Die Public-Health-Auswirkungen von Suchterkrankungen auf das soziale Umfeld sind gravierend. Gegenüber der Anzahl an Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen sind deutlich mehr Menschen in deren sozialen Umfeld mitbetroffen und weisen erhöhte gesundheitliche Belastungen gegenüber ihrer Referenzpopulation auf. So weisen neuere epidemiologische Untersuchungen darauf hin, dass in Deutschland 9,5 % der erwachsenen Allgemeinbevölkerung angibt, einen Angehörigen mit aktuell bestehender Abhängigkeit von Alkohol, Drogen, Medikamenten oder pathologischem Glücksspiel zu haben (Bischof et al. 2022). Angehörige wiesen gegenüber Menschen ohne Angehörige(n) mit Suchterkrankungen ein mehr als verdoppeltes Depressionsrisiko auf und gaben ebenfalls signifikant häufiger einen allgemein schlechten Gesundheitszustand an (Bischof et al. 2022).

Erhöhte Belastungen bei Partnerinnen von Menschen mit Alkoholabhängigkeit wurden bereits in den 30er-Jahren beschrieben (Lewis 1937). Frühe Erklärungsansätze betrachteten Angehörige dabei als geprägt durch eigene, teilweise unbewusste Persönlichkeitsdefizite, die sowohl Grundlage der Wahl eines Partners mit Alkoholproblemen als auch Determinanten des Umgangs mit der Problematik darstellten. Diese Grundannahmen spiegeln sich denn auch beispielsweise in der Typologie von Partnerinnen von Männern mit Alkoholabhängigkeit von Whalen (Whalen 1953) wieder. „Punitive Polly“ steht dabei für die Ehefrau eines „Alkoholikers“ mit dominanter und strafender Persönlichkeitsstruktur; „Controlling Catherine“ beschreibt die Ehefrau, die das Bedürfnis hat, Kontrolle auszuüben; „Suffering Susan“ die Ehefrau mit masochistischen Tendenzen und „Wavering Winifred“ die Ehefrau, die mit Ambivalenzen zu kämpfen hat. Zeitgleich wurde im Rahmen der Bewegung der „Anonymen Alkoholiker“ das Konzept des „Co-Alkoholismus“ popularisiert, welches gleichermaßen die Reaktionen des sozialen Umfeldes als Merkmale gestörter Persönlichkeitsstrukturen beschrieb.

In den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde von Vertretern des Co-Abhängigkeitsmodells vorgeschlagen, „Co-Abhängigkeit“ als eigenständige Persönlichkeitsstörung in das Klassifikationssystem psychischer Störungen aufzunehmen. Cermak (1986) schlug dabei folgende Kriterien für die Diagnose von Co-Abhängigkeit vor:

  1. 1.

    die Investition von Selbstwertgefühl in die Kontrolle von sich selbst und anderen, insbesondere in ungünstigen Situationen;

  2. 2.

    die Übernahme von Verantwortung für die Befriedigung der Bedürfnisse anderer vor den eigenen;

  3. 3.

    das Erleben von Ängsten und Verzerrung der Grenzen in Bezug auf Fragen der Intimität und Trennung;

  4. 4.

    die Verstrickung in Beziehungen mit Personen mit Persönlichkeitsstörungen oder Alkohol- oder Drogenproblemen; und

  5. 5.

    das Vorhandensein von mindestens drei aus einer Liste von zehn weiteren Anzeichen und Symptomen.

Unter anderem wurden als Symptome bzw. Anzeichen benannt: Verleugnung als primäre Bewältigungsstrategie; eingeschränkte Emotionen; Depression; Hypervigilanz; zwanghaftes Verhalten; Angst; Substanzmissbrauch; Opfer von sexuellem oder körperlichem Missbrauch; stressbedingte Krankheiten; oder eine Beziehung mit einer substanzmissbrauchenden Person über mehr als zwei Jahre, ohne Hilfe zu suchen. Über den fachlichen Diskurs und die Suchthilfe hinausgehend wurde das Konzept popularisiert durch das Buch „Codependent No More: How to Stop Controlling Others and Start Caring for Yourself“ von Melody Beattie, das sich mehr als acht Millionen Mal verkaufte und auch zu der Gründung der Selbsthilfebewegung „Anonyme Ko-Abhängige“ führte.

