Seit drei Jahrzehnten nimmt die Kinderarmut in Deutschland mehr oder weniger kontinuierlich zu. Trotzdem ist bisher keine Bundesregierung, egal welcher parteipolitischen und personellen Zusammensetzung, konsequent gegen diesen familien- und sozialpolitischen Langzeitskandal vorgegangen. Zwar haben schon mehrere Familienministerinnen bei ihrem Amtsantritt versprochen, das Problem endlich zu lösen, aber bisher nur erreicht, dass ein Teil der betroffenen Kinder dem Transferleistungsbezug, nicht jedoch der Armut entkam.

Die von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gebildete Ampel-Koalition wollte mit der Kindergrundsicherung (KGS) eigentlich für Abhilfe sorgen, stritt aber monatelang über die konkrete Ausgestaltung der Reform. Ihr mit erheblicher Verspätung eingebrachter Gesetzentwurf war bloß noch eine Schrumpfversion des Ursprungskonzepts. Aufgrund des Widerstandes der FDP, der Unionsmehrheit im Bundesrat und der Pattsituation im Vermittlungsausschuss ist aus der Kindergrundsicherung letztlich ein parlamentarischer Rohrkrepierer geworden.

Koalitionäre im Streit um die Kindergrundsicherung

Nachdem sie nicht ohne viele Zugeständnisse an die Union das Bürgergeld als vermeintlichen Hartz-IV-Ersatz zum 1. Januar 2023 eingeführt hatte (vgl. hierzu: Butterwegge 2022, 2023, S. 121 ff.), war die Kindergrundsicherung das familien- und sozialpolitische Prestigeprojekt der Ampel-Koalition schlechthin. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) legte dem Kabinett am 19. Januar 2023 ihre „Eckpunkte zur Ausgestaltung der Kindergrundsicherung“ (BMFSFJ 2023) vor, die zwar im Hinblick auf die Höhe der geplanten Leistungen recht vage blieben, aber immerhin erkennen ließen, dass sie persönlich damit weitreichende Ziele verband.

Mit der Kindergrundsicherung zusammengefasst werden das Kindergeld, das Bürgergeld und die Sozialhilfe für Kinder, der Kinderzuschlag sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes. Außen vor ließ man hingegen den steuerlichen Kinderfreibetrag (für wohlhabende und reiche Familien) sowie die kinderbezogenen Asylbewerberleistungen (für ganz arme Familien). Damit bleibt der im Sammelbegriff „Kindergrundsicherung“ formulierte Anspruch unerfüllt, sämtliche dafür geeignete Leistungsarten des Staates zu integrieren und zu vereinheitlichen.

Die neue Leistungsart besteht aus einem für alle Familien gleichen Kindergarantiebetrag sowie einem altersgestaffelten und einkommensabhängigen Kinderzusatzbetrag. Laut dem Eckpunktepapier (BMFSFJ 2023, S. 3 f.) sollte der Garantiebetrag beim anvisierten KGS-Start im Januar 2025 „mindestens“ der Höhe des dann geltenden Kindergeldes entsprechen. Mehr als 250 € im Monat war in einer Koalition mit der FDP gar nicht durchsetzbar. Pate für den Kinderzusatzbetrag gestanden hat der Kinderzuschlag, welcher bisher verhindern soll, dass Menschen nur wegen ihrer Kinder die Grundsicherung für Arbeitsuchende (Bürgergeld) in Anspruch nehmen müssen. Für den Anspruch auf Kinderzuschlag erforderlich ist die Überschreitung einer Mindesteinkommensgrenze (600 € brutto im Monat bei Alleinerziehenden und 900 € brutto bei Paarfamilien), die beim Kinderzusatzbetrag entfällt. Aus dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) werden die altersgestaffelten Regelbedarfe sowie die Kinderwohnkostenpauschale von 120 € im Monat nach dem Existenzminimumbericht (Bedarf für Unterkunft und Heizung) in den Kinderzusatzbetrag übernommen, die es beim Kinderzuschlag nicht gibt, weil ergänzend zu ihm Wohngeld bezogen werden kann.

