Schulen, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe oder Freizeitangebote: In den öffentlichen wie auch fachlichen Diskursen scheint gesichert, dass an allen diesen Orten Prozesse der Sozialisation, Erziehung und Bildung stattfinden. Wie genau allerdings solche pädagogischen Prozesse zu erfassen und begreifen sind, ist gar nicht so eindeutig. Vielmehr stellt sich auch in diesen pädagogischen Institutionen die Fragen, ob, wo, wann und wie Erziehung stattfindet.

Die Orte, an denen Kinder und Jugendliche mal mehr oder weniger freiwillig einen großen Teil ihres Alltags verbringen, werden heute wie selbstverständlich als ‚(sozial-) pädagogische‘ Einrichtungen und Angebote wahrgenommen, also Schulen, Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe u. v. m. In den öffentlichen wie auch fachlichen Diskursen scheint gesichert, dass in allen diesen Institutionen Prozesse der Sozialisation, Erziehung und Bildung stattfinden. Dabei ist die Bestimmung dessen, was denn genau das ‚Pädagogische‘ in diesen institutionellen Kontexten ist oder wie das ‚Pädagogische‘ in den Interaktionen, den Praktiken und Praxen eingelagert ist, längst nicht so sicher geklärt. Vielmehr stellen sich auch in diesen pädagogischen Institutionen die Fragen, ob, wo, wann und wie Erziehung stattfindet.

Diese Fragen lassen sich verorten im aktuellen Diskurs um Pädagogisierungen (vgl. Schäfer und Thompson 2016). Hierbei wird u. a. die Ausweitung des Pädagogischen in eine Vielzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche untersucht, um genau hierüber das Pädagogische selbst eindeutiger verstehen und bestimmen zu können. Zugleich werden im Erziehungs- und Bildungssystem eben jene Praktiken beobachtet, welche als erziehen, bilden, vermitteln, aushandeln u. v. m. bezeichnet werden können. Der vorliegende Beitrag gibt Einblicke in das Qualifikationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Herstellung von Lebensformen in und durch pädagogische Praktiken – Eine praxistheoretische Feldstudie zur Erziehung in institutionellen Kontexten“.

Empirische Annäherungen an Erziehung – Intentionalität, Interaktion und Institutionalisierung

Mit dem Anspruch, einen empirischen Blick auf diese Prozesse zu richten, und sie nicht, wie zuvor in Konzeptionen geisteswissenschaftlicher Pädagogik, einfach als Reflexionsfolien zu setzen, wurden seit den 1960er-Jahren eine Vielzahl von Annäherungsversuchen vorgelegt. Zu vermerken ist allerdings, dass die Hinwendung zur Erziehung angesichts der Konjunktur der Theorien zur Sozialisation und Bildung in den vergangenen Jahrzehnten rückläufig war (vgl. die Einleitung zu diesem Schwerpunkt). Nun allerdings scheint sich ein neues Interesse an Erziehung und Erziehungsforschung abzubilden, was sich an den Beiträgen im Sammelband zur rekonstruktiven Erziehungsforschung (Nohl 2020) zeigt.

Auch wenn die jüngeren Ansätze zur Beforschung von Erziehung einer Vielfalt an unterschiedlichen Methodologien folgen, lässt sich als Gemeinsames herausarbeiten, dass sie sich in irgendeiner Weise mit dem Problem der Komplexität von Erziehung respektive der notwendigen Komplexitätsreduktion beschäftigen (müssen). Dabei scheint ein Grundproblem zu sein, wie in den jeweiligen Ansätzen das Verhältnis von Intentionalität, Interaktion und Institutionalisierungen gesetzt wird.