Positiv wurde am Konstrukt der Co-Abhängigkeit in der Vergangenheit herausgehoben, dass das Leiden Angehöriger von Menschen mit Suchterkrankungen damit erstmalig Zugang in den öffentlichen Diskurs fand. Gleichsam induktiv wurde aus empirischen Beobachtungen und persönlichen Erfahrungen ein Erklärungsmodell generiert, welches eine Beschreibung und z. T. auch Erklärung des Leidens Angehöriger Suchtkranker bereithielt und deren eigenständigen Bedarfe nach psychosozialen Hilfen unterstrich. Gleichzeitig war mit dem Modell eine (Selbst‑)Pathologisierung verbunden, die sich bereits in der Eigenschaftszuschreibung „Co-abhängig“ zeigt. Der ausgeprägten Popularität des Konzeptes stehen jedoch verschiedene Kritikpunkte gegenüber, welche die Unschärfe des Begriffs, die mangelhafte empirische Evidenz und die zweifelhafte praktische Nützlichkeit betreffen.

Begriffliche Unschärfen des Co-Abhängigkeitskonzeptes

Eine zentrale Problematik in der Auseinandersetzung mit dem Co-Abhängigkeitsmodell besteht in der uneinheitlichen Definition, was darunter eigentlich zu verstehen sei. So sind die Definitionen von Co-Abhängigkeit in den verschiedenen Publikationen hochgradig heterogen und unpräzise. Beispielsweise bezeichnet Co-Abhängigkeit Haltungen und Verhaltensweisen von Personen, die durch Tun und Unterlassen dazu beitragen, dass diejenigen mit Suchtproblemen süchtig oder suchtgefährdet bleiben können. Andere Autor_innen sehen Co-Abhängigkeit gar als eine Persönlichkeitsstörung, die durch die pathologische Abhängigkeit von einer anderen Person gekennzeichnet ist. In einer kritischen Übersicht zum Thema führen Uhl und Puhm (2007) Definitionsversuche an, die von Co-Abhängigkeit als einem „toxischen Hirnsyndrom“ über „Unreife“ bis hin zu einem „Muster gelernter Verhaltensweisen, Gefühlen und Überzeugungen, die das Leben schwermachen“ reichen. Die Autor_innen kritisieren, dass die meisten Definitionsversuche nicht zwischen empirischen (und damit potenziell prüfbaren) und analytischen Aussagen (d. h. Definitionen, deren Sinnhaftigkeit und logische Konsistenz variieren kann) differenzieren (Uhl und Puhm 2007). Dies wird an einem Beispiel expliziert. Ein Definitionsversuch, der in einer Broschüre der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe verwendet wurde, beschreibt Co-Abhängigkeit als „ein Krankheitsbild, das sich als Beziehungsstörung ausdrückt. Co-Abhängige sind geprägt durch frühkindliche Entwicklungen – einschließlich entsprechender Life Events – sowie ggf. genetisch bedingter Faktoren. Co-Abhängigkeit existiert unabhängig von der stoffgebundenen Abhängigkeit eines anderen Menschen. Sehr häufig wird diese eigenständige Störung erst im Zusammenleben mit einem suchtkranken Menschen deutlicher sichtbar …“ (Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe Bundesverband e. V. 2004, S. 5).

Mit dem Postulat einer gestörten Persönlichkeit wird ausgeschlossen, dass Co-Abhängigkeit beispielsweise eine Folge inadäquater Bewältigungsmuster ist, woraus sich eine empirische Unwiderlegbarkeit ergibt: Würde z. B. bei belasteten Angehörigen festgestellt, dass keine Störung der Primärpersönlichkeit vorliegt, wären diese eben nicht co-abhängig. Würde aber eine implizite Definition vorliegen – z. B. dass jede Form des suchtfördernden Verhaltens Angehöriger co-abhängig ist – UND postuliert, dass dies „so gut wie immer“ Ausdruck einer Primärpersönlichkeit ist, könnte die Aussage widerlegt werden, wenn z. B. bei einem substantiellen Teil der belasteten Angehörigen mit suchtfördernden Verhaltensweisen keine entsprechende Primärstörung nachgewiesen werden kann. Uhl und Puhm vermuten, dass der Definition jedoch analog wie zu anderen Konzeptualisierungsversuchen kein Bewusstsein der Notwendigkeit einer Unterscheidung von empirischen und analytischen Aussagen zugrunde liegt, sondern lediglich populäre, plausibel klingende Statements kombiniert wurden, wie anhand mehrerer Beispiele in dem Beitrag ausgeführt wird.