Kaum hatten erste Sondierungsgespräche der übrigen Kabinettsmitglieder mit Finanzmister Christian Lindner (FDP) für den Bundeshaushalt 2024 begonnen, geriet die Kindergrundsicherung in den Strudel sich zuspitzender Verteilungskämpfe zwischen den Koalitionspartnern. Bundesfamilienministerin Paus bezifferte die durch Einführung der Kindergrundsicherung entstehenden Mehrkosten pauschal mit 12 Mrd. € jährlich. Lindner, für den es sich bei der Kindergrundsicherung in erster Linie um ein Projekt zur Digitalisierung des Sozialstaates, zur Vereinfachung der Leistungsvergabe und zum Bürokratieabbau, nicht aber zur Anhebung der Transferleistungen für bedürftige Familien handelt, nannte dagegen einen Kostenrahmen von zwei bis drei Milliarden Euro. Schließlich wollte der Bundesfinanzminister erneut die „Schuldenbremse“ einhalten, lehnte Steuererhöhungen prinzipiell ab und stand der Kindergrundsicherung skeptisch gegenüber.

Einem verengten Armutsbegriff geschuldete Vorbehalte der FDP

Bei diesem Konflikt handelte es sich aber nicht bloß um einen haushaltspolitischen Streit zwischen den Regierungsparteien. Vielmehr steckten auch gravierende Differenzen der Koalitionspartner in Bezug auf die Familien- und Sozialpolitik dahinter. Zudem gingen FDP und Bündnisgrüne von einem Armutsverständnis aus, das unterschiedlicher kaum hätte sein können, aber nie zum Thema der öffentlichen Diskussion wurde.

Eine ganz ähnliche Kontroverse hatte es vor einem Vierteljahrhundert um den Zehnten Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung gegeben. Damals hielt es die von dem Berliner Bildungsforscher Lothar Krappmann geleitete Sachverständigenkommission wegen unterschiedlicher Definitionen und Messverfahren zwar für unmöglich, die Zahl der von Armut betroffenen Kinder und Familien zu ermitteln, stellte jedoch nach Jahrzehnten der Verharmlosung, Leugnung und Verdrängung regierungsoffiziös fest, dass „Kinderarmut ein gravierendes Problem in Deutschland“ (BMFSFJ 1998, S. 90) sei. Sowohl der Anteil von Kindern und Jugendlichen im Sozialhilfebezug als auch der Anteil jener Kinder war gestiegen, deren bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen nicht die Hälfte des Einkommensanteils erreichte, welcher für sie im Haushalt hätte vorhanden sein müssen, um oberhalb der so definierten Armuts(risiko)grenze zu leben.

Die damalige Familienministerin Claudia Nolte (CDU) übte kurz vor der für Kanzler Helmut Kohl entscheidenden Bundestagswahl im September 1998 öffentlich Kritik am Armutsbegriff der von ihr eingesetzten Expertenkommission. Sie erklärte das Konzept der relativen Einkommensarmut, das die EU-Kommission und Armutsforscher_innen bis heute verwenden, sowie die Orientierung der Kommission an der 50-Prozent-Marke des Durchschnittseinkommens und am Sozialhilfebezug kurzerhand für ungeeignet, um soziale Problemlagen von Familien und Kindern zu erfassen. Die schwierige Wirtschaftsentwicklung der vergangenen Jahre belaste auch Kinder und Jugendliche, hieß es, denn die hohe Arbeitslosigkeit habe negative Folgen für die betroffenen Familien. Gleichwohl beruhigte die seinerzeit von CDU, CSU und FDP gebildete Bundesregierung die Öffentlichkeit in einer Stellungnahme zum Kommissionsbericht: „Die sozialen Sicherungssysteme – Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe etc. – verhindern existenzbedrohende Not und reale Armut.“ (BMFSFJ 1998, S. XIII) Transferleistungen bekämpften Armut, schafften diese jedoch nicht. Auch sei die steigende Zahl der Leistungsbezieher_innen kein Anzeichen für wachsende Armut, wenn sie aus einer Anhebung der Regelsätze oder der Mehrbedarfszuschläge resultierten: „Diese Verbesserungen beweisen vielmehr, daß in unserer Wirtschaftsordnung, der Sozialen Marktwirtschaft, Armut nachhaltig bekämpft wird.“ (ebd., S. XV).

Konservativen und Neoliberalen erlaubt es ihr verengter Armutsbegriff, die Zahl der Betroffenen wie der Unterstützungsbedürftigen kleinzurechnen und die bescheidenen Erfolge der eigenen Sozialpolitik schönzureden, reduziert er Kinderarmut doch auf die sog. Dunkelziffer einer Nichtinanspruchnahme von Transferleistungen durch Familien. Bis heute hält die FDP an ihrer Überzeugung fest, Kinderarmut existiere hierzulande nur insofern, als manche Familien ihnen eigentlich zustehende Transferleistungen des Staates – aus welchen Gründen auch immer: Unkenntnis, Behördenfurcht, Scham und/oder Stolz – nicht in Anspruch nehmen. Sobald sich ein Kind jedoch im Leistungsbezug befindet, endet per definitionem seine Armutsgefährdung.

