Stigmatisierung und Vorurteile sind eng verwandte Konzepte, die zu einer Benachteiligung der Betroffenen führen, die ein entsprechendes Merkmal auf sich tragen. Menschen mit Suchterkrankungen werden – auch innerhalb der Hilfesysteme – stigmatisiert, besonders Frauen. Eltern mit Suchterkrankungen sind sowohl für Prävention als auch für Behandlung von Suchterkrankungen eine zentrale Zielgruppe. Aber werden Mütter und Väter mit einer Suchterkrankung dabei gleich wahrgenommen oder zeigen sich hier eltern- und geschlechtsrollenspezifische Intersektionalitätseffekte, die es in entsprechenden Angeboten zu berücksichtigen gilt?

Stigmatisierung stellt einen Prozess dar, an dessen Ende Personen Diskriminierung erfahren, die das entsprechende „Brandzeichen“ (griechisch: Stigma) auf sich tragen. Dabei erfolgt die Diskriminierung nicht infolge einer individuell zum jeweiligen Zeitpunkt vorliegenden Eigenschaft bzw. Verhaltensweise, sondern aufgrund einer Kategorisierung zu einer Gruppe, welcher die vorliegenden Eigenschaften/Verhaltensweisen unterstellt werden. Der Prozess der Stigmatisierung lässt sich in die Schritte „Labeling“, Zuschreibung negativer Attribute, Separierung in Eigen- und Fremdgruppe, Statusverlust und Diskriminierung unterteilen. Stigmatisierung kann als Sonderform von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Erkrankungen gesehen werden.

Vorurteile definieren sich durch eine negative Einstellung gegenüber einer Fremd-Gruppe – wobei der englische Begriff der „Out-Group“ hier passender ist, da es gar nicht um „fremd“ im Sinne von unbekannt gehen muss, sondern hiermit lediglich die Differenz zur „Eigengruppe“ (im Englischen dann „In-Group“) beschrieben wird. Einstellungen wiederum bestehen aus kognitiven, affektiven und handlungsbezogenen Komponenten gegenüber einem Einstellungsobjekt. Ein Einstellungsobjekt kann auch eine Gruppe von Personen sein, die sich durch ein bestimmtes Merkmal kennzeichnet, beispielsweise das zugeschriebene Geschlecht oder eine bestimmte Erkrankung. Ein Vorurteil würde nach dieser Definition nun eine negative kognitive Komponente wie etwa: „Männer sind gefährlich, herrschsüchtig, unempathisch“, eine affektive Komponente wie Angst und Wut auf Männer und eine handlungsbezogene Komponente, zum Beispiel Bemühung um Distanz zu Männern beziehen. Wieso spricht man nun im Allgemeinen nicht von einer Stigmatisierung von Männern? Dies hat damit zu tun, dass im Konzept der Stigmatisierung ein Machtgefälle bestehen muss, so dass stigmatisierende Personen Macht über jene Personen haben müssen, die stigmatisiert werden. Während dies in einer modernen Gesellschaft an einigen Stellen auch gegenüber „Männern“ der Fall sein kann, ist die überwiegende Mehrheit der „Machtpositionen“ doch immer noch „männlich“ besetzt. Für Menschen mit Erkrankungen, insbesondere mit psychischen Erkrankungen, wie etwa Suchterkrankungen ist dies jedoch meist nicht der Fall, da mit vielen Erkrankungen – zumindest temporär – eine Einschränkung von Handlungsfähigkeit einhergeht und oft – ebenfalls meist temporär – eine Angewiesenheit auf Hilfe und somit ein Machtgefälle zum Nachteil der Betroffenen besteht.