Trotz der heterogenen Verwendung des Begriffs lassen sich jedoch gemeinsame Elemente zwischen den unterschiedlichen Definitionsversuchen identifizieren. In der Regel beschreiben diese Verhaltensmuster, die Suchtverhalten nahestehender Personen begünstigen, sowie eine ausgeprägte emotionale Verstrickung, die sich in ausgeprägten Belastungsreaktion auf Problemverhaltensweisen bei nahestehenden Personen äußert. Darüber hinaus wird in einigen Beschreibungen insbesondere Partnerinnen von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen auch eine tendenziell als abhängig umschriebene Persönlichkeitsstruktur zugeschrieben, bei welcher ein defizitäres Selbstwertgefühl durch Übernahme einer Versorgungs- oder Kontrollfunktion gestärkt wird. Analog zur begrifflichen Unschärfe dessen, was unter „co-abhängigem“ Verhalten begriffen werden kann, ist in der einschlägigen Literatur zudem eine Tendenz zur Generalisierung des Konstrukts festzustellen. So wurde z. B. postuliert, dass Co-Abhängigkeit bei jedem Mitglied einer „Alkoholikerfamilie“ vorläge (z. B. Wegscheider-Cruse 1984) oder grundsätzlich dann auftrete, wenn man längere Zeit mit einer Person mit „neurotischer“ Persönlichkeitsstruktur zusammenlebe (Larsen 1983). Eine kritische Übersichtsarbeit zitiert verschiedene Artikel, nach denen der Anteil an Menschen mit Co-Abhängigkeit in der Bevölkerung bei 83 bis 96 % läge (Pursley-Crotteau und Amrogne 1997). Bei einer solchen Betrachtungsweise wäre konsequenterweise die Nicht-Co-Abhängigkeit als zumindest statistisch normabweichendes Verhalten zu fassen, und die Zahlen legen nahe, dass diese Betrachtungsweise vollständig losgelöst von Reaktionen auf Abhängigkeitserkrankungen zu fassen ist, ein Sachverhalt, der auch in verschiedenen populärwissenschaftlichen Publikationen aufgegriffen wird. Eine Übersichtsarbeit zum Thema kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass in der Literatur mehrheitlich oder ausschließlich der Co-Abhängigkeitsbegriff auf Frauen angewendet wird (Calderwood und Rajesparam 2014).

Zur Beurteilung des Konstrukts soll im Folgenden geprüft werden, wie spezifisch Co-Abhängigkeit im Sinne der oben aufgeführten Minimaldefinition das Erleben und Verhalten Angehöriger von Menschen mit Suchterkrankungen beschreibt und wie nützlich das Konzept für die Angehörigenarbeit und den öffentlichen Gesundheitsdiskurs angesehen werden kann.

Empirische Evidenz des Co-Abhängigkeitsbegriffs

Unbestritten ist eine längerfristige Exposition gegenüber Suchtverhalten und anderen devianten Verhaltensweisen mit einer Zunahme an Stressoren und einer verringerten Resilienz verbunden. Gut belegt sind z. B. für Kinder aus suchtbelasteteten Familien eine erhöhte gesundheitliche Morbidität und ein drastisch erhöhtes Risiko für die spätere Entwicklung eigener substanzbezogenen Probleme (Smith und Wilson 2016). Weiterhin konnte gezeigt werden, dass Frauen, die in alkoholbelasteten Familien aufwuchsen, mit zwölf Prozent (gegenüber fünf Prozent bei Frauen ohne entsprechende Vorbelastung) signifikant häufiger Partnerschaften zu Männern mit Substanzgebrauchsstörungen eingingen (Schuckit et al. 1994). Die Befundlage hinsichtlich auffälliger Persönlichkeitszüge bei Partnerinnen von Männern mit Abhängigkeitsproblemen hingegen ist heterogen, zu anderen Beziehungskonstellationen (männliche Partner oder Partnerinnen in nicht heterosexuellen Beziehungen) liegen keine Studienergebnisse vor. Zu erwarten wären deutlich erhöhte Raten an selbstunsicheren und dependenten Persönlichkeitsstörungen, die eine hohe Übereinstimmung mit Kernkonstrukten der Co-Abhängigkeitskonzeptualisierungen aufweisen. Repräsentative Studien liegen hierzu nicht vor, an klinischen Stichproben analysierte Vergleiche von Partner_innen von Menschen mit vs. ohne Abhängigkeitserkrankungen ergaben keine eindeutigen Befunde. Eine indische Studie fand keinerlei Hinweise auf erhöhe pathologische Persönlichkeitsprofile bei Partnerinnen (Rao und Kuruvilla 1991), eine iranische Studie, in der Ergebnisse eines Co-Abhängigkeitsfragebogen zwischen Partnerinnen von abhängigkeitserkrankten Männern und Frauen ohne abhängigkeitserkrankten Partner verglich, ergab lediglich bei Frauen mit hohen Neurotizismuswerten erhöhte Werte für „Co-Abhängigkeit“, aber keine durchgängig erhöhten Werte bei den von Abhängigkeitserkrankungen mitbetroffenen Partner:innen (Panaghi et al. 2016). Allerdings verwundern diese Befunde wenig, da die in den eingesetzten Fragebögen zur Co-Abhängigkeit mehrheitlich „neurotische“ Verhaltensweisen und Einstellungsmuster erfassen (z. B. „Es fällt mir schwer, ‚nein‘ zu sagen“ oder „Ich stelle die Bedürfnisse anderer oft über meine eigenen“).

