf (von oben) solidarisch „von unten“ zu beantworten beginnen.