Nach diesem Armutsverständnis müsste der Kinderzusatzbetrag nicht höher sein als die Regelbedarfsstufen des Bürgergeldes für Kinder (abzüglich des Kindergarantiebetrages), weil seine einzige Aufgabe darin bestünde, die Anzahl jener Familien zu erhöhen, die ihren berechtigten Anspruch auf staatliche Leistungen geltend machen. Folgerichtig plädierte die FDP vornehmlich dafür, mehr Eltern den Leistungsbezug durch eine Umstellung des Antragsverfahrens zu erleichtern. Hierbei konnte sie auf eine Passage des Koalitionsvertrages (o.J., S. 78) mit SPD und Bündnisgrünen verweisen, in der es heißt: „Wir wollen mit der Kindergrundsicherung bessere Chancen für Kinder und Jugendliche schaffen und konzentrieren uns auf die, die am meisten Unterstützung brauchen. Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen und setzen dabei insbesondere auch auf Digitalisierung und Entbürokratisierung.“

Tatsächlich müssen jene Kinder, deren Eltern weder das Bürgergeld noch den Kinderzuschlag beantragen, diese Leistungen aber sonst erhalten würden, möglichst umgehend in das Grundsicherungssystem einbezogen werden. Wäre dies aber das alleinige Ziel der Kindergrundsicherung, könnte sich die Ampel-Koalition auf eine reine Verwaltungsreform beschränken, wie es der FDP mit einem relativ geringen Mehraufwand für den Bund vorschwebte. Nach den Kriterien der Europäischen Union wachsen aber auch Hunderttausende andere Kinder und Jugendliche in Familien auf, die trotz Transferleistungsbezugs einkommensarm oder armutsgefährdet sind. Davon, dass die Armut sämtlicher Kinder beseitigt werden soll, war im Koalitionsvertrag leider nicht die Rede.

Kinderarmut in Deutschland – ein von Flüchtlingsfamilien importiertes Problem?

Aufgrund der in den zehn Jahren zuvor gestiegenen Zuwanderungszahlen, ließ die liberal-konservative Bundesregierung seinerzeit verlauten, müsse davon ausgegangen werden, dass die bereits gegen Ende der 1990er-Jahre relativ hohe Zahl von Kindern und Jugendlichen im Sozialhilfebezug „zum Teil auf diese Entwicklung zurückzuführen“ (BMFSFJ 1998, S. XVI) sei. Christian Lindner sah in der noch größeren Kinderarmut ein Vierteljahrhundert später gleichfalls eher ein importiertes Problem, das er auf die wachsende Zahl der nach Deutschland gekommenen Flüchtlingskinder zurückführte. Hierbei stützte sich Lindner auf Daten der Bundesagentur für Arbeit, wonach die Zahl der Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit, die in Grundsicherung leben, seit 2015 um rund ein Drittel (von 1,5 Mio. auf etwa eine Million) gesunken war. Die genannten Zahlen ließen aber nur bedingt Aussagen über die soziale Lage von Familien mit deutscher Staatsangehörigkeit zu, die nicht mehr im SGB-II-Bezug waren, weil deren Kinder nicht schon dadurch aus der Armutsrisikozone hinausgelangten, dass ihnen kein Bürgergeld mehr zustand. So gut es für die Familien war, den verbesserten Kinderzuschlag, den entfristeten Unterhaltsvorschuss und/oder das erhöhte Wohngeld in Anspruch nehmen zu können, sie blieben einkommensarm oder armutsgefährdet.

An der Zahl armutsgefährdeter Familien und Kinder deutscher Staatsangehörigkeit hat sich wenig geändert, weil das Ende ihres Transferleistungsbezugs nicht das Ende der Einkommensarmut bedeutet. Außerdem ist es moralisch fragwürdig und sachlich völlig unangebracht, arme Kinder nach ihrer Staatsangehörigkeit zu sortieren, wenn sie hierzulande leben und aufwachsen. Letztlich hängt die Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik stark davon ab, dass nicht ein großer Teil der jungen Generation sozial benachteiligt und wegen der ethnischen Herkunft seiner Eltern diskriminiert wird.

