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Der soziale Rechtsstaat ist in Gefahr. „Rettet die Schuldenbremse – kürzt den Sozialstaat!“, lautet die Überschrift eines Artikels in der WELT vom 30. November 2023. Der Autor des Gastbeitrages, der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph Ploß, macht deutlich, worum es geht. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die verfassungswidrige Verwendung des Corona-Sondervermögens soll für die „Rettung“ der Schuldenbremse der im Grundgesetz stehende Sozialstaat eingeschränkt werden (Ploß 2023).

Entgegen vieler empirischer Studien behauptet Ploß, Sozialleistungen, wie auch das Bürgergeld, würden die Leistungsbereitschaft im Lande bestrafen und von Erwerbsarbeit abhalten, zugunsten von Lohnersatzleistungen. „Das sogenannte ‚Bürgergeld‘ ist nur ein eklatantes Beispiel für eine Politik, die Leistungsbereitschaft bestraft. Nicht wenige Menschen rechnen seit seiner Einführung durch, ob es sich überhaupt noch für sie lohnt, arbeiten zu gehen.“ (Ploß 2023) Dass sich seit Einführung eines breiten Niedriglohnsektors für etwa ein Fünftel aller Beschäftigten in Deutschland vor zwei Jahrzehnten durch Agenda 2010 und Hartz IV Millionen von Menschen diese Frage ständig stellen, kommt dem Neoliberalen nicht in den Sinn.

Sozialstaatsgebot im Visier

Viele FDP-Politiker_innen stimmen derweil ein in diesen Chor zur Kürzung des verfassungsrechtlich zustehenden Existenzminimums über das Bürgergeld und gegen eine armutsfeste Kindergrundsicherung (vgl. Aust und Schabram 2023, S. 3 ff., wonach die Erhöhungen ab Januar 2024 immer noch weit unterhalb einer bedarfsgerechten Regelleistungsbestimmung liegen). Und wenn es dann um Einnahmeschwierigkeiten des Staates geht, sind die betreffenden Regierungsmitglieder noch nicht einmal bereit, über die im Grundgesetz stehende Vermögensteuer zu sprechen (von einer effektiven Erbschaftsteuer oder höheren Spitzensteuersätzen ganz zu schweigen). Lieber suggerierte der Bundesfinanzminister im Sommer 2023, dass arme Kinder in Deutschland eigentlich fast „nur“ Flüchtlingskinder und Kinder erwerbsloser Eltern seien, denen eine Kindergrundsicherung „natürlich“ nicht helfe, da sie ja sicherlich nicht mit Geld umgehen könnten; sonst wären sie ja nicht arm. Lieber sollten sie Deutsch lernen und für Erwerbsarbeit qualifiziert werden. Davon abgesehen, dass der deutsche Sozialstaat dafür zu sorgen hat, dass alle Kinder auf seinem Territorium armutsfrei aufwachsen können: Die Mehrheit der armen Kinder in Deutschland hat keinen Migrationshintergrund und die Mehrheit der Kinder in Armut hat erwerbstätige Eltern(teile); das unterschlug Lindner geflissentlich (vgl. ZEIT.de v. 21.08.2023 sowie Beitrag von Klundt in diesem Schwerpunkt). Aber nur so können die „großen Leute“ so weitermachen wie bisher, indem die „kleinen Leute“ sich gegenseitig aufeinanderhetzen lassen – „Divide et impera“ („Teile und herrsche“) funktionierte schon im antiken Rom.

Schuldenbremse weg oder Sozialkahlschlag

Umso bitterer ist es zu erleben, dass viele Menschen, die berechtigterweise – nicht (nur) wegen falscher Kommunikation der Regierenden – mit der Politik der Bundesregierung und deren Auswirkungen unzufrieden sind, sich ausgerechnet eine Partei als „Alternative für Deutschland“ aussuchen, die Zeit ihres Bestehens immer gegen einen armutsfesten Mindestlohn, gegen eine Vermögensteuer, für Aufrüstung und mehr Geld für das Militär eintritt; eine Partei, die den sozialen Rechtsstaat noch radikaler zerstören will und wird, als das die übrigen Parteien bereits vorangetrieben haben. Es wird Zeit für wirkliche Alternativen, damit die AfD sich fälschlicherweise nicht als die „Alternative für Deutschland“ verkaufen kann.

Kindergrundsicherung oder Kriegstüchtigkeit?