So werden pädagogische Prozesse erstens mitunter in funktionale und intentionale Erziehung eingeteilt. Mit funktionaler Erziehung werden die Prozesse der Vermittlung von Fähigkeiten, Wissen und praktischen Fertigkeiten bezeichnet, die für ein selbstständiges und handlungsfähiges Leben innerhalb der jeweiligen Gesellschaft nötig sind. Die intentionale Erziehung hingegen betont die Vermittlung von Werten, Überzeugungen und moralischen Prinzipien, die also stärker auf die Entwicklung einer Ethik in Übereinstimmung mit den jeweilig gegebenen Normen der Gesellschaft abzielen. Heute werden die funktionale Erziehung und Sozialisation oftmals synonym verwendet, sodass Erziehungsprozesse stärker unter Aspekten der Intentionalität und/oder Zielorientierung adressiert werden. Gemeint ist eine „Erziehung zu“ – etwa bei Theodor W. Adorno (2020 [1969]) eine Erziehung zur Mündigkeit und im Wortlaut des § 1 Satz 1 SGB VIII die „Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Zweitens findet Erziehung ganz konkret in den Interaktionen der handelnden Akteur_innen statt. Erziehung setzt sich aus symbolisch vermittelten, leiblichen und (vor-)sprachlichen Handlungen zusammen, die bedingt werden durch eine spezifische Situation und (teilweise institutionalisiertem) pädagogischen Handeln (vgl. Mollenhauer 1972). Darüber hinaus ist Erziehung drittens konturiert durch eben jene pädagogischen Institutionalisierungen, also z. B. durch Routinen, dem Habitus (vgl. Ecarius 2002) oder durch ein spezifisches „kulturelles Erziehungsmilieu“ (Müller und Krinninger 2016, S. 134).

In der Folge dieser drei Blickschneisen auf Erziehung entwerfen die jüngeren Studien zur Erziehung unterschiedliche methodische Ansätze und jeder Ansatz birgt ein unterschiedliches Risiko, das Erziehungsgeschehen zugunsten eine der drei Achsen auszudeuten. So richten beobachtende Verfahren, wie Anna Brake (2015, S. 76 f.) kritisiert, alle Aufmerksamkeit auf den jeweils spezifischen situativen Kontext, wodurch sie die Praxis als allein von der Situation oder der darin enthaltenen Interaktion hervorgebracht rekonstruieren. Befragende Verfahren, also in Form von Interviews oder Gruppendiskussionen, neigen dazu, sich auf die Erziehungserfahrungen und -haltungen von Erziehenden und Erzogenen zu konzentrieren, erinnert Arndt-Michael Nohl (2020, S. 6). Und umso schwerer haben es Ansätze, die sich der Institutionalisierungen in Erziehungsprozessen in angemessener Form forschend nähern wollen, da sie erst Forschungsdesigns entwickeln müssen, die diesen Zuschnitt empirisch abbilden können – z. B. in Form der Diskursanalyse. „Und jene Zugänge, die an übergreifenden Rahmungen (Organisation, Institution oder Diskurs) interessiert sind, müssen meist offenlassen, welchen Niederschlag solche Rahmungen im einzelnen Erziehungsprozess erhalten.“ (Nohl 2020, S. 7).

Vor dem Hintergrund dieses Grundwissens über die Komplexität von Erziehung, ist für die Erforschung derselben wichtig, alle drei Achsen – Intentionalität, Interaktion und Institutionalisierungen – miteinander zu vermitteln. Dies ist dann plausibel möglich, wenn zuvor eine Theorie des Sozialen zugrunde gelegt wird, mit der bestimmt werden kann, wie sich Individuum und Gesellschaft als ein Zusammenhang entfalten. Und dieser Verweisungszusammenhang lässt sich über Theorien zu Lebensformen aufrufen, wonach das Gesellschaftliche seinen Niederschlag in Lebensformen findet, die zugleich individuell und kollektiv hervorgebracht werden.

