Praktiken der Erziehung nehmen ihren Ausgang oftmals dann, wenn die Selbstläufigkeit pädagogischer Routinen gestört ist und Kooperation und Gemeinschaft wieder hergestellt werden müssen. In pädagogischen Institutionen der Kindheit (wie Schule oder Kindertagesstätte) werden durch Erziehungspraktiken subjektivierend Normen und Regeln bearbeitet. In der pädagogischen Praxis lassen sich dabei oft Thematisierungen von Emotionen durch pädagogische Fachkräfte beobachten, die Beschämungen und Deprofessionalisierungen evozieren können.

Erziehung bildete lange Zeit einen eher randständischen Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung. Allerdings sind in letzter Zeit verstärkt Hin- bzw. Rückwendungen zum Erziehungsbegriff zu verzeichnen – möglicherweise schon deswegen, weil die Grenzen einer individualistisch ausgerichteten quantitativen Bildungsforschung und ihrer Kompetenzraster einerseits sowie Unbehagen gegenüber einem gouvernementalen Individualisierungsparadigma andererseits deutlicher sichtbar werden. Denn mit dem Erziehungsbegriff rückt in spezifischer Weise das Subjekt in seinem Verhältnis zu gesellschaftlichen Kontexten in den Blick, insofern Erziehung immer auch darauf abzielt, soziale Regeln und die in ihnen eingelassenen gesellschaftlichen Normen zu artikulieren. Erziehung ist – so bereits Bernfeld (1981) – eine zutiefst „gesellschaftliche Tatsache“, die sich nicht allein aus einer ‚naturwüchsigen Erziehungsbedürftigkeit‘ von Kindern (Herbart 1962) ableiten ließe. Darüber hinaus bedarf die Sozialität pädagogischer Arrangements (sei es Familie, Kindertagesstätte, Jugendbildung) der Gemeinschaft, die in erzieherischen Praktiken hergestellt wird (Budde et al. 2021). Erziehung lässt sich somit verstehen als „eine in normbezogenen Subjektivierungsprozessen erzeugte pädagogische Ordnung“ (Budde 2020, S. 71) mit dem Ziel der Verhaltensmodifikation. Mit dem Verweis auf Subjektivierung (Butler 2001, S. 8) werden die individuelle und gesellschaftliche Seite von Erziehung als unauflösbarer Zusammenhang verstanden. Erzieherische Praxis setzt ein, wenn Sozialisation sich nicht mehr selbstläufig vollzieht, sondern brüchig und krisenhaft wird (Budde und Rademacher 2023) und Kooperation zwischen Interaktionsteilnehmer_innen nicht vorausgesetzt, sondern erst hergestellt werden muss. Insbesondere rekonstruktive Forschungen richten das Augenmerk weniger auf das programmatische Versprechen von Erziehung, sondern auf die pädagogische Praxis und öffnen damit die Perspektive für eine empirische Analyse, die sich bislang kaum etablieren konnte (Nohl 2020). In diesem Rahmen fundieren unsere ethnographischen Studien mit Intentionalität, Normativität, Sichtbarkeit und Normbezogenheit vier Merkmale von Praktiken der Erziehung (Budde 2021).

Insbesondere die Intentionalität wird häufig als besonderes Kennzeichen und als Abgrenzungsmerkmal gegenüber dem Sozialisationsbegriff verstanden (Nohl 2018; Koller 2009). Erziehung ist immer auch deswegen absichtsvoll, weil sie spezifischen Normen und Regeln explizit Geltung zu verschaffen sucht, denn Regeln „sind immer an Normadressaten gerichtet, von denen ein normgemäßes Handeln gefordert wird“ (Staake 2018, S. 273). Im Gegensatz zu rechtlichen Normen, die auf einer formellen Setzung basieren, beruhen die von Staake (2018) so benannten Moralnormen auf einer Anerkennung durch Einzelne oder Gruppen. Im Falle eines Verstoßes gegen eine soziale Moralnorm sei eine soziale Missbilligung zu erwarten, da eine externe Verhaltenserwartung unerfüllt geblieben sei (Staake 2018). Normen und Regeln werden mithin nicht einfach durchgesetzt, sondern die ‚Zöglinge‘ sollen sich selber in ein Verhältnis zu ihnen setzten. Diese Form der Subjektivierung markiert u. E. eine (unscharfe) Abgrenzung gegenüber des Bildungsbegriffs, da Erziehung auf Normen zurückgreift, die wiederum in Regeln geronnen sind.