Ebenen von Stigmatisierungen bei Suchterkrankungen

Stigmatisierung kann auf öffentlicher, struktureller und persönlicher, auch internalisierter Ebene stattfinden. Im öffentlichen Stigma kommt der oben beschriebene Prozess dadurch zu Stande, dass ein bestimmtes „Label“ für eine bestimmte Personengruppe vergeben wird (z. B. Alkoholabhängigkeit), diesem Label negative Attribute zugeschrieben werden (z. B. unzuverlässig, gefährlich, unmotiviert), die mit diesem Label markierten Menschen als „anders“ definiert wird und dadurch eine Abgrenzung zur eigenen Gruppe ohne dieses Label stattfindet („die Suchtpatient_innen“ vs. „wir Gesunden“) und zuletzt für die mit dem Label bezeichneten Personen ein Statusverlust bzw. eine Diskriminierung gegen diese erfolgt, die zum Statusverlust führt (z. B. Aberkennung von Fürsorgefähigkeit in Sorgerechtsstreits, schlechtere Behandlung in Notaufnahmen, Benachteiligung bei Wohnraumsuche etc.).

Auf struktureller Ebene sind eventuell auch prinzipiell positive Strukturen stigmatisierend. So ist etwa die Trennung von Suchthilfe und anderer medizinischen, psychotherapeutischen oder sozialarbeiterischen Hilfsangeboten für Menschen mit anderen psychischen Problemen zu beachten, bei der in der Praxis oftmals Betroffene mit Suchterkrankungen einerseits zwar hochgradig für Suchtbehandlung spezialisierte Angebote erhalten, gleichzeitig jedoch eine adäquate Versorgung anderer psychischer Störungen wie sie bei vielen Suchterkrankungen komorbid auftreten oder primär Ursache für die Suchtentwicklung waren, nicht gewährleistet werden kann. Unsägliche Diskussionen über die Zuständigkeit in Kliniken und sonstigen Einrichtungen, wo und durch wen Betroffene mit Doppeldiagnosen und psychischen Komorbiditäten Behandlung erfahren, sind weithin bekannt.

Auf individueller Ebene ist das Bedürfnis nach sozialer Distanz zu Menschen, die mit dem Label „Sucht“ versehen wurden, zu beobachten und dadurch etwa der Ausschluss an wichtigen Aspekten des zwischenmenschlichen Zusammenseins. Personen, die sowohl die öffentlichen negativen Einstellungen gegenüber Menschen mit Suchterkrankungen kennen, diesen zustimmen und bei sich selbst beobachten, dass sie eine Suchterkrankung erleiden, erleben oftmals einen übermäßigen Selbstwertverlust und zusätzlich eingeschränkte Selbstwirksamkeit, da sie ggf. im Zuge einer Stigma-Internalisierung die Vorurteile auf sich selbst übertragen. Diese „Selbst-Stigmatisierung“ oder besser Stigma-Internalisierung ist insofern ein großes Problem, da sie einerseits intrapsychische Prozesse fördert, die zur Vermeidung der Offenlegung der Problematik führt und andererseits den für die Bewältigung der Suchterkrankung so wichtigen Resilienzfaktor des Selbstvertrauens bzw. Selbstwerts reduziert, zusätzlich zu den Funktionseinschränkungen, die durch die Erkrankung selbst hervorgerufen werden. Als Beispiel stelle man sich eine Person vor, die selbst die negative Einstellung gegenüber Menschen mit Suchterkrankungen teilt, dass diese unzuverlässig und unmotiviert seien, dann bei sich selbst die Suchterkrankung erlebt und wahrnimmt, sich selbst für unzuverlässig und unmotiviert hält, und zwar über die Maße bzw. Lebensbereiche hinaus, die eine entsprechend zeitlich begrenzte und auf einzelne Funktionsbereiche beschränkte Unzuverlässigkeit beziehungsweise Unmotiviertheit tatsächlich rechtfertigen würden.

