Es gibt Eltern, denen Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH)Footnote 1 vom Jugendamt empfohlen wird und die sich mit Händen und Füßen gegen sie wehren. Lassen sie sie sich überreden, so wollen sie die SPFH häufig so schnell wie möglich wieder loswerden. Andere nehmen sie dankbar an und hätten gern früher gewusst, dass es so ein Angebot gibt (empirisch dazu: Freres 2023). Woran liegt das?

Es sei vorausgesetzt, dass die SPFH eine nützliche Hilfe ist. Dann ist es rational, dass viele Eltern gern auf sie zurückgreifen, zumal die Inanspruchnahme für sie kostenlos ist. Erklärungsbedürftig ist dann, warum es Eltern gibt, die sie ablehnen (klassisch dazu: Moffitt 1983). Sehen wir zunächst einmal vom allgemeinen Phänomen ab, dass Menschen häufig Schwierigkeiten haben, Hilfe anzunehmen. Menschen sind oft zu stolz, ihre Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen und oft zu bequem, weil sie den mit der Hilfe einhergehenden Aufwand der Arbeit an den Dingen und vor allem der Arbeit an sich selbst scheuen. Für die Adressat_innen der Familienhilfe kommt jedoch noch ein gewichtiger Faktor hinzu: Viele von ihnen befürchten, dass ihnen die Kinder „weggenommen“ werden – wie es in Internetforen von Betroffenen oft formuliert wird –, sobald erst die SPFH, die sie als verlängerten Arm des Jugendamts wahrnehmen, im Haus ist. Diese Befürchtung ist nicht irrational, sondern hat ihre gesetzliche Grundlage im Wächteramt des Staates. Und genau hier setzt die Bedingungslose Jugendhilfe primär an.

Im Rahmen einer Bedingungslosen Jugendhilfe (Schrödter und Freres 2019) müssen Eltern nicht mehr befürchten, dass man ihnen die Kinder „wegnimmt“, da Kinder in stationärer Unterbringung nicht mehr „weg“ wären. Sie könnten öffentlich bekunden, ihr Kind besuche ein Internat. Eltern fremdplatzierter Kinder könnten dann glaubhaft öffentlich bestreiten, hilfsbedürftig zu sein (plausible deniability).Footnote 2 Sie könnten behaupten, ihr Kind wohne über Tag und Nacht in einer Bildungseinrichtung. Denn alle Eltern hätten einen subjektiven Rechtsanspruch darauf, ihr Kind unter Berücksichtigung von dessen Willen in eine stationäre Bildungseinrichtung zu geben, unabhängig davon, ob „eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung“ (§ 27 SGB VIII) gewährleistet ist oder nicht. So wäre von außen nicht mehr erkennbar, aus welchem Grund ein Kind „fremduntergebracht“ ist. Und auch Kinder, die gegen den Willen der Eltern fremduntergebracht werden, hätten einen Anspruch darauf, in einer stationären Bildungseinrichtung wohnen zu dürfen, so dass sie glaubhaft öffentlich bestreiten können, zuhause gäbe es Probleme. Sie könnten behaupten, die Einheit von Lernen und Leben in einem Internat zu präferieren. Dies würde den betroffenen Eltern und Kindern die Möglichkeit der würdevollen, nicht-stigmatisierten öffentlichen Selbstpräsentation eröffnen. Kehrseitig dazu wäre der Staat verpflichtet, entsprechende Einrichtungen vorzuhalten, die man sich wie ein „Stadtteilinternat“ (Kunstreich und Mielich 2023) vorstellen kann. Die stationäre Jugendhilfelandschaft müsste ähnlich differenzierte Angebote ausbilden wie die gegenwärtige Internatelandschaft und könnte sogar mit dieser verschmelzen, etwa mit Spezialisierungen auf Sport, Musik, bildender Kunst, Handwerk, Landwirtschaft, usw. Schon jetzt finden ca. fünf Prozent aller Fremdplatzierungen in Internate statt und dieses Modell ließe sich verallgemeinern, indem sämtliche Einrichtungen der stationären Jugendhilfe sich als internatsförmige Bildungseinrichtungen aufstellen bei Beibehaltung ihrer sozialpädagogischen und therapeutischen Komponenten (Schrödter 2019). Die praktische Ausgestaltung dieser konkreten Utopie (Thalheim 2021) stellt – insbesondere hinsichtlich der gegenwärtig üblichen Trennung von Schulverwaltung und Verwaltung der Jugendhilfe – natürlich eine Herausforderung dar, soll aber hier zunächst nicht verfolgt werden.

