In diesem Beitrag werden vier Zugänge zu Strafen in der Heimerziehung skizzenhaft entfaltet und die mit ihnen verbundenen Probleme und Ambivalenzen diskutiert. Die vorgestellten Zugänge sind exemplarisch zu verstehen, sie ließen sich ergänzen und schließen einander nicht aus. Im Gegenteil, Überschneidungen sind möglich und wahrscheinlich. Da in empirischer Hinsicht letztlich sehr wenig über Zugänge zur Strafe in der Heimerziehung bekannt ist, wird abschließend eine Forschungsperspektive umrissen, die umfassendere Erkenntnisse zum Thema verspricht.

Strafe und Organisation

Mit Klatetzki (2019) können wir festhalten, dass Routinehandeln im Alltag in Organisationen der Heimerziehung einerseits auf Skripts und andererseits auf narrativer Sinnstiftung in Form von Fallgeschichten beruht. Skripts lassen sich als Drehbücher für den Alltag verstehen, sie umfassen Anwendungswissen für typische Herausforderungen. Wenn diese Drehbücher aufgrund von (neuartigen) Problemen nicht mehr greifen, werden Fallgeschichten erzählt und ausgetauscht, eine reflexive und fallbezogene Sinnstiftung erfolgt und es werden ggf. neue Handlungsstrategien entwickelt, die dann u. U. wieder in Skripts eingefügt werden können.

Organisationen der Heimerziehung vermitteln ihrem Personal, vermittelt über Traditionen, Konzepte, pädagogische Grundausrichtungen etc. spezifische Sichtweisen auf die pädagogische Realität in der Einrichtung, mit denen sich die Fachkräfte bis zu einem gewissen Grad identifizieren müssen um als kompetente Akteur_innen in der Organisation gelten zu können. Die je spezifischen Sichtweisen konstituieren Skripts und ermöglichen so eine organisationale Routine und ein organisationales Selbstverständnis, welches aber die Vielfalt und Art der plausibel erzählbaren Fallgeschichten limitiert. „Damit sinken die Chancen, dass mehrdeutige Probleme umfassender, tiefergehend oder auf neuartige Weise verstanden werden können, denn es fehlt der Organisation an der dafür nötigen Vielfalt“ (ebd., S. 63).

Strafen können aufgrund von Traditionen, Konzepten etc. tief im organisationalen Selbstverständnis verankert sein, d. h., das Befolgen von straforientierten Skripts kann in Einrichtungen der Heimerziehung so zum Ausdruck von pädagogischer Professionalität und zu einer kaum noch reflektierten Selbstverständlichkeit werden. Besonders anschaulich lässt sich dies vielleicht an dieser Aussage einer Sozialpädagogin aufzeigen, die in einem Jugendheim arbeitet, in dem straforientierte Skripts eine entscheidende Rolle zu spielen scheinen: „Wenn ich junge Menschen, denen die Eingewöhnung in das Wertesystem unserer Strukturen fehlt, in unsere Gesellschaft einfügen soll, dann läuft nichts ohne ein differenziertes System von angemessenen Strafen“ (Jaecklin 2004, S. 33). Fallgeschichten, die eine alternative, strafskeptische narrative Sinnstiftung hinsichtlich der Förderung von gesellschaftlicher Integration vorschlagen, würden in dieser Einrichtung kaum auf einen fruchtbaren Resonanzboden fallen (vgl. Huber 2022). Im Gegenteil, die Erzähler_innen alternativer Geschichten laufen Gefahr, als inkompetente und wenig vertrauenswürdige Kolleg_innen zu gelten.

Einrichtungen der Heimerziehung, in denen straforientierte Skripts florieren und in denen strafskeptische Fallgeschichten quasi gar nicht erzählt werden können, hat Schallberger (2011) im Rahmen einer empirischen Studie zur Heimerziehung in der Schweiz als Einrichtungen beschrieben, deren organisationales und pädagogisches Selbstverständnis dem einer „Um- und Nacherziehungseinrichtung“ (ebd., S. 260ff.) entspricht. Dies sind Einrichtungen, deren pädagogischer Alltag primär auf Anpassung der Jugendlichen, Regelkonformität, Kontrolle und Sanktionen fokussiert ist und in dem die Jugendlichen v. a. als Objekte einer disziplinierenden Einwirkung vorkommen. Kessl et al. (2018) kommen im Rahmen von Fallstudien zu Gewaltvorfällen in Einrichtungen der Heimerziehung zu ähnlichen Ergebnissen. In den untersuchten Fällen bot ein spezifisches Gruppenkonzept ein Skript an, welches gewalt- und strafförmiges Handeln pädagogisch legitimierte und durch eine vermeintlich therapeutische Ausrichtung sogar noch symbolisch aufwertete. Die Selbstverständlichkeit der Gültigkeit dieser Skripts konnte erst nach langer Zeit in Frage und zur Disposition gestellt werden.

Strafen haben in Einrichtungen der Heimerziehung mithin viel mit dem organisationalen Selbstverständnis und den korrespondierenden Skripts und Legitimationsstrategien zu tun, welche das Erzählen von alternativen Fallgeschichten stark einschränken, ggf. sogar verunmöglichen können. Professionelles pädagogisches Handeln in der Heimerziehung ist aber in besonderem Maße auf eine große Diversität erzählbarer Fallgeschichten angewiesen, nur so kann das Nachdenken über Fälle in Bewegung gehalten werden. In den sog. Um- und Nacherziehungseinrichtungen wird diese Flexibilität der Dogmatik geopfert. Strafe ist hier Ausdruck von fachlich weitgehend unreflektierten und routinisierten disziplinierenden Zugängen zu Kindern und Jugendlichen im Kontext eines organisationalen Selbstverständnisses, welches diese Zugänge fordert bzw. fördert und über Gewohnheiten, Konzepte, Gratifikationen (z. B. Anerkennung), Traditionen etc. legitimiert.

Strafe als aufbauendes Moment

Am Ausgangspunkt der erzieherischen Strafe steht kein „organisationaler Flow“, aus dem heraus dann quasi naturwüchsig, wenig bewusst und reflektiert auch strafende Zugänge resultieren. Vielmehr geht es um die Idee, Strafe dezidiert als ein u. U. legitimes Erziehungsmittel zu betrachten, was eine reflektierte und bewusste Auseinandersetzung mit der pädagogischen Strafe, ihren Ambivalenzen und Paradoxien voraussetzt. Keines der hier folgenden Argumente fordert so etwas wie eine Strafe pur. Anwendungsbereiche, Voraussetzungen, Stellenwert etc. werden jeweils stark eingeschränkt, Strafe wird hier in einem Randbereich von Erziehung verortet. Zudem werden von den meisten Autor_innen Möglichkeiten einer bildenden Strafe an kasuistische Möglichkeitsräume gebunden, um die Frage nach dem Sinn oder Unsinn von pädagogischer Strafe vor dem je spezifischen Hintergrund des Einzelfalls mit seinen Besonderheiten abschätzen zu können. Ohne solche kasuistischen Möglichkeiten und mithin ein fundiertes Fallverstehen kann es keine erzieherische Strafe geben.

Exemplarisch bringt Müller (1998) eine solche Position in die Diskussion ein, er spricht von der Möglichkeit einer „bildenden Strafe“ (ebd., S. 136). Für Müller ist das zentrale Paradox der pädagogischen Strafe, dass Erziehungsbedürftigkeit und damit ein Mangel an Verantwortungsfähigkeit Bestrafbarkeit ausschließt. Es wäre ungerecht, jemanden zu bestrafen, der nicht verantwortlich ist. Dennoch könne es so etwas wie eine bildende Strafe geben. Im Laufe der Entwicklung lernen Kinder vermehrt, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, und desto eher kann man eine verdiente Strafe aussprechen, d. h. man könne auf das (problematische) Verhalten in durchaus kontrafaktischer Manier so reagieren, als wenn der Heranwachsende bereits verantwortlich wäre (ebd., S. 136ff.).

Die Formen der Bearbeitung des genannten Paradoxes und die Begründungen für das, was wir hier exemplarisch bildende Strafe nennen, variieren in den Debatten, entscheidend ist die Betonung eines zumindest potenziell aufbauenden und bildenden Charakters der pädagogischen Strafe. So kann sie für Müller einen Beitrag zu dem leisten, was Erziehung überhaupt anstrebe, z. B. die Förderung der Entwicklung der Verantwortungsfähigkeit, der Rationalität und der Verfassung des Heranwachsenden im Hinblick auf ein autonomes Leben (ebd., S. 137). Durchaus anschlussfähig an diese Idee einer bildenden Strafe geben Prange & Strobel-Eisele (2016) zu bedenken, dass pädagogische Strafen etwas mit der Anerkennung der Heranwachsenden als Personen zu tun haben. Wenn man durch pädagogische Strafen Nachteile zufügt, zeige man damit dem Heranwachsenden, „(…) so paradox das klingen mag, dass wir ihn als Person anerkennen, der wir zutrauen, dass sie Regeln, die allerdings auch ausgesprochen und verstanden sein müssen, befolgen, Aufgaben wahrnehmen und Pflichten auch tatsächlich ausüben kann“ (ebd., S. 146). Für Böhnisch (2017) müssen solche Strafen dann auch als personale Herausforderung und nicht als Zurückweisung des Selbst der Heranwachsenden konzipiert werden, dann kann die hier als bildend beschriebene Strafe als „interaktiver und wegweisender Vorgang begriffen werden“ (ebd., S. 231). Ganz im Sinne der bildenden Strafe plädieren auch de Valk et al. (2015) für ein „altruistic punishment“ (ebd., S. 7 f.) im Rahmen der Heimerziehung, eine aufbauende Strafe also, die in Vertrauensbeziehungen, einer positiven Gruppenatmosphäre und grundsätzlichen Anstrengungen zur Vermeidung von Bestrafung etc. gründet. Solche Strafen könnten dann u. a. einen stabilisierenden Effekt auf die Gruppe haben und würden von den Heranwachsenden auch gut akzeptiert (ebd., S. 7).

Mögliche Folgen des Ausbleibens einer bildenden Strafe werden u. a. von Autor_innen beschrieben, die der psychoanalytischen Pädagogik nahestehen. Würde Erziehung nur einen „regressiven Schonraum“ (Crain 2011, S. 298) anbieten oder nur verzeihen, würden die Heranwachsenden gegen sich selbst streng und quälerisch; sie würden die Erwachsenen nicht mehr als konfliktbereite Gegenüber wahrnehmen, was sie in ihren Größenphantasien bestärken und Schuldgefühle kaum begrenzbar halten würde und damit der Überwindung von Spaltungsprozessen, der Entwicklung reifer Über-Ich-Strukturen und dem Abbau von Größenphantasien im Wege stehen würde (vgl. ebd.; vgl. Böhnisch 2015; vgl. Ahrbeck 1997).

Mit der Debatte über die bildende Strafe können Strafpraxen in den Blick geraten, sie bewusst gemacht und die Diskussion über sie ggf. versachlicht werden, natürlich aber verbinden sich mit dem Zugang auch eine Reihe von Problemen, von denen hier nur eines benannt werden soll. Kasuistische Räume und ein fundiertes Fallverstehen werden als wesentliche Voraussetzung für das benannt, was wir hier bildende Strafe genannt haben. Für die Heimerziehung fehlt es nicht an Konzepten und Instrumenten für ein fundiertes sozialpädagogisches Fallverstehen, in der beruflichen Praxis kommt diesem allerdings häufig nur eine prekäre Bedeutung zu (vgl. Schallberger 2011; Schwabe und Thimm 2018). Damit stehen die propagierten Möglichkeiten einer bildenden Strafe im Kontext der Heimerziehung auf wackligen Füßen.

Strafe und Sprachspiele

Strafende Handlungen gehören in der Heimerziehung zum Alltagsgeschäft, man nennt sie nur nicht zwingend so. Viele ziehen es vor, von (logischen) Konsequenzen, Reaktionen auf unerwünschte Verhaltensweisen etc. zu sprechen. Diese Tendenz findet sich auch in der Fachdebatte. So möchte z. B. Thiersch (2006) nicht mehr von Strafen, sondern von Konflikten und Konfliktmanagement sprechen, dieses sei weniger asymmetrisch strukturiert als die Strafe. Komme es dann zu Normverletzungen, soll es eine „Markierung“ (ebd., S. 128) und keine Strafe geben, wobei er unter dem Begriff der Markierung dann das beschreibt, was Strafe inhaltlich ausmacht.

In der Tendenz werden also Begriffe, die einen stärker asymmetrischen Charakter haben, ersetzt durch Begriffe, die stärker Symmetrie und das Arbeiten auf Augenhöhe betonen. Was und ob sich dann durch die Variierung des pädagogischen Sprachspiels in der konkreten Praxis etwas ändert, bleibt offen, darf aber wohl bezweifelt werden. Habiger und Findenig (2020) zeigen in ihrer Studie auf, dass dieselben Strafen verhängt werden, jetzt allerdings unter dem Begriff der Konsequenzen. Auch in der Studie von Burschel et al. (2022) finden sich Hinweise darauf, dass Fachkräfte der Heimerziehung ein klassisches Strafhandeln (z. B. Wegnahme eines Handys) nun als Konsequenz bezeichnen und mit voller Überzeugung als Alternative zur Strafe vertreten. Sprachspiele bzw. Begriffswechsel können offenbar den mit dem verpönten Begriff der Strafe verbundenen Ballast entsorgen helfen, ohne dass es dabei zu irgendeiner Veränderung der pädagogischen Praxis kommen müsste.

Das ist einigermaßen gefährlich, da die begriffliche Verschleierung von Strafpraxen auch die Macht- und Herrschaftsverhältnisse verhüllt, denen sich diese Praxis verdankt). So hat die Aussage „Wir strafen hier gar nicht!“ ggf. wenig mit einem realen Verzicht auf Strafpraktiken zu tun. Vielmehr ist jeweils genau zu prüfen, inwieweit sich dahinter Verschleierungstendenzen verbergen, ein Etikettenschwindel also, der eine reflexive Problematisierung der entsprechenden Praxen massiv behindern kann.

Strafe als Ultima Ratio

Hinter der Strafe als Ultima Ratio steht die Idee, dass Strafen pädagogisch im besten Fall entschuldigt aber nicht legitimiert werden können. Schrapper (2014) bringt dies auf den Punkt, wenn er sagt: „Strafe als Erziehungsmittel kann so auch als ratloser, verzweifelter oder ohnmächtiger Versuch begriffen werden, jenseits von Einsicht und Vernunft doch noch prägende Verhaltenssteuerung durchzusetzen (…)“ (ebd., S. 286). Eine andere, aber nicht weniger prägnante Variante, um die Ultima-Ratio-Logik zum Ausdruck zu bringen, stammt aus einer Befragung von Heimleiter_innen: „Strafen nützt nichts, muss aber sein“ (Binggeli 2014, S. 7). Strafe wird hier also als letzter Ausweg in Ausnahmesituationen beschrieben.

Mit der Ultima-Ratio-Begründungslogik von Strafe verbinden sich wieder eine Reihe von Schwierigkeiten. Wenn Strafe als Antwort auf die eigene Hilflosigkeit, Ohnmacht, Resignation etc. entschuldigt wird, mündet dies häufig in einen „coercive cycle of negative interactions“ (de Valk et al. 2015, S. 9), also in repressive und überzogene Reaktionen der Fachkräfte als Resultat der eigenen Ohnmacht. Zudem impliziert das Ultima-Ratio-Argument, dass vorab alle Möglichkeiten und Ressourcen ausgeschöpft worden sind, um die Strafe zu verhindern. Was das nun allerdings konkret bedeutet bleibt offen, unklar und einigermaßen beliebig, weil unterschiedliche Einrichtungen die Fragen, wann „Alles“ getan worden ist, was dieses „Alles“ umfasst und wann die Ausnahmesituation konkret vorliegt, sehr unterschiedlich beantworten werden. Das Argument erscheint mithin wenig präzise und geeignet.

Eine Forschungsperspektive

Die vorgestellten Zugänge können dabei helfen, das pädagogische Problem der Strafe in der Heimerziehung besser und aus verschiedenen Perspektiven in den Blick zu bekommen. Die geschilderten Probleme und Ambivalenzen der exemplarischen Zugänge verweisen dabei zumindest potenziell auf die Gefahren von organisationalen (Straf‑)Routinen, Strafe jenseits vom Fallverstehen, sprachlicher Verschleierung des Strafhandelns, Strafe als einem Ausdruck eigener Hilflosigkeit und mithin unreflektierten und willkürlichen Strafpraxen. Es sind auch diese Gefahren für ein professionelles sozialpädagogisches Handeln, die es notwendig machen, sich im Rahmen von Forschungsprojekten systematischer mit der Strafe im Kontext der Heimerziehung zu beschäftigen.

Im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten ForschungsprojektsFootnote 1 werden wir das Thema Strafe in der stationären Kinder‑, Jugend- und Behindertenhilfe in den Mittelpunkt stellen und u. a. eine Vollerhebung mit Fallstudien verbinden, um Sanktionsregime zu identifizieren. Darunter wollen wir vorläufig ein fallübergreifend typisches Zusammenwirken von organisational-administrativen und pädagogischen Grundorientierungen, professionellen und pädagogischen Selbstverständnissen auf der Ebene von Wohngruppenteams sowie der Ausgestaltung, dem Erleben und der Bewältigung von Strafen durch die Fachkräfte und die Kinder und Jugendlichen verstehen. Die Rekonstruktion und Analyse unterschiedlicher Formen des Zusammenwirkens dieser Elemente soll Aufschluss darüber geben, wie sich Sanktionsregime als grundsätzlich dynamische, aber dennoch hinreichend stabile Konstellationen entwickeln, die sich durch je spezifische Verhältnisbestimmungen und Spannungsverhältnisse zwischen den verschiedenen Elementen auszeichnen. Es gilt so herauszufinden, in welchen (inter‑)personalen, situationalen und institutionellen Zusammenhängen und vor dem Hintergrund welcher (fachlicher) Überlegungen und Problemstellungen sich Fragen nach Strafe heute stellen und wie sie vor Ort zwischen den unterschiedlichen Akteursgruppen verhandelt und schließlich in Praxis übersetzt werden. Vor diesem Hintergrund wird dann die Aufgabe sein, systematisch die Chancen und Risiken der verschiedenen Sanktionsregime herauszuarbeiten.