Wenn eine Gesellschaft die Kindheit dermaßen ökonomisiert und kommerzialisiert, wie das in Deutschland seit dem Jahrtausendwechsel geschehen ist (vgl. hierzu: Butterwegge und Butterwegge 2021, S. 135 ff.), muss sie den Familien auch die für den Lebensunterhalt und Alltagskonsum ihrer jüngsten Mitglieder nötigen Finanzmittel zur Verfügung stellen. Nur durch Umverteilung von Geld, das für die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben so wichtig ist wie noch nie, aber auch noch nie so ungerecht verteilt war wie heute, kann man die Armut von Kindern und Jugendlichen verringern. Auf der Basis dieser Erkenntnis hätten SPD, Bündnisgrüne und FDP ihr Konzept einer Kindergrundsicherung armutsfest und bedarfsgerecht gestalten und geschlossen im Parlament durchsetzen müssen, was aber nicht geschah.

Die gravierendsten Konstruktionsfehler der Kindergrundsicherung

Lisa Paus wollte die Transferleistungen für Kinder von einer „Holschuld“ der Familien zu einer „Servicepflicht“ des Sozialstaates machen, wie sie zu Beginn der Diskussion sagte. Ein digitales Kindergrundsicherungsportal und ein automatisierter Kindergrundsicherungscheck sollen die Beantragung der Kindergrundsicherung erleichtern. Möglicherweise benachteiligt eine Digitalisierung des Antragsverfahrens aber gerade jene Familien, die am meisten auf KGS-Leistungen angewiesen sind, weil ihnen die nötigen Kenntnisse, ein WLAN-Anschluss und/oder passende Endgeräte fehlen. Wer als „bildungsfern“ gilt, wäre dann beim Antragsverfahren noch stärker als bisher benachteiligt.

Anknüpfend an den Koalitionsvertrag hieß es in den Eckpunkten der Bundesfamilienministerin, „perspektivisch“ solle der Garantiebetrag die maximale Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrages erreichen (vgl. BMFSFJ 2023, S. 2). Dieser deckt das sächliche Existenzminimum von 502 € pro Monat sowie den Betreuungs‑, Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf von 244 € pro Monat ab und entlastet Spitzenverdiener, die den Reichensteuersatz von 45 % und den Solidaritätszuschlag zahlen, um 354,16 € pro Monat, während Normalverdienenden, die das Kindergeld (250 €) oder künftig den vermutlich gleich hohen Kindergarantiebetrag erhalten, monatlich 104,16 € weniger zur Verfügung stehen.

Durch ihre starke Position in der Ampel-Koalition hat die FDP verhindert, dass dem Staat jedes Kind gleich viel wert ist. Zu fragen bleibt also weiterhin, warum Investmentbanker, Topmanager und Chefärzte im Gegensatz zu Erzieherinnen, Pflegekräften oder Verkäuferinnen einen hohen Steuerfreibetrag für ihren Nachwuchs in Anspruch nehmen, den sie gar nicht benötigen. Wann, wenn nicht bei Einführung der Kindergrundsicherung, ließe sich dieses Paradox einer sozial widersinnigen Ungleichbehandlung der Familien beseitigen? Nie war der Zeitpunkt günstiger, um das Steuerprivileg von Spitzenverdienern mit Kindern aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit in Frage zu stellen.

Entspräche die Höhe des Kindergarantiebetrags der maximalen Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrages, wie von Lisa Paus gewünscht, wäre die Familienförderung keineswegs sozial gerecht ausgestaltet, vielmehr nach dem Gießkannenprinzip organisiert und für den Staat sehr kostenintensiv. Der um mehr als 100 € monatlich erhöhte Kindergarantiebetrag käme nämlich auch zahlreichen Mittelschichtfamilien zugute, deren finanzielle Situation ohnedies mehr als zufriedenstellend ist. Nicht die Höhe des allen Familien zustehenden Garantiebetrages, sondern die Höhe des für einkommensschwache Familien reservierten Zusatzbetrages entscheidet darüber, ob der Kampf gegen Kinderarmut und soziale Ungleichheit erfolgreich verläuft. Vor allem über die Höhe des Zusatzbetrages gab es daher zwischen den Regierungsparteien große Meinungsverschiedenheiten.

