Der Beitrag bietet eine zusammenfassende und vergleichende Perspektive auf die Kinderschutzsysteme in Finnland, der Schweiz und Deutschland.Footnote 1 Im Folgenden werden zunächst die drei in diesem Schwerpunkt abgebildeten Texte resümierend betrachtet – um Gemeinsamkeiten und Differenzen zu identifizieren und aus diesen zu lernen (Berrick et al. 2023). Im Ergebnis zeigt sich, dass wir es mit drei Kinderschutzsystemen in Entwicklung – in Bewegung – zu tun haben. Aus den sich abzeichnenden Trends, Gemeinsamkeiten und Differenzen werden erste Implikationen für die Weiterentwicklung von Kinderschutzsystemen abgeleitet und abschließend zur Diskussion gestellt.

Das schweizerische Kinderschutzsystem

Joel Gautschi und Stefan Schnurr beschreiben, wie der Kindesschutz in der Schweiz strukturiert und geregelt ist. Dabei wird deutlich, dass das politische, stark dezentralisierte System der Schweiz, mit seiner Organisation in 26 Kantonen, eine zentrale Voraussetzung für die Ausgestaltung von Kinder- und Jugendhilfe und Kinderschutz darstellt. Die Kantone verfügen über weitreichende Befugnisse, so dass eine große Vielfalt lokal unterschiedlicher Formen institutioneller und organisationaler Ausgestaltungen der kinderbezogenen Hilfe- und Schutzsysteme entstanden ist. Eine national einheitliche Gesetzesgrundlage für die Zugänge zu Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe fehlt. Die Vorstrukturierung dieser Zugänge im kantonalen Recht ist divers. In manchen Kantonen fehlt auch sie. Dies ist z. B. für die Situation von Care Leavern in der Schweiz relevant, weil hier, so die Autoren, regional unterschiedliche Angebots- und Übergangsstrukturen geschaffen wurden. Gautschi und Schnurr weisen zudem darauf hin, dass es für das Schweizer Kinderschutzsystem künftig zentral wäre, den Prozess der Professionalisierung der Einschätzungs- und Entscheidungspraxis unter Einbezug der internationalen Fachdiskussion weiterzuführen. Zudem sei die Einführung einer Statistik zu den Anlässen von Kinderschutzmaßnahmen (Gefährdungslagen) und zur Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen bedeutsam, um Weiterentwicklungen im Kinderschutzsystem auf eine gesicherte empirische Basis zu stellen.

Das finnische Kinderschutzsystem

Andreas Baldschun verortet das finnische Kinderschutzsystem im Kontext des skandinavischen Wohlfahrtsstaatsmodells. Soziale Arbeit sei in diesem Kontext stark auf soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohlproduktion, Familienorientierung und Prävention ausgerichtet. Daraus ergebe sich, so der Autor weiter, eine Hilfe- und Dienstleistungsorientierung sowie die Verankerung sozialer Dienste im Kontext des Kinderschutzes in öffentlicher Verantwortung. Baldschun beschreibt eine Kind- und Dienstleistungsorientierung, die durch rechtliche Rahmenbedingungen geregelt wird. Er skizziert das finnische Kinderschutzsystem in diesem Kontext als in drei Kernbereiche gegliedert: Familiensozialarbeit, Kinderschutz und Nachbetreuung junger Erwachsener. Die Angebote werden dabei in erster Linie von öffentlichen Trägern und eher ergänzend von privatwirtschaftlich orientierten Organisationen erbracht. Abschließend benennt Baldschun Herausforderungen für das Kinderschutzsystem – und beschreibt zugleich Antwortversuche auf die sich abzeichnenden Problemlagen, etwa durch eine Stärkung der Sozialen Arbeit im finnischen Kinderschutzsystem.

Das deutsche Kinderschutzsystem

Timo Ackermann und Regina Rätz verorten das deutsche Kinderschutzsystem im Kontext der Sozialen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe sowie als sozialstaatlich organisierte Dienstleistungen. Einleitend betonen sie die Relevanz rechtlicher Grundlegungen für das deutsche Kinderschutzsystem und gehen hier insbesondere auf das Sozialgesetzbuch Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) ein, in dem Organisationsstrukturen, Leistungsformen, Rechtsansprüche und Verfahrensweisen geregelt sind. Ackermann und Rätz betonen dabei die Stärkung der Beteiligungsrechte von Nutzer_innen durch jüngere, kinderschutzbezogener Rechtsreformen. Als Besonderheit heben sie die kommunale Organisation des deutschen Kinderschutzsystems über die mehr als 550 Jugendämter hervor, die u. a. Dienste zur Bearbeitung von (potenziellen) Kindeswohlgefährdungen vorhalten. Abschließend weisen Ackermann und Rätz darauf hin, dass mit den Reformen des SGB VIII einerseits die Beteiligungsrechte der Nutzer_innen gestärkt, andererseits aber, über die zunehmende privatwirtschaftliche Orientierung der Kinder- und Jugendhilfe, möglicherweise eine Grundlage für eine sich abzeichnende Care-Krise gelegt wurde.