Die Vorstellung einer grundsätzlich gestörten Persönlichkeitsstruktur bei Angehörigen von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen wurde bereits in den 50er-Jahren von Jackson in Frage gestellt (Jackson 1954) und durch eine Konzeptualisierung im Sinne grundsätzlich „normaler“ Reaktionsweisen ersetzt. Im direkten Vergleich von Persönlichkeitsmerkmalen zwischen Ehefrauen von Menschen mit Alkoholabhängigkeit gegenüber einer Referenzgruppe fanden sich niedrige Extraversionsraten, aber keine Unterschiede bezüglich Neurotizismus und Psychotizismus (Grubisić-Ilić et al. 1998).

Auch Kernhypothesen des Modells, wie z. B. eine besonders ausgeprägte Partnerzentrierung von Partnerinnen Alkoholkranker, konnten empirisch nicht belegt werden (Galliker et al. 2004). Versichertendaten aus den USA konnten zudem zeigen, dass die gesundheitliche Belastung von Partnerinnen von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen signifikant zurückgingen, wenn die Abhängigkeit erfolgreich behandelt werden konnte (Weisner et al. 2010). Die Daten legen nahe, dass Belastungsreaktionen kausal durch die Exposition mit der Abhängigkeitserkrankung verursacht werden und nicht Epiphänomene einer grundlegend gestörten Persönlichkeit darstellen.

Diese Befunde sind kompatibel mit neueren Modellen wie dem „Stress-Strain-Coping-Support-Modell“ (Orford et al. 2010), welches in der Belastung des sozialen Umfeldes von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen maßgeblich Stressfolgeprobleme erkennt. Demnach werden nahestehende Personen mit verschiedenen Stressoren, wie z. B. erratisches Verhalten, finanziellen und juristischen Problemen, aber auch der Sorge um den abhängigkeitserkrankten Angehörigen konfrontiert. Diese Probleme können die in Abhängigkeit vom gewählten Bewältigungsverhalten und der verfügbaren sozialen Unterstützung zu unterschiedlich starken Belastungsreaktionen führen. Mit diesem Erklärungsansatz lassen sich die konsistent belegten klinisch relevanten Beeinträchtigungen Angehöriger, welche die gesamte Breite dysfunktionaler Symptome umfassen und größtenteils stressbedingte Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und somatoforme Störungen darstellen (Orford et al. 1975, 2005; Velleman et al. 1993; Copello et al. 2005), konsistenter für die Gesamtpopulation Angehöriger erklären. Massive Beeinträchtigungen bei Angehörigen können so auch als „Burnout-Reaktion“ auf anhaltenden Stress bei hoher persönlicher Bindung erklärt werden (Shishkova und Bocharov 2022), ohne dass eine zugrundeliegende Störung der Person angenommen werden muss.