Immer sichtbarer wird, dass von Regierungsseite jegliche Unterversorgung des Bildungswesens, der Flüchtlingsbetreuung, des Bürgergeldes oder der Kindergrundsicherung in Kauf genommen wird, aber der Rüstungsetat, das Militär, die Waffenexporte unwidersprochen sprudeln dürfen, wie nie zuvor – inklusive der damit verbundenen Eskalationsgefahren.

Schon ein Jahr nach der „Zeitenwende“ von Ende Februar 2022 sei ohnehin „kein Geld mehr da“, schon gar keine zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bereits am 26. Februar 2023: „Ende der Zeitenwende. Krieg oder Kinder: Ein Jahr lang haben die Ampel-Parteien der neuen Weltlage große Zugeständnisse gemacht. Jetzt soll damit Schluss sein“ (Butterwegge 2023. S.23). Schließlich müssten alleine 22 Mrd. € Militärhilfe für die Ukraine finanziert werden, der Rüstungsetat müsse auf über zwei Prozent vom Bruttosozialprodukt ansteigen und zusätzlich seien über 100 Mrd. € für das Militär nötig (von weiteren Krisenkompensations-Paketen einmal abgesehen). Bundesfinanzminister Christian Lindner zufolge dürften „wir“ angesichts dessen „den Kindern keine Schuldenberge vererben“ und „auch keine Steuern erhöhen“ (Lindner 2023; zit. nach: Butterwegge 2023, S. 24). Entsprechend schrieben Anna Lehmann und Nicole Opitz in der taz vom 21. Februar 2023, dass sich die Leistungen für Kinder wie die Kindergrundsicherung in unmittelbarer Konkurrenz zu Militärausgaben befänden: „Geld für Kinder – oder Panzer. Ampel streitet über den Haushalt“ (Lehmann und Opitz 2023).

Wohlfahrtsstaat braucht Waffenexporte?

Ähnlich wurden ausgerechnet die Pläne zu einer Kindergrundsicherung von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bereits auf dem Grünen-Parteitag im Oktober 2022 in ein seltsames Kausalverhältnis zu einem europäischen Rüstungsexportprojekt zugunsten Saudi-Arabiens gestellt. Die Partei Bündnis 90/Die Grünen hatte noch bis zum 26. September 2021 auf ihre Wahlplakate geschrieben: „Wir setzen uns für ein Exportverbot von Waffen und Rüstungsgütern an Diktaturen, menschenrechtsverachtende Regime und in Kriegsgebiete ein“ (https://twitter.com/Die_Gruenen/status/1440316635126980623). Doch die deutsche Außenministerin hat auf dem grünen Bundesparteitag im Oktober 2022 europäische Rüstungs-Kooperationen zugunsten Saudi-Arabiens damit gerechtfertigt, dass man ja „nicht direkt“ Waffen(teile) liefere (nur mit europäischen Partnern zusammen) und dass man nur ältere Verträge noch umsetzen müsse; würde man das nicht tun, müsse das 100 Mrd. €-Aufrüstungspaket der Bundesregierung vom „Zeitenwende“-Februar 2022 nochmals erweitert werden zuungunsten der Ärmsten der Armen. Herzerweichend appellierte sie an die kinderfreundlichen Instinkte ihrer Parteitagsdelegierten: „Und ich will nicht, dass wir noch mehr im sozialen Bereich sparen und Lisa dann keine Mittel mehr hat für die Kinder, die sie dringend brauchen.“ (Baerbock 2022, Min. 11 ff.).

Mit „Lisa“ ist die Bundesfamilienministerin Lisa Paus und ihr Projekt einer Kindergrundsicherung gegen Kinderarmut gemeint. Ja, wer will das schon? Die armen Kinder! Da müssen wir einfach mit den europäischen Partnern Saudi-Arabien mit Waffen beliefern. „Rüstungsexporte für den Sozialstaat“, lautete daher auch eine Zwischenüberschrift in einem kritischen Artikel der taz vom 15.10.2022. „Wir“ können schließlich nichts dafür, dass Saudi-Arabien seit mehreren Jahren einen Angriffskrieg gegen den Jemen führt, mit hunderttausenden Toten. Da müssen „wir“ einfach drüber hinwegsehen. Bis vor kurzem hätte man in einer solchen De-facto-Gegenüberstellung von „jemenitischem Lebensrecht“ und „deutscher Kindergrundsicherung“ den darin unterschwellig enthaltenen Zynismus kritisiert. Aber inzwischen heißt das „wertebasierte Außenpolitik“. Dass die Bekämpfung von Kinderarmut und die Finanzierung einer armutsfesten Kindergrundsicherung auch eine Frage von Prioritäten sind, zeigte der Koalitionsausschuss der Bundesregierung im Frühjahr 2023. Noch während die Verantwortlichen über Tage hinweg keinen Beschluss für eine Kindergrundsicherung in Höhe von zwölf Mrd. Euro erzielen konnten und sich auch in ihrer Energie- und Heizungspolitik entzweiten, gaben sie noch mitten in ihren Endlos-Streitrunden medienwirksam bekannt, dass sie aber auf jeden Fall zusätzlich zwölf Mrd. Euro mehr Militärhilfe für die Ukraine bereitstellen. Für Krieg ist das Geld also da – für Kinder in Armut leider nicht (Schäfers 2023).

