Die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) als öffentliche Infrastruktur unterstützt Heranwachsende mit ihren Familien darin, selbstbestimmte Lebensentwürfe und gesellschaftliche Teilhabe strukturell zu fördern (Böllert 2018, S. 4). Dieser Anspruch weitet sich durch die ‚Inklusive Lösung‘ und der damit einhergehenden Zusammenführung der Leistungen aus SGB VIII und SGB IX für Heranwachsende mit und ohne Behinderung bis 2028 aus (vgl. Lüders 2021).

Die Unterstützungsleistungen der KJH unterteilen sich in offene Regelangebote (§ 11–26) und Bedarfsleistungen (§ 27–35). Die Regelangebote stehen allen Heranwachsenden und Eltern zur Verfügung und können dienstleistungstheoretisch als öffentliche Sozialisationsleistungen (Dewe und Otto 2012) gefasst werden. Diese öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen wird umfangreich beansprucht, wie die Kindertagesbetreuung (§ 22–26) zeigt, die zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der sozialen Infrastruktur geworden ist und Eltern in ihrer autonomen Elternschaft stärkt. Neben den familienergänzenden Regelangeboten bietet die KJH besondere Bedarfsleistungen an, die sogenannten Hilfen zur Erziehung (HzE nach § 27–35). Um sie zu beanspruchen, muss ein erzieherischer Bedarf vorliegen, d. h. „eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist“ (§ 27 Abs. 1). Die Jugendhilfe hat das staatliche Wächteramt für das Kindeswohl inne. Ist eine entsprechende Erziehung nicht gegeben, darf sie erzieherische Hilfen empfehlen. Ist das Kindeswohl (im Sinne des § 1666 BGB) gefährdet, betroffen oder bedroht, muss der Staat eingreifen und HzE bzw. Regelleistungen anordnen oder den Eltern zeitweise oder dauerhaft das Sorgerecht entziehen. Nach dieser Angebotsstruktur sind HzE gegenwärtig nicht als ergänzende, sondern als kompensatorische Leistungen für Familien konstruiert. Ihre Gewährung ist somit an die Feststellung eines Defizits geknüpft (Bauer und Wiezorek 2007; Thieme 2017), das vom Jugendamt diagnostiziert werden muss. Mit dem rechtlich zwingenden Verweis auf Defizite innerhalb der Familie beinhalten HzE exkludierende Dimensionen, die für ihre Nutzer_innen erhebliche Stigmatisierungen freisetzen können (Thalheim 2023), wodurch Barrieren der Inanspruchnahme entstehen (Oelerich et al. 2019). Die gegenwärtige KJH lässt sich vor diesem Hintergrund als ein zweiteiliges Leistungssystem charakterisieren, das aus ergänzenden und kompensatorischen Hilfen besteht. Daran schließt die Frage an, inwiefern das Jugendhilfesystem mit seiner Zweiteilung den skizzierten Zielen mit ihrer Inklusionsausrichtung gerecht wird?

Die Schnittstelle der beiden Leistungsspektren der KJH bildet der erzieherische Bedarf, der das Kinder- und Jugendhilfesystem in einen inklusiven für alle zugänglichen und in einen exklusiven Anspruchsbereich unterteilt, der sich auf zuvor diagnostizierte Defizite bezieht. Dadurch werden diejenigen Personen strukturell stigmatisiert, die erst mit Verweis auf abweichende Defizite die HzE beanspruchen dürfen, was zusätzlich dazu beitragen kann, fragile Lebensentwürfe der so Adressierten zu affirmieren (Thalheim 2021). Derartige Kategorisierungen scheinen ohnehin einem weitgefassten, nicht nur auf Behinderung bezogenem Inklusionsverständnis zu widersprechen (Schönecker 2020, S. 2), das defizitbezogene Personenkategorien zu überwinden versucht (Lüders 2019). So wird im 14. Kinder- und Jugendbericht programmatisch formuliert: „[…] unter größtmöglichem Verzicht auf besondere Einrichtungen und Dienste für spezielle Gruppen dennoch jedem jungen Menschen mit seinen je individuellen Bildungs‑, Betreuungs- und Förderbedarfen gerecht zu werden.“ (BMFSFJ 2013, S. 370).

Der an den erzieherischen Bedarf gekoppelte Leistungsanspruch erfordert diagnostische Prozedere (Freres 2023). Diese Bedarfsprüfungen (z. B. im Rahmen von Hausbesuchen) werden in Studien nicht selten als Situationen beschrieben, die einem Verhör ähneln würden und in denen Eltern sich unter Druck gesetzt fühlten. Auch sei die Rede von Schuldzuweisungen, die Eltern aus der Reserve lockten, was ebenfalls als stigmatisierend wahrgenommen werden würde (Freres, Bastian und Schrödter 2019; Franzheld 2017; Bode und Turba 2014; Pomey 2017; Biesel und Urban-Stahl 2018). In der Gesamtschau zeigt sich ein Spannungsverhältnis zwischen zweiteiliger Leistungsstruktur des Kinder- und Jugendhilfesystems und einem sich auf Teilhabe berufenden Inklusionsanspruch. Würde nun die Aufhebung dieser Zweiteilung durch die Abschaffung des erzieherischen Bedarfs zur Entstigmatisierung und inklusiven Nutzung von HzE beitragen? Welche Konsequenzen hätte es für die Ausgestaltung und Erbringung der Hilfeleistungen?