Nützlichkeit des Co-Abhängigkeitsbegriffs

Neben einem Erklärungsansatz für das Erleben und Verhalten Angehöriger wird das Konzept der Co-Abhängigkeit oft undifferenziert dahingehend verwendet, den Menschen im Umfeld von Abhängigen eine (Mit‑)Schuld an der Entwicklung der Krankheit zuzuschreiben (Rennert 2005), wie sich auch in den englischsprachigen Arbeiten in der Verwendung des Begriffs „Enabler“ („Ermöglicher_in“ oder auch „treibende Kraft“) ausdrückt. In einigen Quellen war sogar des öfteren von einer (unbewussten) Komplizenschaft des Angehörigen der Sucht die Rede. Diese dem Konzept zugrundeliegenden Werturteile liegen der umfangreichen feministischen Kritik des Co-Abhängigkeitsmodells zugrunde. Wie bereits erwähnt, finden sich in der Literatur mehrheitlich Beschreibungen von Frauen als „Co-Abhängigen“. Verbreitete, mit Co-Abhängigkeit in Verbindung gebrachte Attribute, wie verringertes Selbstwertgefühl und ein ausgeprägtes Bedürfnis, sich um andere zu kümmern und von äußerer Wertschätzung abhängig zu sein, werden nach der feministischen Kritik des Konzepts als Merkmale der (außerhalb von Beziehungen mit Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen) kulturell wertgeschätzten traditionellen Frauenrolle gewertet. Als „gesund“ postuliert das Co-Abhängigkeitsmodell demgegenüber das autonome, individuierte, abgespaltene Selbst, mit klaren Grenzen, Selbstkontrolle und einer deutlichen Fähigkeit zur rationalen Selbstkontrolle – Attribute, die kulturell traditionell als männlich gelesen werden (Collins 1993). Nicht von ungefähr wird von Kritiker_innen angeführt, dass Verhalten, das durch Fürsorge einen Verbleib in einer Krankenrolle ermöglicht, bei anderen Krankheitsbildern (z. B. Depressionen, Krebs, chronische körperliche Erkrankungen) hohe gesellschaftliche Wertschätzung genießt, ohne als „Co-Depression“ oder dergleichen pathologisiert zu werden. Im schlimmsten Falle trage die Individualisierung der Problematik zu einem „Victim blaming“, also einer Verantwortungszuschreibung an die leidtragenden Frauen bei (Collins 1993). Die Variabilität in den Bewältigungsstrategien betroffener Frauen werde so nicht anerkannt, das Problem individualisiert und grundsätzlich seien dysfunktionale Beziehungen nicht durch das Modell erklärbar. Schließlich lassen sich aus einer kognitiv-behavioralen Betrachtungsweise suchtfördernde Verhaltensweisen Angehöriger, wie z. B. Entschuldigungen gegenüber den Arbeitgebern des Abhängigkeitserkrankten zu erfinden oder die Beschaffung von Suchtmitteln als Intention der Angehörigen verstehen, Schaden von der abhängigkeitserkrankten Person (wie Arbeitsplatzverlust oder gesundheitliche Folgeprobleme) abzuwenden, womit allerdings unintendiert das Problemverhalten negativ verstärkt wird (z. B. Smith und Meyers 2009). Auch hier verlagert das Co-Abhängigkeitsmodell das Problem von unintendierten Konsequenzen bei letztlich gänzlich nicht-pathologischen Beweggründen in die Persönlichkeit der Angehörigen hinein. Bei Berücksichtigung dieser Aspekte erweist sich das Co-Abhängigkeitsmodell als wenig hilfreich, um die besondere Situation von Angehörigen von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung abzubilden. Ganz im Gegenteil ist davon auszugehen, dass das Konzept die Entwicklung und Bereitstellung adäquater Hilfeangebote für Angehörige behindert.

Schlussfolgerung

Trotz einer ungebrochenen Popularität in der Laienpsychologie ist das Co-Abhängigkeitsmodell konzeptionell unklar, empirisch nicht belegt und in seinen Auswirkungen bedenklich. Die Konzeptentwicklung übergeneralisiert in unzulässiger Weise Beobachtungen, die im Einzelfall Gültigkeit haben können, wie z. B. dass das Aufwachsen in einer suchtbelasteten Familie zu einer erschwerten Förderung von Resilienz beiträgt oder auch dass Menschen, die freiwillig intime Beziehungen zu Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen eingehen, mitunter durch eigene biographische Erfahrungen gewisse Warnzeichen nicht oder erst spät wahrnehmen. Aber diese Beobachtungen vermögen nur einen kleinen, nicht-repräsentativen Teil der Angehörigen abzubilden. In der Praxis tragen die mit dem Modell verbundenen Stigmatisierungsprozesse wahrscheinlich zu einer Hemmung der Inanspruchnahme fachlicher Hilfen bei Angehörigen von Menschen mit substanzbezogenen Störungen bei. Alternative Erklärungsmodelle, die die Belastungen Angehöriger maßgeblich auf chronische Belastungen, die auch aus der Sorge um das Befinden der Betroffenen resultieren, sind demgegenüber konsistenter belegt und bieten Ansatzpunkte für Interventionen, von denen sowohl die Angehörigen als auch die Abhängigkeitserkrankten profitieren können.