Abgrenzung von Stigmatisierung zu Nicht-Stigmatisierung

An dieser Stelle sei auf die definitorisch wichtige Trennung verwiesen, dass Stigmatisierung und Vorurteile unzulässige weitere Zuschreibungen aufgrund eines berechtigt zugeschriebenen Merkmals darstellen. Folglich ist es keine Stigmatisierung bzw. kein Vorurteil, Menschen entsprechend ihrer tatsächlichen Handlungsfähigkeiten und Merkmale entsprechend zu benennen. Beispielhaft sei die Komorbidität von antisozialer Persönlichkeitsstörung und Suchtproblemen genannt: Bei einer Person, die sowohl eine antisoziale Persönlichkeitsstörung als auch eine Alkoholabhängigkeit hat und infolgedessen wiederholt mit gefährlichem Verhalten auffiel und als gefährlich beurteilt wird, würde man beispielsweise nicht von Stigmatisierung und Vorurteilen sprechen. Würde jedoch bei einer Person lediglich aufgrund des Merkmals „Mensch mit Alkoholabhängigkeit“ auf Antisozialität geschlossen werden, wäre dies ein Vorurteil beziehungsweise Stigmatisierung.

Diese Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, da sie für die Bewältigung existenter Probleme wichtig ist und Personen mit sowohl antisozialer Persönlichkeitsstörung wie mit Alkoholabhängigkeit andere Formen der Unterstützung benötigen als Personen ohne antisoziale Persönlichkeitsstörung. An diesem Beispiel können ebenfalls Schwierigkeiten der Wissenschaftskommunikation dargestellt werden. Wissenschaftlich gut untersucht und belegt wurde, dass Suchterkrankungen mit einer Reihe unerwünschter biologischer, psychologischer und sozialer Folgen assoziiert sind. So führt der chronische Konsum von Alkohol zu einem erhöhten Risiko für Leberschädigungen, Herz-Kreislauferkrankungen und Krebserkrankungen etc., zu häufigeren Gedächtnis- und Konzentrationsproblemen, und häufiger zu Gewalt oder Vernachlässigung gegenüber anderen (Donroe und Edelman 2022; McGovern et al. 2020). Oftmals liegen diesen Beobachtungen jedoch auch wissenschaftsökonomische Limitationen zugrunde, die eine Vereinfachung zugunsten von Kategorisierung oder der Beschreibbarkeit und Verständlichkeit erfordern. Einerseits werden häufig Gruppen entsprechend der Labels „Menschen mit Abhängigkeitserkrankung“ mit Gruppen der In-Group („gesunde“ Menschen) verglichen. Dies ist notwendiges und legitimes Vorgehen, welches jedoch gleichzeitig die für Stigmatisierung relevante „Trennung in In- und Out-Group“ begünstigt. Dimensionale Verständnisse, wie sie auch in der moderneren Konzeption von Suchtstörungen im DSM‑V umgesetzt wurden, sind einerseits stigmareduzierend und wären auch statistisch erklärungsmächtiger, sind jedoch komplexer in der wissenschaftlichen Umsetzung und Beschreibung. Ein weiteres Risiko besteht darin, wenn dann aus Risiko-Berechnungen falsche Umkehrschlüsse gezogen werden und bei relativen Risiko-Erhöhungen die Basisrate ignoriert wird. Ein Beispiel hierfür wäre das empirische Ergebnis, dass das Psychose-Risiko bei Cannabiskonsumierenden um das Zwei- bis Vierfache erhöht ist (Marconi et al. 2016). Bedenkt man die Grundrate von einem Prozent für psychotische Erkrankungen, wird klar, dass es ein völlig falscher Umkehrschluss wäre, dass auch nur annähernd eine Mehrheit der Cannabiskonsumierenden psychotisch würden. Dies wäre ein Beispiel für eine Stigmatisierung durch falsch verstandene Statistik.