Deutschland, Finnland und Schweiz – drei Kinderschutzsysteme in Bewegung

Der Vergleich der Beiträge zeigt, dass alle drei nationalen Kinderschutzsysteme in Entwicklung begriffen sind. Es lassen sich vielgestaltige Versuche konstatieren, Kinderschutz durch die Veränderung rechtlicher, institutioneller und professioneller Rahmungen zu verbessern und weiterzuentwickeln. Gautschi und Schnurr berichten, ebenso wie Ackermann und Rätz, von aktuellen Versuchen, die nationalen Kinderschutzsysteme über die Erneuerung der rechtlichen Grundlagen zu reformieren. Für die Schweiz drückt sich dies beispielsweise in der Ablösung der vormals zuständigen Laienbehörden durch neu geschaffene Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden aus. Für Finnland beschreibt Baldschun Bemühungen, die Profession Sozialer Arbeit im Kinderschutz weiter zu stärken, u. a. über den Ausbau von Studienplätzen. Zudem benennt er konkrete Verbesserungsversuche, wie etwa die Beschränkung der Fallzahlen für Sozialarbeiter_innen im Kinderschutz. Darüber hinaus berichtet er von einer Umstellung auf ein systemisches Arbeitsmodell im Kinderschutz. Insgesamt zeigt sich insofern, dass Kinderschutz, in den jeweiligen sozialstaatlichen Arrangements, offenbar als reformbedürftig betrachtet wird und daher vielgestaltige Versuche der Weiterentwicklung ins Werk gesetzt werden.

Mit Blick auf die Beiträge im Schwerpunkt lässt sich als ein weiterer Trend festhalten, dass die Rechte von Kindern im Kinderschutz zunehmend relevant gemacht werden. Für Finnland markiert Baldschun eine „kindzentrierte Arbeitsorientierung“ sowie eine systematische Berücksichtigung von Kinderrechten. In Deutschland wurden gerade zuletzt die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen im Kinderschutz gestärkt. In allen drei Kinderschutzsystemen wird zudem die Thematik des „Leaving Care“ bearbeitet. Das finnische Kinderschutzsystem hält eine „Nachbetreuung“ bereit, die junge Erwachsene im Übergang aus stationärer Unterbringung begleiten – und auch über ein individuelles, finanzielles Budget unterstützen. In Deutschland wurden die Rechte Selbstorganisationen von Nutzer_innen, u. a. von Care Leaver_innen gestärkt und Regelungen zur Heranziehung der Kosten für die stationäre Unterbringung zu ihren Gunsten geändert. Gautschi und Schnurr berichten, dass die Rechte von Care Leaver_innen, zumindest in einigen Kantonen, gestärkt wurden.

Gemeinsamkeiten: Interdisziplinarität, kommunal-bezirkliche Organisationsweisen, die Schnittstelle zum Recht und Forschungslücken

Für gelingende Kinderschutzarbeit ist, wie die Beiträge im Schwerpunkt zeigen, die Schnittstelle zwischen Sozialer Arbeit und Recht besonders relevant. Interessant ist dabei besonders zu betrachten, wie die jeweiligen Rechtsgrundlagen in Teilen ähnlich, mitunter aber auch ganz anders strukturiert werden, was Konsequenzen für die jeweiligen Kinderschutzsysteme hat. Gautschi und Schnurr umreißen zivilrechtliche Regelungen, in denen, ähnlich wie in Deutschland, das Kindeswohl bzw. die Kindeswohlgefährdung als unbestimmte Rechtsbegriffe definiert werden. Ackermann und Rätz betonen ebenfalls die Bedeutung der rechtlichen Grundlagen für die deutsche Kinderschutzpraxis. Während in Deutschland den Familiengerichten die Aufgabe zukommt, ggf. über den (teilweisen) Entzug der elterlichen Sorge zu entscheiden, verfügen Sozialarbeiter_innen in Finnland über weitergehende Kompetenzen, auch die elterliche Sorge einzuschränken. Für die Schweiz trifft dies insofern zu als die entscheidungsbefugten Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden rechtlich als „interdisziplinäre Fachbehörden“ konstituiert wurden und Sozialarbeitende neben Jurist_innen sehr häufig in den Entscheidungskammern vertreten sind, die aus (mindestens) drei Mitgliedern zusammengesetzt sind. Im Unterschied zum deutschen Kinderschutzsystem scheint besonders die Positionierung von Sozialarbeiter_innen in Finnland eine stärkere (oder auch: „machtvollere“) zu sein. Sozialarbeiter_innen sind dort nach Erwerb einer Lizensierung dazu befugt, rechtsbindende Entscheidungen zu treffen – während „Sozialberater_innen“ in Finnland stärker begleitend in den Fällen aktiv sind. In der Betrachtung der Texte deutet sich damit an, wie die unterschiedlichen Grundlegungen des Rechtes in je spezifische, sozialstaatliche Arrangements des Kinderschutzes überführt werden, über die – rechtlich legitimierte – Eingriffe in Familien vorgenommen werden können.