Diese Normen sind allerdings nicht unmittelbar ‚gesellschaftliche‘ Normen, wie die Rede von Erziehung als gesellschaftliche Tatsache vielleicht implizieren könnte, sondern je spezifische Normen eines pädagogischen Arrangements. Normen der Kindertagesstätte differieren (zwar nicht vollständig, aber durchaus) von denen in der Erwachsenenbildung oder eines Jugendtreffs. Als frühe und erste Institutionen kommen der Kindertagesstätte und der Grundschule eine besondere Bedeutung bei der Subjektivierung in und durch Erziehung zu. Insbesondere in den pädagogischen Institutionen der Kindheit findet insofern exemplarische Erziehung dazu statt, wie man sich in institutionellen Kontexten verhält. Die Normen bilden ein Geflecht etwa aus Vorstellungen über angemessenes Verhalten, Bildern von Kindheit oder institutionelle Funktionen. An Stelle familialer und partikularer Beziehungs- und Interaktionsmuster treten mit den pädagogischen Institutionen der Kindheit allgemeingültigere, die der Gruppe und der Institution verpflichtet sind. Institutionen regeln – so zumindest ihr Anspruch – Verhaltensnormen überindividuell. Zugleich aber besteht die Annahme einer besonderen pädagogischen Kindzentriertheit dieser Institutionen, welche die Subjektivität und den Eigensinn der Kinder bewahren und fördern solle. Die Institution vollstreckt also nicht ungebrochen Normen und Regeln, sondern innerhalb eines pädagogischen Kontextes. Insofern stehen insbesondere pädagogische Institutionen der Kindheit in Spannungsverhältnissen und sind aus diesem Grund privilegierte Orte der Beobachtung von Subjektivierungen in Erziehungspraktiken. Besonders der pädagogischen Beziehung kommt – so unsere Annahme – eine wesentliche Rolle bei der Auseinandersetzung um Regeln und Normen zu, die in und durch pädagogische Praktiken auf der Basis pädagogischer Antinomien (Helsper 2004) zur Geltung gebracht werden (Budde und Eckermann 2021).

Der Verweis auf Normen und Intentionalität, als zentrale der Erziehung zugrundeliegende Merkmale, impliziert jedoch keineswegs, dass es um primär geplante und gezielte Aktivitäten ginge. Regeln und Normen werden praktisch zu Geltung gebracht, ausgehandelt, gebeugt, gebrochen oder transformiert. Mit Schatzki (2010) könnte formuliert werden, dass explizite wie implizite Regeln, gemeinsame Verständnisse sowie Emotionen und Absichten dazu beitragen, dass pädagogische Praktiken sich vollziehen. Damit berührt Erziehung – so unsere Überlegung – immer auch Fragen der Emotionen. Denn nicht wenige Anlässe für erzieherische Interaktionen gründen in emotionalen Belangen; in erzieherischer Praxis thematisierte Regel- und Normenkonflikte sind oft emotional aufgeladen. Aber Emotionen sind auch expliziter Gegenstand erzieherischer Bemühungen. Eine „Bildung der Gefühle“ (Frevert und Wulf 2012) wurde bereits im 19. Jahrhundert als zentrales Anliegen der Pädagogik formuliert und auch als Aufgabe an den schulischen Kontext adressiert (Frevert und Hoffmann 2012). Allerdings wurden historisch weniger Emotionen als soziale Praxis von Erziehung thematisiert, sondern philosophische Betrachtungen dazu angestellt, welche emotionale Qualität pädagogisch anzustreben seien, sprich: welche Gefühle gestärkt und welche diszipliniert werden sollen. Emotionen bilden einen ebenso wichtigen wie analytisch bislang weitgehend vernachlässigten Gegenstand von Erziehungsforschung.