Besser den Konsum kritisieren als Menschen mit Suchterkrankung stigmatisieren

Wichtig für das Auftreten dieser Folgen ist jedoch, dass nicht per se die Suchterkrankung die Schäden zur Folge hat, sondern der Konsum der jeweiligen Substanzen, bzw. Verhaltensangebote (Glückspiel, Online-Gaming etc.). Da Suchterkrankungen oftmals mit einem erhöhten Konsum einhergehen und zumindest bis einschließlich ICD-10 ja auch mitunter durch das Kriterium „Fortgesetzter Konsum trotz negativer Konsequenzen“ definiert wurde, ist auch hier verständlich, dass der Schluss „Suchterkrankungen führen zu negativen bio-psycho-sozialen Konsequenzen“ nahe liegt. Im ICD-11 wurde die Definition dahingehend verändert, dass weniger die Konsequenzen aus chronischem Suchtmittelkonsum definitorisch relevant sind, sondern eine verstärkte Priorisierung und Fokussierung auf den Konsum. Dies ist vor dem Hintergrund des Wissens über das Alcohol-Harm-Paradox sowie auch bei anderen Substanzen gemachten Beobachtungen sinnvoll, dass Menschen mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status differentiellen Risiken durch Suchtmittelkonsum ausgesetzt sind. So konnten Probst et al. (2021) zeigen, dass bei niedrigem Bildungsgrad, niedrigem Einkommen und geringerer Beschäftigungsquote die Konsequenzen von Alkohol deutlich häufiger auftreten als bei Menschen, die einen hohen sozialen Status besitzen. Auch beim Konsum von Tabak konnte gezeigt werden, dass Zusammenhänge mit den Gesundheitsgefahren überwiegend bei der Personengruppe mit niedrigerem sozialem Status feststellbar waren (Harris et al. 2023). Da Betroffene von Suchterkrankungen mitunter zu den am stärksten von sozialem Ausschluss bedrohten Personengruppen zählen, bedeutet dies ein besonders hohes Risiko für Personen, die sowohl einen niedrigen sozialen Status als auch eine Suchterkrankung haben.

Stigmatisierung von Sucht in der Suchthilfe und geschlechtsrollentypische Zuschreibungen

Stigmatisierung ist auch innerhalb des Gesundheitssystems ein Problem. So bevorzugen es Fachkräfte des Gesundheitswesens, nicht mit Menschen mit Suchterkrankungen zu arbeiten (Reyre et al. 2014). Auch innerhalb der Fachdisziplinen für psychische Gesundheit und sogar bei Spezialist_innen für Suchtbehandlung bestehen stigmatisierende Einstellungen gegenüber Menschen mit Suchterkrankungen (van Boekel et al. 2015). Zusätzlich zu der suchtspezifischen Diskriminierung von Menschen mit Suchterkrankungen im Gesundheitswesen kommen noch weiter benachteiligende Effekte aufgrund von Intersektionalität. So konnte gezeigt werden, dass Frauen mit einem auffälligen Screening für Alkoholprobleme seltener als Männer eine gebotene Kurzintervention erhielten und sich diese Ungleichheit noch stärker bei Zugehörigkeit zu ethnischen Minoritäten zeigte (Parthasarathy et al. 2023). Diese zusätzliche Diskriminierung von Frauen mit Suchterkrankungen in der Versorgung ist besonders vor dem Hintergrund kritisch, dass Frauen ausgehend von einem schädlichen Konsum schneller und häufiger eine Abhängigkeitserkrankung entwickeln, häufigere Rückfälle erleben als Männer (Becker und Chartoff 2019) und auch anfälliger für konsumbedingte Gesundheitsschäden sind (Kay et al. 2014).

Geschlechtsspezifische Zuschreibung durch zukünftige Fachkräfte der Sozialen Arbeit

Stigmatisierung hat also wie oben beschrieben eine vorverurteilende Komponente. Das bloße Wissen über ein Merkmal führt zu einer Zuschreibung negativer Attribute. Und wie bei anderen Vorurteilen sollten intersektionale Perspektiven berücksichtigt werden. Für Suchterkrankungen besonders wichtig ist die geschlechtsbezogene Perspektive. Einerseits sind Männer deutlich häufiger von Suchterkrankungen betroffen, andererseits wirkt sich der Suchtmittelkonsum bei Frauen häufiger und schneller auf die Gesundheit aus als bei Männern. Wiederum wichtig ist es, die Rollenerwartungen an das Geschlecht zu berücksichtigen, wie etwa bei der Elternrolle. Suchterkrankte Eltern stellen einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Suchterkrankung bei ihren Kindern dar, und Kinder von suchterkrankten Eltern erhalten ein besonderes Augenmerk in der Suchtkrankenhilfe (Klein et al. 2017).