Schlägt Aufrüstung Armutsbekämpfung?

Ist es wirklich so einfach seit der sog. Zeitenwende? Und was bedeutet das nun für die bereits im Ansatz geschrumpfte Kindergrundsicherung und deren Effekte gegen Kinderarmut sowie Implikationen für die Sozialstaatsentwicklung insgesamt? In einem sog. Policy Brief der Bertelsmann Stiftung zum Thema „Kinderarmut und Kindergrundsicherung: Daten und Fakten“ vom Juli 2023 ermittelten die Forscherinnen Antje Funcke und Sarah Menne folgende Zahlen zu dem ungelösten strukturellen Problem Kinderarmut in Deutschland: „Im Jahr 2022 sind 3 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (21,6 %) armutsgefährdet. Bei den jungen Erwachsenen von 18 bis 24 Jahren sind es 1,55 Mio. (25,3 %)“ (Funcke und Menne 2023, S. 1).

Wer sich im Jahre 2023 erstmalig mit dem Thema „Kinderarmut“ beschäftigt, könnte fast den Eindruck gewinnen, dass buchstäblich alle gesellschaftlichen und politischen Instanzen (eigentlich schon immer) Kinderarmut vermeiden oder bekämpfen wollen. So sagte die Familienpolitikexpertin Petra Mackroth aus dem Bundesfamilienministerium in einem Interview mit der Zeitschrift DJI-Impulse 1/2022 (Mackroth 2022, S. 16): „Es herrscht breiter politischer Konsens, dass Kinderarmut bekämpft werden muss.“ Wenn dem so wäre und wenn Daten, Theorien sowie wirksame Praxiskonzepte in Hülle und Fülle vorhanden sind, stellte sich allerdings die Frage, warum die Kinderarmut in den letzten Jahrzehnten nicht wirksam verhindert oder vermindert wurde, sondern sich eher noch gesteigert oder verfestigt hat. Viele (Kinder‑)Armutsforscher/innen erforschen zwar Ungleichheitsprozesse und entwickeln richtige, bedarfsgerechte Lösungen für sozialpolitische Probleme und gegen gesellschaftliche Polarisierung in einerseits arme und benachteiligte Lebenslagen und andererseits reiche und privilegierte Milieus (vgl. Becker et al. 2022, S. 9 ff.).

Ursachenanalysen jedoch, warum es zu den von ihnen festgestellten Ungleichheitsprozessen gekommen ist und Hinderungsgründe, warum kluge und angemessene Vorschläge beinahe regelmäßig seit Jahrzehnten eher nicht angenommen oder angewandt werden, bleiben oft unterbelichtet. Offensichtlich wird unter diesem breiten gesellschaftlichen Konsens zur Kinderarmutsbekämpfung Unterschiedliches verstanden, Unterschiedliches beabsichtigt – und vor allem: Unterschiedliches erzielt.

Schon die banale Erkenntnis, dass Kitas und Schulen in sog. „sozialen Brennpunkten“ und mit besonders vielen Kindern mit Migrationshintergrund auch eine im Verhältnis zu anderen Schulen besonders hohe, an ihrem Mehrbedarf orientierte zusätzliche Förderung erhalten sollten, hat sich praktisch noch lange nicht durchgesetzt. So ermittelten Marcel Helbig und Rita Nikolai vom Wissenschaftszentrum Berlin in einer Studie, dass z. B. in der Stadt Berlin Lehrermangel, Unterrichtsausfall und Vertretungsstunden in Schulen sog. sozialer Brennpunkte auch noch überproportional häufig vorkommen im Vergleich zu Schulen in privilegierten Stadtteilen (vgl. Helbig und Nikolai 2019, S. 24 f.). Laut einer Studie des Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) vom September 2022 haben selbst die Corona-Bildungshilfen förderbedürftige Schülerinnen und Schüler kaum erreicht, da die Mittelvergabe meist nach dem Prinzip Gießkanne vollzogen wurde. Weitgehend verfehlt wurde das Ziel, jene Schüler_innen zu erreichen, deren Lernfortschritte unter Schulschließungen und Distanzlernen besonders gelitten haben: Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien und mit Migrationshintergrund (vgl. Helbig u. a. 2022, S. 5 ff.).