Insofern liegt ein Desiderat nicht nur in der Rekonstruktion von Praktiken der Erziehung mit Blick auf regel- und normbezogene Aspekte vor, sondern spezifischer für die darin eingelagerte Prozessierung von Emotionen. Deswegen wird im Folgenden aus subjektivierungstheoretischer Perspektive gefragt, in welcher Weise Regeln und Normen in pädagogischen Institutionen der Kindheit insbesondere mit Blick auf die Bedeutung von Emotionen prozessiert werden. Anschließend an die Annahmen zu Moralnormen wird beleuchtet, wie pädagogisches Personal zur (Durchsetzung der) Anerkennung von Normen auf Emotionalisierungen zurückgreift. Um die aufgeworfenen Fragen zu analysieren, werden ethnographische Beobachtungsprotokolle analysiert. Konkret rekonstruieren wir anhand exemplarischer Einzelfälle die Relevanz von Emotionen als Erziehungsmodi in einer Grundschule und kontrastieren diese mit Emotionen in einer Kindertagesstätte und nehmen so die Phase der Einsozialisation in die Logik pädagogischer Institutionen in der Kindheit in den Blick.

Erziehung als unauthentische Emotionalisierung und Moralisierung in der Grundschule

Im Datenmaterial zeigen sich in vielen Unterrichtsstunden längere Interaktionen, in denen eine Unangemessenheit des Schüler_innenverhaltens von der Lehrperson explizit thematisiert wird. In einem Protokoll aus dem Deutschunterricht einer zweiten Klasse in einer ostdeutschen Großstadt werden dabei Emotionalisierungen der Regel- und Normenthematisierung deutlich. Vorausgegangen war der Besuch einer Schulzahnärztin, der durch Schüler_innen gestört wurde.

Die Lehrerin fragt, was los war. „Ein Kind hat ganz viele Witze gemacht“ sagt Karl. „Im Unterricht? Oh!“ immer noch gespielt-überrascht die Lehrerin. Karl bejaht. „Oh, wer hat denn die Witze gerissen?“ „Bellis“ sagt Karl. „Bellis hat Witze gerissen? Im Unterricht?“ fragt die Lehrerin weiter: „Erzähl mal, Bellis. Gab es die Möglichkeit dazu, Witze zu reißen im Unterricht? Ich dachte es war Zahnputztraining mit Frau B. dran. Was hast du denn für Witze gerissen?“ „Die anderen Kinder haben auch Witze gemacht“ sagt Bellis kaum hörbar. „Ich habe dich gefragt! Was hast Du für Witze gerissen? Ich hab nicht gefragt, welche Witze vielleicht Pawel gerissen hat. Oder Emilia. Sondern was hast du für Witze gerissen“ sagt die Lehrerin. Bellis Antwort kann ich nicht verstehen. „Ich möchte, dass sich die Kinder melden, die laut gewesen sind.“ Vier Jungen melden sich, Bellis meldet sich zögerlich. Die Lehrerin fragt Frau B., ob sie schauen könnte, wer noch laut war, „ob da jemand gerade nicht so ehrlich ist, und sich nicht traut, sich zu melden“. „Das waren schon die Pappenheimer“ sagt Frau B. mit Blick auf die sich meldenden Kinder.

Die Lehrerin meint dann: „Leider war dann unser Spaß nicht mehr so toll. Und die anderen mussten darunter leiden. Mh, das finde ich sehr schade! Ihr fünf bleibt in der Hofpause bitte drin, wir unterhalten uns darüber nochmal … könnt ihr euch noch an Freitag erinnern? Könnt ihr euch daran erinnern, mit welcher Miene ich hier gesessen habe und wie traurig ich war, so ins Wochenende zu gehen? Ja? Und wenn ihr in mein Gesicht schaut, könnt ihr vielleicht erkennen, wie sehr ich mich jetzt darüber freue, dass die Woche genauso beginnt. Ich hab jetzt keine Lust, das mit allen Kindern zu besprechen, weil es gibt ganz viele Kinder in der Klasse, die sich sehr wohl an unsere Regeln halten können. Aber ich finde das ein UNDING! Dass ihr versucht, bei anderen Erwachsenen hier versucht die Klassenclownies zu spielen oder laut rumzuschreien, ja? Das macht mich total traurig. Das macht mich nicht nur traurig, Luis, das ist mir auch unangenehm, jetzt Frau B. gegenüber. Denn ihr seid meine Klasse.“