Über die Herstellung von Lebensformen in und durch pädagogische Praktiken

Der Begriff der Lebensformen findet sich schon früh bei Alfred W. Fred (1911) und Eduard Spranger (1924), später dann bei Ludwig Wittgenstein (2001 [1953]) und Pierre Bourdieu (1979). Mit je etwas unterschiedlichen Konzeptionierungen und Akzentuierungen verweisen die genannten Autoren darauf, dass sich Gesellschaften über verschiedene und parallel bestehende Lebensformen herstellen: Sie lassen sich bspw. als Bündel von sozialen Praktiken verstehen, in denen sich Einstellungen, habituelle Verhaltensweisen, Normen und Werte vereinen. Darauf aufbauend geht Rahel Jaeggi (2014) davon aus, dass in Lebensformen ebenso spezifische Sinnzuschreibungen eingelagert sind, wonach die eigene Lebensform als besonders ‚angemessen‘, ‚sinnvoll‘ oder ‚klug‘ im Kontext der Anforderungen der jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen bewertet werden. So verweist Jaeggi (2014) auf das konkurrenzielle Verhältnis von unterschiedlichen Lebensformen innerhalb ein und derselben Gesellschaft: Lebensformen seien hochgradig normativ und zugleich kollektiv verankert, sie konkurrieren darum, als jeweils ‚beste‘ Lösung für ein gesellschaftliches Problem zu gelten.

Als ein Beispiel können die unterschiedlichen familiären Lebensformen genannt werden. So gehen Anhänger_innen des heteronormativen Kleinfamilienmodells davon aus, dass es für die kindliche Entwicklung ‚das Beste‘ sei (bspw. vor dem Hintergrund bindungstheoretischer Annahmen), dass Kinder in der frühen Kindheit von einer festen Bezugsperson (i. d. R. von der Mutter) betreut werden. Dahingegen argumentieren neuere Familienmodelle dafür, dass die Erfahrung unterschiedlicher Beziehungen, wie auch von Peer Kulturen, schon in der frühen Kindheit ‚wichtig‘ seien (bspw. vor der Annahme der ‚Entdecker_innen-Kindheit‘ im Kontext der new childhood studies). Hier zeigen sich gegensätzliche Vorstellungen von Kindheit, die sich auf je eigene Werte und Normen beziehen und aus denen sich bestimmte Lebensgestaltungsweisen ableiten (bspw. in Bezug darauf, ab welchem Alter Kinder in Kindertageseinrichtungen betreut werden sollten).

Wenn sich also das Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft über unterschiedliche, teilweise miteinander konkurrierende Lebensformen und darin eingelagerter Sinnsysteme (darüber, was „das Beste“ sei, wie man jenes und solches tun müsse) arrangiert, so hat Erziehung etwas damit zu tun, die Neuankömmlinge (Kinder, aber auch ‚Fremde‘) in eben jenes „richtige“ oder „gute“ Leben einzuführen. Und diese Einführung ist nicht neutral, so als sei es eine freie Wahl, dies oder jenes zu tun oder zu lassen, sondern die Erziehung zu Lebensformen ist hochgradig normativ. So führen die Erziehenden Novizen dahingehend ein, die jeweils eigenen Lebensformen anzunehmen, eben, weil damit das implizite oder latente Gefühl verbunden ist, dass dieses Handeln und Leben das „Richtige“ sei.

Erziehung als Herstellung von Lebensformen in und durch pädagogische Praktiken

In dem diesem Beitrag zugrundeliegendem Qualifikationsprojekt wird Erziehung in unterschiedlichen institutionellen Kontexten beobachtet, konkret in Schulen und Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit. Das ethnografische Material wurde mit Blick auf die in den Situationen eingelagerten pädagogischen Praktiken untersucht, die darauf hinwirken sollen, dass die Kinder und Jugendlichen an bestimmten Lebensformen partizipieren können. Die Daten wurden mithilfe der Grounded Theorie in der frühen Konzeption von Glaser und Strauss (1998), also qualitativ-rekonstruktiv, ausgewertet.

Der Klassenrat in der 1a – Rekonstruktion

Der folgende Auszug stammt aus teilnehmenden Beobachtungen an der Privatschule Tulpe und dazu angefertigten Protokollen. Die Privatschule Tulpe ist eine Ganztagsschule, welche Kinder und Jugendliche von der Vorschulklasse über die Grundschule und eine gymnasiale Sekundarschule bis zum Abitur und zum International Baccalaureate führen kann.