Ähnlich ungleich erhalten im bisherigen System der Familienleistungen (Kindergeld/Kinderfreibeträge, Ehegattensplitting usw.) erstaunlicherweise die Reichsten am meisten und die Ärmsten am wenigsten, wie auch eine Kurzexpertise im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung durch Holger Stichnoth und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) schon 2016 feststellte. „Während 13 % der Ausgaben an die reichsten 10 % der Haushalte gehen, erhalten die ärmsten 10 % lediglich 7 % der Ausgaben“ (vgl. Stichnoth 2016, S. 3). Derweil sind im System der Grundsicherung (SGB II/Hartz IV) immer noch keine bedarfsgerechten Regelleistungen für Kinder vorgesehen und der Kinderzuschlag wie auch das Bildungs- und Teilhabepaket erreichen seit Jahren regelmäßig nicht einmal die Hälfte der berechtigten Kinder (vgl. Klundt 2023, S. 107). Diesen und weiteren dringenden Reformbedarf versuchen Konzepte einer Kindergrundsicherung gebündelt und verknüpft mit Infrastrukturleistungen zu bearbeiten, um Kinderarmut wirksam zu vermeiden und zu vermindern.

Wenn Kindergrundsicherung etwas verändern könnte …

Damit verbundene Fragen, Potenziale und Probleme einer Kindergrundsicherung hinsichtlich von Armut und Sozialstaatsentwicklung sind das Thema dieses Schwerpunkts:

  • Die Volkswirtin Irene Becker setzt sich mit der Genese und Entwicklung des Konzeptes einer Kindergrundsicherung auseinander. Auch in seiner reduzierten Form hält sie den damit einhergehenden wohlfahrtsstaatlichen Paradigmenwandel für unterstützenswert und erläutert dies.

  • Dagegen stehen für den Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge die Kritikpunkte an den bisherigen Konzepten zur Kindergrundsicherung im Vordergrund. Deren Versprechen eines Endes der Familienarmut hält er für sehr fragwürdig, zumal die vorgeblich haushaltsbedingten und koalitionsinternen Infragestellungen jeglicher Modelle der Kindergrundsicherung weitere Fragen aufwerfen.

  • Der Politologe und Sozialforscher beim Paritätischen Gesamtverband, Andreas Aust, untersucht die im „Windschatten der Kindergrundsicherung“ vorgenommene Strukturreform beim Bildungs- und Teilhabepaket hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Kinderarmut.

  • Michael Klundt widmet sich verzerrenden Debatten über Kinderarmut und Kindergrundsicherung als Ausdruck gesellschaftspolitischer Kräfteverhältnisse und sozialer Ungleichheitsinteressen.

  • Der Leiter der Koordinationsstelle Kinderarmut des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) beim LVR-Landesjugendamt Rheinland, Alexander Mavroudis, beschäftigt sich mit den Potenzialen von Praxisprojekten gegen Kinderarmut in Nordrhein-Westfalen.

Viele Maßnahmen (auch die guten) sind meist so gestrickt, dass sie an der herrschenden sozialen Ungleichheit nichts grundsätzlich ändern. Wer dagegen (Kinder‑)Armut wirklich bekämpfen will, muss auch über den exorbitant gestiegenen Reichtum in unserer Gesellschaft sprechen. Wer die sozialräumliche Segregation in unseren Städten bemängelt, darf nicht vergessen, dass die armen Stadtteile oft so aussehen, wie sie aussehen, weil die reichen Stadtteile so aussehen, wie sie aussehen. Wer den Sozialstaat stärken will, muss die Privatisierung von Sozialversicherungen, von städtischen Wohnungen, Energieversorgern, Krankenhäusern und Pflegeheimen zurücknehmen und dem Profitprinzip entziehen sowie bessere Bedingungen in Schulen, Kitas und Jugendhilfe schaffen. Dass dafür genug Geld da ist, zeigt auch ein DIW-Bericht, wonach sich das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren auf 13,8 Billionen Euro mehr als verdoppelt hat. Davon könnten jedes Jahr bis zu 400 Mrd. € vererbt oder verschenkt werden, was die absolute Ungleichheit weiter erhöhen wird (vgl. Baresel u.a. 2021, S. 64 ff.). An fehlendem Geld scheitert die adäquate Bekämpfung von Kinderarmut jedenfalls nicht.