Die Lehrerin markiert in dem Protokollauszug das aus Sicht der Lehrpersonen undisziplinierte Verhalten einiger Schüler_innen als Problem. Diese hätten sich nicht an die geltenden Regeln gehalten, sondern das Zahnputztraining bei Frau B. gestört. Die Schüler_innen, werden in einer klassenöffentlichen Befragung zum Geständnis aufgefordert (vgl. Budde und Weuster 2018). Der Regelbruch wird personalisiert, indem etwa Bellis explizit aufgefordert wird, zu berichten, „was Du für Witze gerissen hast“. Die öffentliche, ironisch untermalte Beschämung evoziert negative Emotionen, wie Bellis „kaum hörbare“ Antwort nahelegt. Durch Formulierungen wie „Klassenclownies“ wird das Verhalten der „Pappenheimer“ als lustvoll, unvernünftig und altersunangemessen markiert. Demgegenüber wird implizit die Norm der eigenständigen Erfüllung der Verhaltensordnung und das (unterstellte) Leid der Mitschüler_innen gestellt – denn der Rest der Klasse wird emotional vergemeinschaftet, da diese unter den Regelbrüchen „leiden mussten“. Die erzieherische Norm zielt auf eine spezifische kollektive ‚angemessener Emotionen‘, die den klassenförmigen Unterricht erst ermöglicht und zugleich für seine Durchführung notwendig ist.

Die Lehrerin gibt mehrfach an, dass die Regelverletzung sie „traurig“ mache und verweist auf den letzten Freitag, wo sie ebenfalls „traurig dagesessen“ habe. Die sich real vollziehende Disziplinierung der Kinder allerdings ist emotional weniger von Traurigkeit geprägt, als vielmehr von Unzufriedenheit und Aggression. Auffällig an dieser Szene ist deswegen insbesondere der Modus der in diesem Sinne unauthentischen Emotionalisierung, da die „Traurigkeit“ vorgespielt ist. Zugleich verdeckt die Lehrerin mit der Markierung von „Trauer“ ihre eigentlichen Gefühle, nämlich den mutmaßlichen Ärger, der sich etwa in dem Begriff „Unding“ Bahn bricht. Die Unzufriedenheit und Aggression scheint jedoch als Emotion nicht legitim benennbar, sondern wird begrifflich als Trauer gerahmt. Statt authentischer Emotionen werden unauthentische Gefühle zur Aufführung gebracht, die dem schulischen Kontext offenbar angemessener sind.

Die Lehrerin ‚zeigt‘ und führt den Kindern anhand ihrer vermeintlichen Gefühle vor, welche Empfindungen in dieser Situation adäquat sind und welche nicht. Die Normen werden nicht nur verbal verdeutlicht, sondern es wird exemplarisch eine emotionale Haltung gezeigt (vgl. zur Zeigegeste etwa Prange 2012), die durch Regelverletzungen entsteht. Die persönliche Betroffenheit wird als Lernanlass für regelkonformes Verhalten dargestellt. Dadurch setzt die Lehrerin ihre Person (gleichsam als ‚Mittel‘ oder ‚Sache‘) mit den Regeln gleich: ‚Wer die Regeln verletzt, verletzt mich‘. So wird persönliche Betroffenheit als Geltung für Regeleinhaltung ins Spiel gebracht und damit der universalistische Charakter von Regeln und Normen unterlaufen. Die Norm wird mit dem Markieren des Lerngegenstandes ‚angemessene Emotionen‘ durch exemplarisches Aufzeigen der emotionalen Reaktionen auf unangemessenes Verhalten (Trauer, Verletzung) verknüpft und dabei individualisiert. Damit wird die Antinomie aus Nähe und Distanz einseitig zugunsten von (durch Trauer und Ironie bei der Lehrerin und der Unterstellung von Leiden bzw. Unreife bei den Schüler_innen) individuellen Nähebeziehungen ausgestaltet und so einer Deprofessionalisierung des pädagogischen Arbeitsbündnisses Vorschub geleistet (Helsper 2004).

Erzieherische Normaushandlungen über Emotionen in der Kindertagesstätte

Anhand des schulischen Beispiels konnten wir zeigen, dass Emotionen eine zentrale Bedeutung in der erzieherischen Prozessierung von Normen und Regeln besitzen. Daran anschließend ließe sich fragen, ob es sich dabei um eine spezifisch institutionelle Choreografie handelt, die angesichts vergleichsweise starrer schulischer Logiken erwartbar war – oder ob es sich um einen allgemeinen pädagogischen Modus der Regelaushandlung handeln könnte? Dazu wird ein ethnografischer Protokollauszug aus einer Kindertagesstätte herangezogen:

Pia kommt aus dem Bewegungsraum und geht mir und Erzieher Domenik entgegen. Sie sagt anklagend: „Ibrahim hat mich gehauen!“. Domenik und ich gehen daraufhin beide in den Bewegungsraum und er fragt mit tadelnder Stimme: „Ibrahim, was ist denn hier los?“ Ein anderes Kind berichtet nun noch weitere Sachen, die Ibrahim gemacht habe, während kein_e Erzieher_in im Raum war. Domenik wiederholt, während Ibrahim neben anderen Kindern auf einer Matte sitzt: „Ibrahim, was ist denn los? Bist du wütend?“ „Ja!“ sagt Ibrahim bestimmt. Der Erzieher fragt: „Bist du wütend wegen dem, was ich vorhin gesagt habe? Aber ich habe euch doch erklärt, warum ich geschimpft habe. Ich bin wütend, weil ihr euch einfach heimlich Autos aus dem Gruppenraum nehmt, mit in den Bewegungsraum nehmt, ohne uns zu fragen! Dann müsst ihr uns einfach fragen, dann müsst ihr das nicht heimlich machen! Und dass ich das gesagt habe, dafür kann ja Pia nichts und auch die anderen Kinder nichts!“ Ibrahim sagt nichts, guckt ihn nur an. Domenik dann, etwas einlenkend: „Was willst du denn jetzt?“. Nilay berichtet von einer anderen Regelverletzung Ibrahims, aber Domenik unterbricht ihn und sagt sehr bestimmt: „Ich rede gerade mit Ibrahim! Und ich möchte noch eine Antwort bekommen!“ Ibrahim antwortet nun: „Autos!“ Erzieher Domenik entgegnet: „Ja dann kannst du rüber in den Gruppenraum gehen und dir da zwei Autos holen!“ Ibrahim verlässt den Raum.

Der Erzieher Domenik wird in dieser Szene von anderen Kindern darauf hingewiesen, dass sich Ibrahim im Bewegungsraum scheinbar nicht regelkonform verhalten habe, indem er beispielsweise andere Kinder gehauen habe. Domenik richtet sich nun direkt an das beschuldigte Kind und fragt nach, ob Ibrahim wütend sei. Als dieser zustimmt, liefert Erzieher Domenik direkt eine Erklärung, warum Ibrahim wütend ist, indem er seine eigene vorherige Disziplinierung als Grund benennt und erklärt, dass er selbst wütend ist, weil die Kinder ungefragt Autos aus dem Gruppenraum mitnehmen würden. Schließlich erläutert er das gewünschte Verhalten und mahnt, dass die anderen Kinder ja nichts dafürkönnten, dass er das zu Ibrahim gesagt habe.

Dem schon vorher entstandenen Konflikt zwischen einigen Kindern und dem Erzieher liegt ein Bruch von institutionellen Regeln zugrunde, die sich unter anderem auf die richtige Nutzung von Gegenständen und Räumen beziehen. Da einige Kinder diese Regeln gebrochen haben, hat Domenik disziplinierend eingegriffen. Er versucht, die aktuelle Situation zu lösen, indem er die Disziplinierung noch einmal erklärt. Dabei legt er offen, welche Emotion das Verhalten des Kindes bei ihm ausgelöst hat: Er sei „wütend geworden“. Interessant ist die dann folgende Begründung für das Wütend-Werden: Zum einen steckt in seiner Aussage der Vorwurf, dass die Kinder die generationale Machtposition missachtet hätten, indem sie die Erzieher_innen nicht vorher um Erlaubnis gebeten haben. Zusätzlich wirft er ihnen Vorsatz vor, dass sie „heimlich“ vorgegangen seien. Er spricht den Kindern also eine mutwillige Intention Ihres Verhaltens zu. Schließlich verurteilt er, dass Ibrahim seine Wut, die ja durch den Erzieher selbst ausgelöst wurde (aber wiederum auch nur eine Reaktion auf das nicht-regelkonforme Verhalten des Kindes gewesen sei), an anderen Kindern auslasse. Um das Autoritätsverhältnis wiederherzustellen und dem Kind regelkonforme Verhaltensweisen näher zu bringen, besteht der Erzieher darauf, dass Ibrahim ihm nun sagt, was er machen will. Als dieser antwortet, wird ihm seinem Wunsch (die Autos mit in den Bewegungsraum zu nehmen) gestattet. Scheinbar wird hier die Regel, dass kein Spielzug mit in den Bewegungsraum genommen werden darf, ‚um des lieben Friedens willen‘ sowie um die regelkonforme Anfrage zu honorieren, ausgehebelt.