Wenn materiell bessergestellte Eltern auch nach Einführung der Kindergrundsicherung mehr Geld für die Betreuung und Erziehung ihres Nachwuchses bekommen als Familien mit normalen Einkommen, gibt es im Sozialstaat der Bundesrepublik weiterhin Minderjährige „erster“ und „zweiter Klasse“, selbst wenn die Stigmatisierung der bisherigen Minderjährigen „dritter Klasse“ durch Einführung der Kindergrundsicherung, die sie aus dem „Bürger-Hartz“-Bezug herausholt, abgemildert werden könnte.

Spitzenverdiener könnten auf einen Steuernachlass für die Bestreitung des Lebensunterhalts ihrer Kinder verzichten. Daher sollte der steuerliche Kinderfreibetrag abgeschafft und das Ziel der „horizontalen Steuergerechtigkeit“ durch das Ziel der vertikalen Gleichheit und des sozialen Ausgleichs zwischen den Familien ersetzt werden. Selbst das Bundesverfassungsgericht kann sich schwerlich der Einsicht verschließen, dass die wachsende Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft und nicht länger hinnehmbar ist.

Noch am ehesten von der KGS-Reform profitieren dürften Familien, die ihnen zustehende Leistungen bislang gar nicht erhalten, etwa deshalb, weil die unterschiedlichen und komplizierten Beantragungsverfahren sie überfordern. Ruft eine Familie im Bürgergeldbezug jedoch alle ihr aus dem Bildungs- und Teilhabepaket heute schon zustehenden Leistungen für das Kind oder die Kinder ab, hat sie nach der KGS-Einführung vermutlich kaum mehr Geld zur Verfügung (vgl. die das Eckpunktepapier zugrunde legenden Berechnungen bei Aust und Werner 2023).

Heranwachsende gehören zu den Hauptnutznießer(inne)n der Reform, weil sie moderate Leistungserhöhungen erwarten und bei Volljährigkeit einen persönlichen Auszahlungsanspruch für den Kindergarantiebetrag erhalten. Hingegen schloss der am 27. September 2023 vom Bundeskabinett verabschiedete Gesetzentwurf die Kinder von Geflüchteten und Geduldeten vom Garantie- wie vom Zusatzbetrag aus. Zuletzt gelang der FDP noch die Streichung des bisher auch im Asylbewerberleistungsgesetz verankerten und seit dem 1. Juli 2022 gewährten Anspruchs dieser Kinder auf einen monatlichen Sofortzuschlag in Höhe von 20 €, der die hohen Preissteigerungen bis zur Einführung der Kindergrundsicherung abfedern sollte, zum 1. Januar 2025.

Alleinerziehende könnten sich in bestimmten Fällen verbessern, weil Unterhaltsleistungen und Unterhaltsvorschuss bei der Bemessung des Kinderzusatzbetrages bloß noch zu 45 % als Kindeseinkommen angerechnet werden, wie das bisher schon beim Kinderzuschlag der Fall war. Beim bisherigen Bürgergeldbezug sind es hingegen 100 %, die angerechnet werden. Bei besonders hohem Unterhalt greift bei der Anrechnung eine Staffelung zwischen 45 und 75 %. Allerdings gilt die verbesserte Anrechnung beim Unterhaltsvorschuss nur bis zum 7. Geburtstag des Kindes. Danach muss der alleinerziehende Elternteil mindestens 600 € verdienen. Dadurch will die FDP mehr Erwerbsanreize setzen, weil Alleinerziehende sich sonst angeblich häufiger mit Minijobs begnügen.

Da aus dem Bildungs- und Teilhabepaket ausschliesslich der Betrag für die kulturelle Teilhabe (Besuch einer Musikschule, Mitgliedschaft im Sportverein o. Ä.) und das Schulbedarfspaket im Kinderzusatzbetrag aufgehen sollen, muss für das kostenfreie Mittagessen in einer Ganztagseinrichtung, Schulausflüge und Klassenfahrten, die Schülerbeförderung sowie die Lernförderung (Nachhilfe) weiterhin ein separater Antrag gestellt werden. Von einer Vereinfachung des Antragsvorgangs durch die Kindergrundsicherung kann in diesem Fall also keine Rede sein.

Glaubt man Angaben der Bundesregierung (2023, S. 1, 5 und 6), sollen mit dem Kinderzusatzbetrag bis zu 5,6 Mio. Leistungsberechtigte erreicht werden, die hierdurch entstehenden Mehrkosten im Jahr 2025 aber nur 2,4 Mrd. € betragen. Auf der Kostenseite fallen rund 71 Mio. € als einmaliger und 408 Mio. € jährlich als laufender Erfüllungsaufwand an, die Verwaltungskosten beim Familienservice der Bundesagentur für Arbeit sind. Das ergibt zusammen pro Kind gerade einmal 429 € im Jahr oder 36 € pro Monat. Wie man damit Kinder- und Jugendarmut in Deutschland erfolgreich bekämpfen will, erschließt sich nicht.