Eine Untersuchung an zukünftigen Fachkräften der Sozialen Arbeit zeigt, dass bei Alkoholabhängigkeit geschlechtsspezifische Elternrollen mit unterschiedlichen Persönlichkeitszuschreibungen einhergehen. Hierzu wurden Studierende des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen Ende Mai 2023 mit einem auf limesurvey.de umgesetzten Online-Fragebogen befragt. In dieser Befragung wurden die Studierenden gefragt, wie sie eine Person in bestimmten Eigenschaften einschätzten, zu der sie lediglich die Information erhielten, dass es sich um ein Elternteil mit einer Alkoholabhängigkeit handelt. Diese Einschätzungen wurden von jeder_m Studierenden sowohl für einen männlichen als auch für einen weiblichen Elternteil erfragt, um der Forschungsfrage nachzugehen, ob die Geschlechtsrolle bei Eltern mit einer Alkoholabhängigkeit zu einer unterschiedlichen Beurteilung der Betroffenen führt. Die Daten wurden mittels T‑Tests für abhängige Stichproben durchgeführt und dabei eine Bonferroni-Korrektur für multiples Testen angewandt. Alle Analysen wurden mit IBM SPSS durchgeführt. Ein Vater mit Alkoholabhängigkeit wurde durchgehend negativer beurteilt als eine Mutter mit Alkoholabhängigkeit. Die Unterschiede blieben selbst nach Bonferroni-Korrektur für multiples Testen noch signifikant dahingehend, dass ein (nicht näher bezeichneter) Vater mit Alkoholabhängigkeit als impulsiver, ungepflegter, egoistischer und weniger zuverlässig und weniger gewissenhaft eingeschätzt wurde als eine (nicht näher bezeichnete) Mutter mit Alkoholabhängigkeit (siehe Tab. 1 und Abb. 1).

Tab. 1 Sample Charakteristika
Abb. 1
figure 1

Mittlere Einschätzungen der erwarteten Ausprägung unterschiedlicher Persönlichkeitseigenschaften, differenziert nach dem Geschlecht des Elternteils mit einer Alkoholabhängigkeit (Fehlerbalken repräsentieren Standardfehler); 0 = trifft überhaupt nicht auf Elternteil mit Alkoholabhängigkeit zu, 4 = trifft sehr zu; *signifikanter Unterschied im Paired sample t‑test, nach Bonferroni-Korrektur für multiples Testen (p < 0,01), #Trend-Level signifikant nach Bonferroni-Korrektur für multiples Testen (p < 0,10)

Ohne das Vorhandensein von Vorurteilen wäre eine gleichberechtigte, jeweils am Skalenmittelwert orientierte Zuschreibung dieser Eigenschaften zu erwarten gewesen. Bei der hier erfragten Elternrolle scheint die oben erwähnte geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen mit Abhängigkeitserkrankung nicht vorhanden zu sein, was sich mit vergleichbaren Selbstberichten zur Diskriminierungserfahrung von Müttern und Vätern mit Abhängigkeitserkrankungen deckt (Stringer und Baker 2018). Dagegen legen die hier beschriebenen Daten eher eine Diskriminierung gegenüber Männern mit Abhängigkeit in der Vaterrolle nahe. Dies würde zu Beobachtungen passen, dass Väter eher als autoritär und Frauen eher als autoritativ in ihrem Erziehungsstil eingeschätzt werden (Yaffe 2023), oder dass Diskriminierung gegenüber Männern sozial weniger unerwünscht scheint als gegenüber Frauen (Feess et al. 2021). Die vermeintliche Widersprüchlichkeit zwischen der Erwartung, dass Frauen mit Suchterkrankungen stärker diskriminiert werden als Männer mit Suchterkrankungen und den vorliegenden Ergebnissen, lässt sich über die mit den Geschlechtskategorien „männlich“ und „weiblich“ assoziierten rollenspezifischer Vorurteilen der Erwünschtheit der zugeschriebenen Attribute für die jeweilige Rolle erklären. Während etwa Eigenschaften wie „liebevoll“ oder „empathisch“ eher der Geschlechtskategorie „weiblich“ zugeschrieben werden, werden diese Eigenschaften für eine Person in der Rolle als kompetitive_r, durchsetzungsfähige_r Arbeiter_in eher negativ eingeschätzt, während sie in der Rolle als Familienmitglied mit Fürsorgeverantwortung eher als positiv eingeschätzt werden.