Die ausgewählte Passage findet im Deutschunterricht der Klasse 1a bei der Klassenlehrerin Frau Kermali statt. Die Lehrerin kündigt zu Beginn der Unterrichtseinheit an, dass die Klasse jetzt den Klassenrat abhalten werde. Unter ihrer Anleitung bilden die Schüler_innen einen Stuhlkreis, Frau Kermali benennt die Rollen („Klassenratschef“ und „Klassenratspolizei“) und wählt selbst verschiedene Kinder für die Rollen aus. Danach verkündet die Klassenlehrerin, dass sie heute nicht beim Rat mitmachen werde.

„Dann sagt Frau Kermali, dass Benjamin jetzt dran sei und er die Kinder drannehmen könne. Er schaut fragend Frau Kermali an, er scheint unsicher, was er nun tun soll. Frau Kermali erklärt ihm, dass er nun die Kinder fragen müsse, wer ein Problem habe. Da strecken schon ein paar Kinder ihre Hände in die Höhe. Frau Kermali sagt, dass Benjamin es erst fragen müsse. Aber Benjamin zeigt stattdessen mit dem Finger auf Zoe, welche sich meldet. Frau Kermali erinnert daran, dass Benjamin eigentlich habe fragen müssen, aber dass Zoe nun beginnen könne. Zoe sagt, dass sie öfter schon ein Seil abbekommen habe, wenn die anderen Kinder mit einem Seil spielen und dass ihr das wehtue. Frau Kermali fragt ‚Wem geht das genauso?‘ und es melden sich einige Kinder. Frau Kermali sagt zu Benjamin ‚Du sollst das sagen, du bist der Klassenratschef‘. Benjamin guckt und zeigt auf ein Kind, welches etwas dazu erzählen soll. Während das aufgerufene Kind erzählt, ruft Frau Kermali Nele M. mahnend beim Namen, da diese sich anders herum auf den Stuhl setzen wollte, und sagt drohend dazu, dass sie ihr gleich ein Blütenblatt abziehen werde und sie habe ja gestern bereits eine ganze Blüte verloren. Nele M. setzt sich aufrecht hin und der Klassenrat geht weiter. Zwei, drei weitere Kinder melden sich und erzählen von ihren Erlebnissen, in denen sie mit dem Seil getroffen oder geschlagen wurden. Frau Kermali hört aufmerksam und mitfühlend zu und sagt ‚ja das tut bestimmt weh‘.“ (Tulpe_TB_1, Z. 573–588).

Benjamin, der von Frau Kermali zum Klassenratschef ernannt wurde, zeigt sich zu Beginn des Rats bezüglich seiner Aufgabe unsicher. Frau Kermali gibt Hilfestellung, indem sie die Frage, die er als Chef zu stellen habe, nennt – woraufhin sich die ersten Kinder melden. Anstatt die Frage selbst auszusprechen, erfüllt er die Erwartung zur Moderation des Gesprächs nonverbal über Fingerzeigen. Benjamin scheint somit nicht nur in Bezug auf die Rollenerwartung, sondern auch angesichts der mit dem Status des „Chefs“ verbundenen Exponiertheit überfordert. Im Verlauf der Situation gibt Frau Kermali konkrete Hilfestellung für Benjamin zur Ausgestaltungsweise dieser Position. Sie wirkt somit darauf hin, dass Benjamin befähigt wird, „seine“ Rolle selbsttätig auszufüllen, und begleitet somit seinen Bildungsprozess.

Im Verlauf der Passage wechselt die Lehrkraft zwischen der auf Befähigung abzielenden Hilfestellung hin zur vollständigen Erfüllung der Position der „Klassenratschefin“. Dies tut sie insbesondere, als es um die Betroffenheitserzählungen seitens der Schüler_innen geht, denen sie „aufmerksam und mitfühlend“ (Z. 587) zuhört. Frau Kermali wechselt also von einer (anleitenden) Position im „Off“ zu einer die Gefühle der Kinder aktiv validierenden und affektiv-responsiv moderierenden Position.

Weiterhin wechselt sie in eine dritte Position, nämlich zur hierarchisch über allen Schüler_innen stehenden Wächterin und Richterin der sozialen Ordnung. In dieser Position reguliert sie die Schülerin Nele in Bezug auf deren Praktik, sich „anders herum auf den Stuhl zu setzen“. Frau Kermali legt somit erstens fest, was in diesem Kontext anerkennungsfähige und was unakzeptable Praktiken sind. Zweitens zeigt Frau Kermali damit, dass sie sich für die Herstellung einer zentrierten, konzentrierten und disziplinierten Ordnung der Klasse zuständig sieht – obwohl sie zuvor mehrere Kinder für die Rolle der „Klassenratspolizei“ bestimmt hatte. Gerade der Verweis, dass Nele „ja gestern bereits eine ganze Blüte verloren [habe]“, zeigt, dass das Regulieren respektive Bestrafen eine alltägliche Praktik der Lehrerin ist, die sie so stark habituell verankert hat, dass sie sie unverändert auch im Klassenrat vollzieht. Dies bricht sich insofern mit dem Anliegen eines demokratischen Rats, da sie damit die gewählten/bestimmten Rolle der „Klassenratspolizei“ übergeht und statt einer demokratisch-partizipativen eine disziplinierte, restriktive Ordnung herstellt.

So zeigt sich in dem kurzen Ausschnitt, dass während des Klassenrats zwei verschiedene implizite ‚Agendas‘ gleichzeitig gültig sind, nämlich einerseits das Erlernen und Leben von Demokratie in der Form, dass der Klassenrat den sicheren und geschützten Gesprächsrahmen (sog. ‚safe space‘) hervorbringen soll, in welchem Konflikte und Vulnerabilitäten thematisiert werden können. Andererseits stellt Frau Kermali eine restriktive soziale Ordnung in der Klasse her, die darauf abzielt, dass die Schüler_innen über ihre ruhigen, disziplinierten Körper darstellen, dass ihre Aufmerksamkeit und Konzentration alleinig auf den gemeinsamen Gesprächsinhalt liegen. Der Klassenrat wird somit von der Klassenlehrerin analog zum Unterricht mit den für diesen geltenden Regeln und Ordnungen orchestriert.

Mit ihrer dreifachen Positionierung (1) im „Off“ als Anleiterin, (2) im Zentrum als affektiv-responsive Gesprächspartnerin und (3) als Ordnungswächterin und Autorität produziert die Lehrkraft geradezu einen Zerfall des Klassenrats und zwar in ein Haupt- und ein Nebengeschehen mit gegenläufigen Handlungserwartungen, Werten und Normen. Nun zeigt sich, dass über den Rekurs auf Lebensformen verständlicher wird, dass innerhalb dieser Situation gegensätzliche pädagogische Praktiken nebeneinander bestehen können.

Gelebte Lebensformen im Klassenrat der 1a

In der Situation des Klassenrats spielen zeitgleich zwei verschiedene Lebensformen eine Rolle: einerseits die Erziehung zu einem kommunikationsfähigen, achtsamen Subjekt innerhalb einer Demokratie und andererseits hin zu einem disziplinierten Subjekt in einer Leistungsgesellschaft, wobei eine starke Akzentuierung auf Gehorsam und Disziplin gelegt wird.

Lebensform A: Orientierung an einer Kultur der Achtsamkeit und der Demokratie

Der Klassenrat wird über die Fragenabfolge und die Zentrierung auf die gefühlsbasierte, kommunikative und reflexive Bearbeitung von sozialen Konflikten als ein ‚Safe Space‘ konfiguriert. In diesem geschützten und schützenden Rahmen sollen und können Konflikte im Zusammenleben thematisiert werden, um ein achtsames und wertschätzendes Miteinander und eine Form gelebter Demokratie aktiv hervorzubringen. Die Kinder werden angeregt, Probleme oder Konflikte anzusprechen, ihnen wird empathisch und affektiv mitfühlend zugehört, Gefühle und Betroffenheiten werden als gültige Themen des sozialen Raums akzeptiert. Der bearbeitete Konflikt verweist zudem auf die Dimension der Vulnerabilität als ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Zusammenlebens: Menschen sind sowohl vulnerabel, also verletzlich, als auch vulnerant, also verletzend. Über diese Strukturierung des Klassenrats wird ein deutlicher Bezug auf Lebensformen ersichtlich, die auf Kulturen der Achtsamkeit und Demokratie rekurrieren, diese sind durchaus „spezifische Variationen und Modulationen der modernen Kultur und der spätmodernen Gesellschaft“ (Schmidt 2020, S. 20).

Lebensform B: Orientierung an einer Kultur des Gehorsams innerhalb der Leistungsgesellschaft

Zugleich findet der Klassenrat unter strikter Aufsicht der Lehrkraft statt, welche Aufmerksamkeit einfordert und (vermeintliche) Praktiken der Unaufmerksamkeit reguliert und sanktioniert. Hierbei markiert sie bestimmte Körperhaltungen als anerkennungsfähig – nämlich Ruhe, Disziplin, nach-vorne-Gewandtheit sowie weitere Praktiken, die jeweils individuelle Aufmerksamkeit demonstrieren. Andere Praktiken sind hingegen unterwünscht und führen bei längerem Aufrechterhalten zur Sanktionierung. Hierbei scheint die Art und Weise, wie Frau Kermali mal subtil, mal offensiv und zugleich beständig korrigiert und sanktioniert, auf einem zur Gewohnheit gewordenen Lehrer_innenhabitus zu beruhen. Als zweite Lebensform lässt sich eine Einführung in die Leistungsgesellschaft erkennen, die jedoch – zumindest in dieser Passage – stärker auf sog. preußischen Tugenden, also Gehorsam und Strenge, fokussiert.

Fazit: Erziehung in institutionellen Kontexten

Mit dem Rekurs auf die Sozialtheorie der (Kritik der) Lebensformen (Bourdieu 1979; Jaeggi 2014) zeigt sich somit, dass Erziehung durchaus situativ beobachtbar ist und zugleich Intentionen und Institutionalisierungen in den Blick kommen können. So sind die Lebensformen zugleich in den Situationen zu erkennen, in diesem Beitrag im Beispiel des Klassenrats, in dem die meritokratischen Anforderungen ebenso deutlich werden wie demokratische Ideen. Die Einführung in die Leistungsgesellschaft wie auch in die demokratische Gesellschaft sind damit Zieldimension der unterschiedlichen pädagogischen Praktiken der Lehrkraft.

In der Situation des Klassenrats der 1a bestehen die Imperative „Sei diszipliniert!“ und „Sei gehorsam!“ zeitgleich mit dem Imperativ „Beteilige dich an der gemeinsamen Kultur der Achtsamkeit und Demokratie“. Hierbei lässt sich nur vermuten, ob und inwieweit der Klassenlehrerin selbst subjektiv zugänglich ist, dass sie die Schüler_innen mit unterschiedlichen, teilweise widersetzlichen Erwartungen konfrontiert. Die Anforderungen der Leistungsgesellschaft scheinen auf Seiten der Lehrkraft so tief habitualisiert, dass sie auch als pädagogische Institutionalisierung gelesen werden können. Dass nämlich die Klassenlehrerin wie selbstverständlich auf Disziplin und die Regulation der Schüler_innen hin zu erwünschten Praktiken handlungspraktisch orientiert ist, ist Teil des organisationalen Rahmens von Schule – und zwar in einer langen historischen Tradition, die bislang noch nahezu ungebrochenen fortbesteht.

Insofern verweist jedes situative Erziehungsgeschehen auf gesamtgesellschaftliche Lebensformen, auf deren Genese und Beständigkeit. Erziehung ist somit nicht unbedingt von den Intentionen der Erziehenden abhängig, sondern vielmehr von dem komplexen gesellschaftlichen Ringen um die aktuell zur Verfügung stehenden Lebensformen. Denn: Erziehung ist immer dann besonders komplex, offen und damit zugleich auch widersprüchlich, wenn die Gesellschaft und ihre Mitglieder aushalten können, dass vielfältige Lebensformen nebeneinander existieren (dürfen).