Alternativen zur Kindergrundsicherung der Ampel-Koalition

Das mit viel Vorschusslorbeeren versehene KGS-Projekt von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hätte die Familienarmut bei richtiger Ausgestaltung durchaus verringern können. Es handelt sich aufgrund der sukzessive erfolgten Änderungen, Einschränkungen und Leistungsrestriktionen jedoch bloß noch um eine missratene Fortentwicklung des Kinderzuschlages, der verhindern sollte, dass Eltern wegen ihres Nachwuchses SGB-II-Leistungen (Arbeitslosengeld II, seit dem 1. Januar 2023: Bürgergeld) in Anspruch nehmen müssen, eine Übernahme der Abstufung von Regelbedarfen nach dem Lebensalter im Bürgergeld und eine fragwürdige Verwaltungsreform, die Kinder im Sozial- bzw. Bürgergeldbezug aus der Zuständigkeit des Jobcenters herauslöst und sie stattdessen von noch zu schaffenden Familienservicestellen der Bundesagentur für Arbeit betreuen lässt, sofern sie nicht durch Mehr- und Sonderbedarfe oder sehr hohe Wohnkosten doch wieder in den Aufgabenbereich des für ihre Eltern zuständigen Jobcenters fallen.

Kritik am Referentenentwurf eines Bundeskindergrundsicherungsgesetzes äußerte denn auch die Bundesagentur für Arbeit (BA 2023, S. 4), weil ihre Familienkasse, nunmehr in Familienservice umbenannt, binnen Jahresfrist flächendeckend Anlaufstellen zur persönlichen und digitalen Beratung schaffen sollte. Da die Erfüllung von der Kindergrundsicherung nicht gedeckter Mehr- und Sonderbedarfe durch das Bürgergeld erfolgen soll, fürchtete sie außerdem eine administrative Überlastung der Jobcenter (ebd., S. 11). Um diesen Bedenken wenigstens einigermaßen Rechnung zu tragen, räumte man der Bundesagentur für Arbeit mehr Zeit für die nötigen Umstellungsmaßnahmen ein.

Fraglich ist, ob die Kindergrundsicherung der Regierungsparteien geeignet ist, die weit verbreitete und oft verdeckte Armut von Minderjährigen zu beseitigen oder die soziale Ungleichheit innerhalb der nachwachsenden Generation wenigstens zu verringern. Die geplante Schaffung von Familienservicestellen der Bundesagentur für Arbeit führt womöglich zu einem Behördenchaos, weil das Jobcenter für die Eltern im Grundsicherungsbezug zuständig bleibt. Durch die vorgesehene Vernetzung unterschiedlicher Behörden, der Bundesagentur für Arbeit bzw. Jobcenter, der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Finanzämter werden die Betroffenen zu „gläsernen Menschen“ gemacht, die den Leistungsbezug wahrscheinlich mit ihren persönlichsten Daten erkaufen (müssen).

Um allen Kindern in Deutschland ein gutes und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, ist mehr nötig als eine Zusammenfassung bisheriger familienpolitischer Leistungen. Diese müssten armutsfest gemacht und bedarfsorientiert vergeben werden. Dazu gehört der Einbau von Regelungen, mit denen speziellen Bedarfen und Härten begegnet werden kann, zum Beispiel für den Fall, dass plötzlich die Waschmaschine kaputtgeht oder einem Kind im nächsten Jahr die alte Winterjacke nicht mehr passt.

Armut ist auch mehr, als wenig Geld zu haben. Sozial benachteiligte Familien können ihren Kindern weder ein gutes Leben noch gleiche Bildungschancen und optimale Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Der im vereinten Deutschland seit Jahrzenten wachsenden Kinderarmut sollte daher mit einer Doppelstrategie begegnet werden, die auf der individuellen und auf der infrastrukturellen Ebene ansetzt. Erforderlich ist sowohl eine finanzielle Besserstellung armutsbetroffener und -gefährdeter Familien wie auch ein umfassender Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur. Nur wenn beides zugleich passiert, sind größere Erfolge im Kampf gegen die Kinderarmut möglich.