Diese Studie zeigt erstmalig wie zukünftige Fachkräfte der Suchthilfe und anderer sozialer Dienste, die oft mit Eltern mit Suchterkrankungen interagieren, diese Personengruppe einschätzen. Die darin zum Ausdruck kommenden Vorurteilstendenzen sollten eingehender untersucht und kritisch reflektiert werden, zumal Inobhutnahmen bei Müttern mit einer Suchterkrankung sechsmal häufiger stattfinden als bei entsprechenden Vätern (Russell et al. 2022).

Diese Daten regen lediglich an, die wissenschaftlich-empirische Betrachtung des Themas Gleichberechtigung und intersektionale Effekte von Geschlechtsrollen – im konkreten Falle der Elternrolle – bei Betroffenen von Abhängigkeitserkrankungen und Zuschreibungen von Fachkräften auszuweiten. Denn es bestehen wichtige, die Aussagekraft reduzierende Limitationen. So kann kein Anspruch auf Repräsentativität für die Studierenden Sozialer Arbeit gestellt werden, wenngleich die Geschlechts- und Altersverteilung sowie die Hochschulzugänge typisch sind. Insbesondere die Geschlechtsverteilung könnte jedoch auch eine Ingroup-Favorisierung begünstigt haben. Ein entsprechender Geschlechtsunterschied konnte jedoch statistisch nicht beobachtet werden (alle ps > 0,05 unkorrigiert). Die Vor- und Lernerfahrung zu Themen wie Sucht, Elternschaft und Geschlechtsrollen wurden nicht erfasst und konnten daher nicht kontrolliert werden. Auch die studentisch entwickelte, unsystematisch ausgewählte Eigenschaftsliste sowie das Fehlen der Einschätzung dieser Eigenschaften bei Eltern ohne Alkoholabhängigkeit sollten in weiteren Untersuchungen zum Thema Berücksichtigung finden.

Weiterentwicklungen für Elternprogramme und Forschungsimpulse zum Thema Stigma bei Suchterkrankungen

Die in den letzten Jahren entwickelten und evidenzbasierte Programme für Eltern mit Suchterkrankungen (Dyba et al. 2019; Petzold et al. 2021; Koopmann & Link 2023; Beineke et al. 2023), sollten geschlechtsrollenspezifische Barrieren berücksichtigen, welche die Inanspruchnahme von Vätern und Müttern unterschiedlich beeinflussen und folglich auch inhaltlich die geschlechtsspezifische Elternrolle adressieren. Weiterhin sollte bei zukünftigen Studien, die die Stigmatisierung von Menschen mit Suchterkrankungen bei Fachkräften der Suchthilfe untersuchen, die Geschlechtsrolle ebenfalls mituntersucht werden. Spekulativ könnte die Einschätzung, dass Menschen mit Alkoholabhängigkeit gefährlicher seien als Menschen mit einer Depression auch durch die empirisch unterstützte Häufigkeitsverteilung von Männern und Frauen bei den jeweiligen Störungsbildern und den mit dem männlichen Geschlecht verbundenen negativen Eigenschaften, wie zum Beispiel „Gefährlichkeit“ zusammenhängen und folglich nicht unbedingt eine Folge der Stigmatisierung aufgrund der Suchterkrankung, sondern aufgrund impliziter Geschlechtszuschreibungen darstellen. Für einen guten Überblick über geschlechtsspezifische Zuschreibungen (z. B. „Frauen sind fürsorglich und liebevoll“, „Männer aggressiv und dominant“) und deren sexismuserhaltende Funktion empfiehlt sich der Artikel von Haines et al. (2023).