Ein System Bedingungsloser Jugendhilfe zeichnet sich also vor allem dadurch aus, dass es das Damoklesschwert „Kinderklaubehörde Jugendamt“ nicht mehr gibt. Nicht, weil es keine Inobhutnahmen in Ausübung des staatlichen Wächteramts mehr gäbe und keine familiengerichtlichen Weisungen, sondern weil Inobhutnahmen gegen den Willen der Eltern von außen als solche nicht mehr erkennbar wären und damit ihre Selbstachtung nicht noch zusätzlich durch soziale Degradierung als „erziehungsunfähige Eltern“ beschädigen. Die Tatsache, dass ein Kind „fremdplatziert“ ist, ist dann nicht mehr schambesetztes, öffentliches Zeichen für das erzieherische Versagen der Eltern, sondern kann umgekehrt öffentlich glaubhaft als Ausdruck guter Elternschaft reklamiert werden – ganz genauso, wie das gegenwärtig für wohlhabende Eltern gilt, die ihre Kinder auf ein Internat gegeben haben.

Mit der Erweiterung des objektiven Bedeutungsspektrums von Inobhutnahmen wäre die Wächteramt-Funktion des Jugendamts, die die SPFH im Sinne eines Familienüberwachungsapparates stellvertretend wahrnimmt, objektiv weniger bedrohlich. Fachkräfte könnten sie dann viel transparenter kommunizieren und müssten sie weder verschleiern noch verharmlosen, wodurch SPFH objektiv noch vertrauenswürdiger werden würde. Und weil damit die gegenwärtig bestehende Hilfe-Kontrolle-Dynamik wesentlich entschärft wäre, wären bessere Voraussetzungen gegeben, der sozialpädagogischen Fachkraft vertrauen und ein tragfähiges Arbeitsbündnis eingehen zu können.

SPFH in Selbstbeschaffung ohne Prüfung durch das Jugendamt?

Noch stärker entschärfen ließe sich die Hilfe-Kontrolle-Dynamik, wenn die SPFH – analog zur Erziehungsberatung nach § 28 – auch unabhängig vom Jugendamt autonom angefragt werden könnte. Denn gegenwärtig prüft das Jugendamt, ob ein Anspruch auf eine erzieherische Hilfe besteht oder nicht. Dieser Anspruch (Rechtsfolge) besteht nur dann, wenn ein erzieherischer Bedarf (Tatbestand) festgestellt wird. Ohne ein Defizit in der Verwirklichung von Erziehung gibt es keine Hilfe zur Erziehung (Wiesner 2017, S. 39 ff.). Damit sind Eltern, die erzieherische Hilfen in Anspruch nehmen, von Rechts wegen als defizitär stigmatisiert (welfare stigma, vgl. Moffitt 1983). Mit der Kopplung erzieherischer Hilfen an das Vorliegen eines erzieherischen Defizits werden deren Nutzer_innen der objektiven Bedeutung nach als moralisch defizitär stigmatisiert, denn in der gesellschaftlichen moralischen Statusordnung,Footnote 3 in der autonomer Elternschaft ein hoher Wert zukommt, werden sie objektiv degradiert (Thalheim 2023; Schrödter und Thalheim 2023). Und es lässt sich argumentieren, dass diese Degradierung der objektiven Bedeutung nach unabhängig davon besteht, ob die Nutzer_innen erzieherischer Hilfen sie subjektiv wahrnehmen oder nicht (empirisch: Freres 2023).

Erziehungshilfen ließen sich de-stigmatisieren (Schrödter et al. 2021), wenn sie bedingungslos, also unabhängig vom Vorliegen eines erzieherischen Bedarfs als universale Unterstützungsleistungen für alle Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern attraktiv und zugänglich wären (Schrödter und Freres 2019). So könnte SPFH zukünftig in Familien- und Stadtteilzentren angesiedelt werden und von Eltern selbständig angefragt werden, was nicht nur dessen Niedrigschwelligkeit deutlicher symbolisiert und praktisch verwirklicht. Vor allem könnte SPFH sich dann als Unterstützungsangebot für alle Familien im Sinne der Familienbildung aufstellen. Hilfe und Kontrolle wären dann stärker institutionell getrennt (vgl. Oevermann 2000, S. 73ff.). In Folge repräsentieren dann die freien Träger authentisch den Hilfe-Pol – auch wenn sie weiterhin zusätzlich die vom Jugendamt aufgrund einer Gefährdungsmeldung initiierten Fälle übernehmen –, während der Allgemeine Soziale Dienst des Jugendamts eindeutiger den Pol der Kontrolle darstellt. Eltern könnten sich dann bei Schwierigkeiten in der Erziehung in einer zunehmend ungewiss werdenden Welt als autonome Eltern verstehen, die sich souverän an freie Träger wenden, um eine Form von „reflexiver Elternschaft“ (Winkler 2012, S. 152ff.) zu verwirklichen. SPFH könnte Teil einer „antifragilen Elternschaft“ (Freres 2023) werden, indem Eltern ambulante erzieherische Hilfen ohne Furcht in Anspruch nehmen können, um durch lebenspraktische Krisen zu wachsen.

Was zunächst wie eine große rechtliche Herausforderung erscheinen mag, ist für die Erziehungsberatung nach § 28 seit Jahren Realität und seit der Einführung des § 36a (Selbstbeschaffung) mit dem KICK von 2007 rechtskonform gelöst worden (Kepert und Nonninger in: Kunkel et al. 2022, § 28, Rn. 8–12). Denn entsprechend ihrer Einordnung in die erzieherischen Hilfen nach § 27ff. müsste die Inanspruchnahme einer Erziehungsberatung ‚eigentlich‘ förmlich per Antrag vom Jugendamt gewährt und ebenso förmlich dessen Geeignetheit und Notwendigkeit für die Behebung des Erziehungsdefizits qua Hilfeplanverfahren überprüft werden. Eltern, die für sich einen Beratungsbedarf sehen, müssten dann ebenso wie Eltern, die eine Fremdplatzierung ihres Kindes in einer stationären Einrichtung für notwendig erachten, zunächst dem Jugendamt vorstellig werden und ihr Problem darlegen, damit dort überprüft werden kann, ob der Tatbestand zur Auslösung des Rechts auf die (Beratungs‑)Leistung überhaupt vorliegt und ob nicht eine andere Hilfe in Betracht käme. Letztlich hat sich aber die Rechtsauffassung durchgesetzt, dass bei der Erziehungsberatung die sogenannte Selbstbeschaffung möglich sei, Eltern sich also direkt an eine Institution wenden können, die Erziehungsberatung nach § 28 anbietet. Aus der Perspektive der Eltern bedeutet dies, dass sie sich nicht einer Defizitdiagnose durch das Jugendamt als Zugangsbedingung zu einer Beratungsleistung unterwerfen müssen, sondern sich direkt an eine Beratungsstelle wenden können. Nun wäre es denkbar, dies für die SPFH ebenso zu handhaben, denn der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist angehalten, „die niedrigschwellige unmittelbare Inanspruchnahme von ambulanten Hilfen, insbesondere der Erziehungsberatung nach § 28, zulassen“ (§ 36a, Abs. 2). Auch wenn im Gesetzestext von den ambulanten Hilfen nur die Erziehungsberatung eigens hervorgehoben wird („insbesondere“), so wäre zumindest dem Wortlaut nach auch etwa die SPFH in Selbstbeschaffung möglich. SPFH könnte dann ohne vorgeschaltete Bedarfsprüfung durch das Jugendamt erbracht werden.

Herausforderungen einer SPFH als Familienbildung

Das Konzept einer Bedingungslosen Jugendhilfe ist dem Einwand ausgesetzt, es könne zu überbordenden Anfragen von Eltern kommen, für die diese Hilfe weder geeignet noch notwendig sei. Manchmal wird dies auch als Problem der „missbräuchlichen“ Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen formuliert. Es handelt sich hier letztlich um den klassischen, schon bei der Einführung des KJHG vor 1991 vielfach artikulierten Einwand, eine niedrigschwellige Kinder- und Jugendhilfe sei weder finanziell realisierbar noch ethisch wünschenswert, weil sie „ein überzogenes Anspruchsdenken in der Gesellschaft fördern und dazu führen [würde], daß persönliche Verantwortung und Einsatzbereitschaft erlahmt“ (Deutscher Bundestag 1989, S. 68).

Stellen wir uns in gedankenexperimenteller Zuspitzung – auch in bewusster Abhebung von gängigen Klischees – den Fall einer Pädagogik-Professorin vor, die eine SPFH aufsucht, um eine Gesprächspartner_in für ausgiebige Diskussionen praktischer Erziehungsfragen bezüglich der eigenen Kinder zu haben und zugleich in der Fachkraft eine Haushaltshilfe, eine Verwaltungskraft für die Abwicklung amtlichen Schriftverkehrs sowie eine Kinderbetreuung sucht. Hier könnte die Auffassung vertreten werden, sie habe keinen Anspruch auf SPFH. Aber dieses Problem ist nicht neu. In der Gerechtigkeitstheorie ist es als Problem „kostspieliger Ambitionen“ bekannt und kann etwa durch sozialpolitische Zuschreibung eines Suffizienzstandards hinsichtlich basaler Chancen der Verwirklichung ausreichend guter Erziehung gelöst werden (vgl. Schrödter 2007, S. 11ff.). Gleichzeitig ist zu bezweifeln, dass sich das Problem empirisch überhaupt auswirkt. In der Regel wird schon jetzt einer Hilfesuchenden, die sich an eine Beratungsstelle wendet, fachlich ein Bedarf anerkannt und es ist wohl als Normalfall davon auszugehen, dass sich vermeintliche „kostspielige Ambitionen“ in den ersten Beratungsstunden als Ergebnis dieser Beratung bearbeiten lassen, etwa mit der Folge, dass auf besser geeignete Bildungs- und Beratungseinrichtungen verwiesen wird.

Aus sozialpädagogischer Perspektive ließe sich daher sagen: Erziehungsberatung wird bereits bedingungslos erbracht! Und vielleicht ist die SPFH de facto bereits nahezu bedingungslos. Denn welcher Hilfesuchendenden wird schon SPFH verwehrt? Diese de facto-Bedingungslosigkeit rechtlich zu kodifizieren, mag eine Herausforderung sein, ist aber für die Erziehungsberatung schon gelungen. Es gibt also noch einiges zu tun, um den mit dem modernen Kinder- und Jugendhilfegesetz begonnenen Ausbau einer sozial gerechten sozialen Infrastruktur fortzuführen, die alle Eltern bei der autonomen Erziehung ihrer Kinder ohne Stigmatisierung unterstützt und damit antifragile Elternschaft fördert.