Der Erzieher begründet sein Wütend-Seins also mit dem Verhalten des Kindes, das die Entscheidungsmacht der Erzieher_innen missachtet und „heimlich“ eine institutionelle Regel zum richtigen Gebrauch von Dingen und Räumen gebrochen habe. Dass Ibrahim deswegen nun wiederum wütend sei, wird als nicht gleichermaßen legitim markiert, da die Emotion des Erziehers ja nur eine Reaktion auf das Verhalten des Kindes selbst sei und damit gerechtfertigt. Wut ist in diesem Fall nur dem Erzieher zugestanden, der sich in einer generational-machtvollen pädagogischen Position befindet, den Regelwächter der pädagogischen Institution personifiziert und damit die Deutungsmacht darüber besitzt, welches Verhalten richtig ist und wem welche Emotionen zustehen. Zudem sei das Auslassen der Emotion Wut an den anderen Kindern illegitim, denn diese seien ja unbeteiligt an dem Konflikt.

Fazit

Pädagogische Institutionen und ihre Praxis sind in einem gewissen Maß auf gemeinsam geteilte Normen angewiesen. Erzieherische Praktiken regeln dabei jene Grenzfälle, in denen Sozialisationsprozesse brüchig werden, da Werte und Normen aufgrund von Konflikten verletzt und damit thematisch werden. Anhand von empirischem Material aus pädagogischen Institutionen zeigt sich, dass dabei oftmals Emotionen wie Wut auftauchen, die legitimer Weise aufgrund von (pädagogischen und institutionellen) Hierarchien nur durch Pädagog_innen in der Öffentlichkeit der Gruppe gezeigt werden (dürfen).

Auf eine Regelverletzung wird mit Rückgriff auf Emotionen erzieherisch in der Öffentlichkeit der anwesenden Kinder reagiert. Dabei zeigt sich, dass Emotionen situativ einer Bewertung als legitim oder illegitim unterliegen, die allein von den pädagogischen Professionellen vorgenommen wird. Sie sind ‚legitim wütend‘, da sie auf den Regelbruch und die Missachtung der generational-institutionellen Machtverteilung reagieren. Sowohl im schulischen Beispiel als auch in dem aus der Kindertagesstätte nimmt die Fachkraft die Position des betroffenen Regelverbürgenden ein. Den Kindern werden Emotion abgesprochen, da sie (absichtlich, so die Unterstellung) gegen Regeln und Normen verstoßen und aus der Perspektive der Lehrperson bzw. Erzieher_in somit Schuld an den entstandenen Konflikten haben. Appelliert wird an Eigenverantwortlichkeit, die bestehenden institutionellen Regeln und Normen einzuhalten. Die pädagogische Fachkräfte nutzen ihre Deutungshoheit über angemessene Emotionen, um einen Lernanlass zu den institutionellen Regeln zu schaffen. Konflikte werden aufgelöst, indem Kinder jenes Verhalten vollziehen sollen, das norm- und regelkonform ist und nicht emotionsgeleitet. Die jeweilige erzieherisch etablierte Regel zielt auf die Aufrechterhaltung und Kontrolle der institutionellen Abläufe, die zum einen auf konkreten Regeln zum Gebrauch von Dingen und Räumen basieren. Zum anderen soll die pädagogisch-generationale Machtverteilung aufrecht erhalten bleiben.

Dies impliziert eine emotionalisierende Individualisierung von Konflikten und damit einhergehend eine einseitige Betonung der Beziehungsebene der Nähe-Distanz-Antinomie. Kinder in Kindertagestätten und Grundschule hingegen sollen paradoxerweise gerade einen universalistischen und rationalen Modus übernehmen, obgleich ihnen anderes gezeigt wird. In Institutionen der frühen Kindheit wird auf Regelbruch und Normverletzung, so konnte anhand der ethnografischen Beobachtungen gezeigt werden, in einem Modus reagiert, der nicht auf den allgemeinen gesellschaftlichen Normanspruch zurückgreift, sondern sich explizit auf die Einhaltung der spezifischen institutionellen Regeln, die Aufrechterhaltung der machtvollen ‚Erzieher-Zögling-Beziehung‘ sowie angemessene und eingeforderte Emotionsregulierung bezieht.