Gleichzeitig wird bei der Lektüre der drei Beiträge deutlich, wie interdisziplinär die Praxis in allen drei nationalen Kinderschutzsystemen angelegt ist. So weist Baldschun auf die Notwendigkeit sozialpsychiatrischer Versorgungsangebote hin. Ackermann und Rätz heben die Bedeutung des Zusammenwirkens unterschiedlicher Professionen wie Medizin, Recht und Sozialarbeit für die deutsche Kinderschutzpraxis hervor. Gautschi und Schnurr berichten von Empfehlungen, in den Entscheidungsgremien der Kindesschutzbehörden Vertreter_innen aus den Bereichen der Sozialen Arbeit, des Rechts sowie der Pädagogik oder Psychologie zu beteiligen. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis der beiden Autoren, dass die im Kinderschutz tätigen Fachkräfte herausgefordert sind, das Wissen verschiedener Professionen miteinander zu verbinden, um gewissermaßen zu Fachkräften mit generalistischen, transdisziplinären Wissensressourcen zu werden.

In den Texten im Schwerpunkt zeichnet sich zudem eine kommunal-bezirkliche Organisation des Kinderschutzes ab. Baldschun beschreibt die Organisation des finnischen Kinderschutzsystems in 21 Wohlfahrtsbezirke. Gautschi und Schnurr berichten von 124 regionalen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, die je nach Kanton unterschiedlich organisiert werden können.Footnote 2 Ackermann und Rätz betonen die Bedeutung der über 550 Jugendämter, in denen das deutsche Kinderschutzsystem kommunal sehr unterschiedlich organisiert ist.

Allen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie auf Forschungslücken hinweisen. Gautschi und Schnurr wie auch Ackermann und Rätz konstatieren weiteren Forschungs- und Entwicklungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf Beurteilungs- und Entscheidungsprozesse. Darüber hinaus gilt für Deutschland weitgehend, was Gautschi und Schnurr für die Schweiz aufzeigen: Es fehlt, auch angesichts der vielfältigen lokalen Kinderschutzpraxis, an empirischen Daten, um einen verlässlichen Überblick über Kindeswohlgefährdungen, Interventionsanlässe und Kinderschutzbemühungen zu gewinnen. Baldschun weist in seinem Beitrag daraufhin, dass die Auswirkungen der aktuellen Reformbemühungen in Finnland noch nicht abschließend zu bewerten sind – und weiter erforscht werden müssten. Ein Befund, der auf die Kinderschutzpraxis in allen drei Ländern zutrifft: Sie ist in Bewegung (s. oben)! Wissenschaft und Forschung täten gut daran, diese Bewegungen weiterhin kritisch – und solidarisch mit den Handelnden im Feld – zu begleiten.

Kinderschutzarbeit im internationalen Vergleich: geprägt durch sozialpolitische und gesellschaftliche Rahmungen

Im Vergleich der Beiträge zeigt sich zusammengenommen, wie stark Kinderschutzpraxen von sozialpolitischen, institutionellen und gesetzlichen Rahmungen geprägt werden. Diese Beobachtung kann in ihrer Allgemeinheit vielleicht nicht überraschen. In der Betrachtung der Texte lässt sich aber erkennen, wie die jeweiligen Kontexte die Ausformulierung von Kinderschutzsystemen bedingen. Baldschun macht deutlich, wie die Konzeption von Kinderschutz in Finnland mit der Idee des nordischen Wohlfahrtsstaates verbunden ist. Ackermann und Rätz argumentieren, die deutsche Kinder- und Jugendhilfe – und mit ihr die Kinderschutzpraxis – sei nicht zuletzt durch eine Neustrukturierung des deutschen Sozialstaates entlang der Ideen des „New Public Managements“ geprägt worden. Für die Schweiz beschreiben Gautschi und Schnurr, wie die Kinderschutzpraxis durch die Besonderheit des schweizerischen Staatswesens präfiguriert wird.

Eine einheitliche, nationale Gesetzesgrundlage, wie Gautschi und Schnurr für die Schweiz als wünschenswert markieren, ist aber offensichtlich kein Garant für eine einheitliche Ausgestaltung der Kinderschutzpraxis. Das Beispiel des deutschen Kinderschutzsystems zeigt, dass es – trotz einer allgemeinen Bundesgesetzgebung – zur Herausbildung lokaler Disparitäten mit unterschiedlichen Wissenskulturen und Organisationspraxen kommt. Dies trifft auch für das finnische Kinderschutzsystem zu, in dem die Organisation des Kinderschutzes bezirklich gefasst wird; allerdings konstatiert Baldschun, dass die einheitliche Gesetzgebung in Finnland doch auch zu einer gleichförmigeren Umsetzung von Kernprozessen beiträgt – gleichzeitig aber auch zu einer gewissen Starrheit und mangelnder Flexibilität.

Deutlich wird in den Texten des Schwerpunktes überdies, wie gesellschaftliche Entwicklungen und Krisen die Kinderschutzarbeit prägen. Für das finnische Kinderschutzsystem beschreibt Baldschun zunehmende materielle Ungleichheit, aber auch die Marginalisierung von Jugendlichen, psychische Erkrankungen und weitere Nebenfolgen der Covid-19-Pandemie als Herausforderungen. Baldschun schildert zudem die mitunter unzureichende Angebots- und Versorgungslandschaft. Sowohl die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie wie auch eine erodierende Hilfeinfrastruktur lässt sich ebenfalls für das deutsche Kinderschutzsystem feststellen. Ein Fachkräftemangel lässt sich in Finnland und Deutschland gleichermaßen beobachten, was dafür spricht, dass die von Ackermann und Rätz konstatierte Care-Krise nicht national begrenzt ist, sondern transnational gedacht werden müsste.

Implikationen: Kinderschutz im Kontext von Sozialstaat, Sozialpolitik und Gesellschaft denken

Der Schutz von Kindern stellt, wie Berrick et al. (2023) festhalten, offenkundig ein zentrales Anliegen von nahezu allen Staaten weltweit dar – auch unabhängig von ideologischen Orientierungen und Entwicklungspfaden des Sozialstaats. Kinderschutz wird aber jeweils unterschiedlich ausformuliert und – wie der Schwerpunkt zeigt – von Besonderheiten (wohlfahrts-) staatlicher Arrangements geprägt. Dies bildet sich auf einer relativ offensichtlichen Ebene in der kantonalen und föderalen Struktur der Schweiz bzw. der BRD ab, könnte aber sicherlich noch vertiefend untersucht werden – etwa mit Blick auf die Gewordenheiten der jeweiligen Formen des Sozial-Staates mit seinen jeweiligen Orientierungen und Spezifika. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, wie im Modell des nordischen Sozialstaats Soziale Arbeit als starke Profession und Disziplin mit eigenem Promotionsrecht behandelt wird, die sich an sozialer Gerechtigkeit orientiert und Dienstleistungen aus öffentlicher Hand bereitstellt. In diesem Kontext sind offenbar rechtliche Regelungen denkbar, die in Deutschland – trotz vielfältiger Hinweise auf die Überlastung der Jugendämter bislang nicht durchsetzbar waren –, wie z. B. die von Baldschun benannte Begrenzung auf 35 Kinder und Jugendliche pro Sozialarbeiter_in – eine für Deutschland unvorstellbare Zahl, da Sozialarbeiter_innen immer wieder berichten, dass sie weit über 60 Fälle zu bearbeiten haben.Footnote 3

Eine Veränderung von Kinderschutzpraxis hätte insofern – über eine Stärkung der Kompetenzen von Arbeitskräften hinaus – immer auch diese gesellschaftlichen, sozialpolitischen und rechtlichen Perspektiven mitzudenken. Transformationsbemühungen müssten die Besonderheiten der Kinderschutzsysteme im jeweiligen sozialstaatlichen Arrangement berücksichtigen. Gerade hierfür erscheint der internationale Vergleich produktiv, weil er Differenzfolien liefert und den Blick dafür öffnet, wie Kinderschutz anders (oder sogar ganz anders!) gedacht und organisiert werden könnte.