Unter der Perspektive einer ‚Bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfe‘ (Schrödter und Freres 2019; Schrödter 2020) werden diese und weitere Fragen in diesem Schwerpunkt diskutiert. Es wird sich dafür interessiert, ob und inwiefern ein inklusiveres Jugendhilfesystem gestaltet werden kann, wenn seine (exkludierende) Zweiteilung in eine weitgehend bedingungslose Leistungsstruktur transformiert werden würde. Mit dem Programm einer Bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfe soll insofern ein Diskurs über die Dimensionen der Berechtigungsschwellen und ihrer Konsequenzen für die Gewährung von HzE sowie deren Ausgestaltung verstärkt initiiert werden. Stränge bisheriger Diskussionen entlang von Überlegungen einer ‚Bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfe‘ sind die Grundlage und entfalten sich in fünf Beiträgen:

  • Katharina Freres und Mark Schrödter rekonstruieren in ihrem Artikel drei Tatbestandsvoraussetzungen, die gegeben sein müssten, damit ambulante Erziehungshilfen als bedingungslos gelten könnten. Es wird argumentiert, dass eine in diesem Sinne universalistisch ausgerichtete, bedingungslose ambulante erzieherische Hilfe die Selbstachtung ihrer Nutzer_innen nicht beschädigen würde. Ferner könnten die erzieherischen Hilfen als gewöhnlicher Teil der öffentlichen Infrastruktur sich stärker auf die Bildung von Familien ausrichten und so ihr sozialpädagogisches Potenzial besser entfalten.

  • Caroline Schmitt und Vinzenz Thalheim entfalten in ihrem Beitrag eine transtopische Perspektive, um das gegenwärtige „Zwei-Klassen-Kinder- und Jugendhilfesystem“ mit seinen trennenden Kategorisierungen von offenen Leistungen und Bedarfsleistungen bedingungslos solidarisch zu gestalten. Es wird argumentiert, dass ein universalistischer Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe die Solidarität gegenüber allen Familien stärken würde und transtopische Räume der gemeinsamen Bedürfnisinterpretation entstehen würden, um an Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen zu arbeiten und die gesellschaftliche Produziertheit von Ungleichheit explizit zu thematisieren und zu bearbeiten, wodurch Stigmatisierungen abgebaut werden können.

  • Rainer Patjens problematisiert in seinen Ausführungen die Inanspruchnahme von Hilfen aus der Perspektive des Rechts auf „Selbstbestimmung“ von Kindern und Jugendlichen, dass im Rahmen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG), § 1 Abs. 1 SGB VIII als weiteres Erziehungsziel ergänzt wurde. Es wird dargelegt, wie durch die Ergänzung der Selbstbestimmung der Zugang zur Hilfe nach § 41 SGB VIII niedrigschwelliger und somit weniger stigmatisierend ist als bei den Hilfen zur Erziehung. Die Inanspruchnahme ist zwar nach wie vor nicht bedingungslos, jedoch wurde der Bedingungskatalog hinsichtlich einer Stärkenorientierung statt Defizitorientierung weiter geöffnet.

  • Benedikt Hopmann beschäftigt sich in seinen Überlegungen mit dem Programm einer Bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfe und stellt es in ein Verhältnis zu Fragen einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. In seinem Beitrag wird diskutiert, inwiefern eine Bedingungslose Kinder- und Jugendhilfe auch zugleich bedingungslose Inklusion verspricht. Gefragt wird dabei, inwieweit eine Bedingungslose Kinder- und Jugendhilfe dem Anspruch nach Endstigmatisierung und Dekategorisierung als einem Grundanliegen von Inklusion nachkommt.

  • Sinah Mielich und Timm Kunstreich argumentieren in ihrem Artikel, dass die Jugendhilfe einer defizitorientierten Ausrichtung folge und sich auf individuelle Hilfen konzentriere. Sie plädieren dafür, den Fokus von kompensatorischen Angeboten in der Jugendhilfe auf die Schaffung von demokratischen Sozialgenossenschaften zu verlagern, um auf diese Weise die kollektive Teilhabemacht von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in lokalen Räumen zu stärken. Am Beispiel der Stadtteilgenossenschaft Horn konkretisieren sie ihre Überlegungen und stellen diese in den Zusammenhang mit dem Programm einer Bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfe.