Nationale und internationale Untersuchungen zu Bildung und Heimerziehung (HE) verweisen auf eine erhebliche Bildungsbenachteiligung von jungen Menschen, insbesondere in der stationären Jugendhilfe. Die Studien verweisen darauf, dass die Adressat_innen selten höhere formale Bildungsabschlüsse erzielten (Köngeter et al. 2016). Jugendliche in der HE, die ein Abitur anstreben und absolvieren, stellen somit, statistisch gesehen, unwahrscheinliche Fälle von erfolgreichen Bildungskarrieren dar. Welche Bedingungen bildungshemmend wirken und welche trotz ungünstiger sozialer Voraussetzungen zu Bildungserfolgen führen, soll in diesem Beitrag mit Hilfe der qualitativen Netzwerkforschung analysiert werden.

Während mehrere Studien auf die Bedeutung von Sozialkapital und sozialer Unterstützung im Bildungsverlauf verweisen (z. B. bei Hoenig 2017), finden relationale und auf Netzwerkforschungen basierende Analysen kaum Anwendung (Ausnahme z. B. Legewie 2021). In dem Untersuchungsfeld der stationären Jugendhilfe lassen sich bislang keine Studien über die Rolle von sozialen Netzwerken für Bildungsprozesse finden, auch wenn vereinzelte Forschungsarbeiten in dem Schnittfeld von HE und sozialer Netzwerkforschung vorzufinden sind (z. B. Günther et al. 2011). Diese Forschungslücke möchten wir schließen.

Die bildungswissenschaftliche Netzwerkforschung bietet theoretische sowie methodische Ansätze zur Untersuchung von Akteuren, Relationen und Strukturen. Akteure sind keinesfalls isoliert, sondern im Kontext ihrer sozialen und strukturellen Eingebundenheit zu betrachten (Gamper 2020). Laut Nan Lin (2001) wird innerhalb individueller sozialer Netzwerke Sozialkapital durch interaktive Prozesse generiert. Die Generierung hängt hierbei von der Art der Beziehung (z. B. Granovetter 1973), den Ressourcen der jeweiligen Personen im Netzwerk (Bourdieu und Passeron 1971) und auch von der strukturellen Einbettung (Burt 1992) ab. Im Rahmen unserer empirischen Studie untersuchen wir die Rolle von sozialen Netzwerken im Bildungsverlauf von Jugendhilfeadressat_innen. Als Adressat_innen der HE sind die Biographien der befragten Jugendlichen von multiplen Problemlagen geprägt. Problematische familiäre Verhältnisse, schulische Exklusionserfahrungen sowie die institutionellen Strukturlogiken der stationären Jugendeinrichtungen bilden zentrale Elemente in der subjektiven Rekonstruktion ihrer Bildungsverläufe.

Forschungsfrage und Methodik

Vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Forschung wird nach der Rolle von sozialen Netzwerken im Bildungsverlauf von Jugendhilfeadressat_innen gefragt. Es werden die Faktoren herausgearbeitet, die trotz ungünstiger sozialer Voraussetzungen als fördernd sowie als bildungshemmend erlebt werden. Die Fallauswahl der Studie erfolgte gezielt (Etikan et al. 2016). Wir befragten zehn Jugendliche (acht weiblich* und zwei männlich*), die in stationären Jugendwohngruppen leben und derzeit die allgemeine Hochschulreife anstreben, d. h. statistisch unwahrscheinliche Fälle. Die Studienteilnehmenden, deren durchschnittliches Alter 17 Jahre beträgt, sind unter den Bedingungen problematischer familiärer Verhältnisse aufgewachsen und waren während ihrer Schulbiographie von sozialstrukturellen sowie von sozialräumlichen Benachteiligungen betroffen. Der Zugang zum Forschungsfeld erfolgte anhand des Schneeballprinzips (Noy 2008) über Einrichtungen der stationären Jugendhilfen in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die Interviews basierten auf der Kombination von teilnarrativen (Schütze 1983) sowie problemzentrierten (Witzel 1985) Interviews und wurden durch die Visualisierung von egozentrierten Netzwerkkarten (Gamper und Schönhuth 2020) ergänzt. Egozentrierte Netzwerke rekonstruieren soziale Beziehungsverbindungen von Individuen aus einer subjektiven Perspektive und verdeutlichen die Einbettung des Egos in sein soziales Umfeld. Sie bestehen aus Personen (sog. Knoten) und deren Beziehungen zueinander (sog. Kanten) (Gamper 2020). Mit Hilfe des Interviewgespräches und des Visualisierungstools VennMaker erstellten die Jugendlichen NetzwerkkartenFootnote 1 (Gamper et al. 2012). Die Interviewten wurden hier nach ihren bildungsrelevanten Beziehungen (z. B. Personen, Organisationen) befragt. Mittels der Qualitativen Strukturanalyse (QSA) (Herz et al. 2015) wurden die sozialen Netzwerke der Jugendlichen entlang ihres schulbiographischen Verlaufs analysiert und im Hinblick auf das subjektive Erleben von Unterstützung und Barrieren, sozialer Einbettung und bildungsbezogenem Handeln untersucht. Als Adressat_innen der Jugendhilfe eröffnet die Perspektive der Studienteilnehmenden einen vertiefenden Blick auf die Rolle von Akteur_innen der HE.Footnote 2

Hemmende Beziehungsaspekte im Bildungsverlauf

Die Studienteilnehmenden berichten von hemmenden bzw. blockierenden Beziehungen im Bildungsverlauf. Bereits in der Zeit der Grundschule sind die Befragten in Beziehungsgeflechte eingebunden, welche sie als konflikthaft und belastend empfinden, was sich vor allem in Erzählungen über Eltern-Kind-Beziehungen, Beziehungen zu Mitschüler_innen und Beziehungen zu Lehrkräften zeigt.

Übermäßiger Leistungsdruck als gewaltvolle Beziehungserfahrung

Die problematischen Familienverhältnisse, in denen die Befragten aufwachsen, spiegeln sich in der Negativkonstruktion der familiären Akteure wider. Die jungen Erwachsenen berichten von Streitigkeiten, fehlender Zuwendung und Entmutigung sowie von physischer Gewalt in der Eltern-Kind-Beziehung. Ein Beispiel, welches sich übergreifend in den Erzählungen wiederfindet, ist der übermäßige Leistungsdruck durch Eltern. Eine Fünfzehnjährige berichtet von regelmäßigen Gewalterfahrungen, z. B. bei schlechten Schulnoten. Die Jugendliche litt unter der Sorge, körperlicher Gewalt ausgesetzt zu sein, wenn ihre Eltern mit ihren Schulleistungen nicht zufrieden sind: „Wenn ich keine guten Noten hab, dann muss ich zu Hause Angst haben“ (Interviewperson 3, 15 J.). Eine weitere Befragte äußert, dass in Folge der hohen Leistungserwartungen und konflikthaften Beziehung zu ihren Eltern „lernen immer so mit Angst und Druck verbunden [war]“ (Interviewperson 6, 20 J.). Neben der Androhung von (körperlichen) Sanktionen bei (vermeintlich) schlechten Schulnoten zeige sich der Druck z. B. auch anhand wiederholter Leistungsvergleiche mit anderen Schüler_innen. Aus den Interviews lässt sich ableiten, dass der Leistungsdruck von den Befragten als eine wichtige Ursache gesehen wird, mehr für die Schule gelernt und auch meistens gute bis sehr gute Schulleistungen erzielt zu haben. Gleichzeitig wirken die beschriebenen konflikthaften Interaktionen sowohl kurz- als auch langfristig psychisch und emotional belastend und sie verursachen hohen Stress. Deshalb stellt dieser Beziehungsaspekt für die Jugendlichen eine erhebliche Barriere im Bildungsverlauf dar.

Negative Rollenvorbilder

Wenn man an Rollenvorbilder denkt, geht man i. d. R. von Personen aus, die einem das Bild eines erstrebenswerten Lebensentwurfs vermitteln, d. h. von positiv assoziierten Vorbildern. Die empirischen Daten verdeutlichen, dass auch negative Rollenvorbilder einen Einfluss auf Zukunftsperspektiven und Bildungsprozesse nehmen. Zwei Befragte erzählen von ihren suchterkrankten Vätern, die weder berufliche Perspektiven entwickelten noch Zuwendung und Interesse für ihre Kinder aufbrachten: „Ich habe meinen Vater gesehen, wie der abgestürzt ist durch Drogen und Alkohol […] Der war auch schon wichtig, um zu sehen, wie ich nicht sein möchte“ (Interviewperson 3, 15 J.). Die Beziehung zum Vater nimmt die Interviewte als stark belastend wahr, da dieser sich nicht um sie kümmert, sondern, wie sie im Interview weiter ausführt, im Gegenteil zu destruktivem Verhalten wie Zigaretten rauchen und Alkoholkonsum animierte. Weiter konstituiert sich die Funktion des negativen Rollenvorbildes anhand der Abgrenzung zum Vater, denn dieser steht für einen ‚negativen‘, nicht erstrebenswerten Lebensentwurf. Diese Distinktion stellt die Jugendliche als bedeutsam für ihr bildungsbezogenes Handeln dar. Es motiviere sie, einen anderen Lebensweg als ihre Väter zu gehen, der ihrer Meinung nach im Leben nichts erreicht habe. Die befragte Jugendliche hingegen habe beschlossen, das Abitur zu absolvieren und Medizin zu studieren. Eine ebenso distinktive Generierung des Bildungsmotivs findet sich bei einer weiteren Befragten mit einer ähnlichen Eltern-Kind-Beziehung. Sie betont im Interviewgespräch mehrmals, wie wichtig es für sie sei „nicht zu werden wie [ihre] Eltern, das [habe sie] (…) in der Schule am meisten motiviert“ (Interviewperson 10, 14 J.). Die negativen familiären Rollenvorbilder gehen im Kontext unserer Studie mit dem Fehlen von emotionaler Unterstützung, bzw. fehlender elterlicher Fürsorge einher. Die infolgedessen verursachten seelischen und psychischen Belastungen wirken unmittelbar hemmend auf die schulische Teilhabe, z. B. durch Konzentrationsschwierigkeiten, weshalb die beschriebenen Beziehungen auch als hemmende Faktoren im Bildungsverlauf wirken. Insofern stellt sich die Bewertung von negativen Rollenvorbildern als ambivalent heraus, weil einerseits die destruktiven Verhaltensweisen der elterlichen Akteure belastend wirken und andererseits es die Jugendlichen dennoch schaffen, etwas Konstruktives für sich und ihren Bildungsweg daraus zu ziehen.

Mobbing, Diskriminierung und unterlassene Hilfe

Hemmende Beziehungsaspekte außerhalb des familiären Umfeldes werden von den Befragten vorwiegend im schulischen Bereich gesehen. Anhand der Interviews wird deutlich, dass soziale Exklusionsprozesse, d. h. Mobbing und rassistische (institutionelle) Diskriminierung, hierbei eine zentrale Rolle spielen. Es wird sowohl von Exklusionserfahrungen in den Beziehungen zu Mitschüler_innen als auch in der Beziehung zu Lehrkräften berichtet. Das Beispiel einer befragten Jugendlichen erzählt von wiederholten rassistischen Diskriminierungen durch Mitschüler_innen. Obwohl sich die Befragte diesbezüglich an eine Lehrkraft wendet, erhält sie keine Unterstützung. Im Gegenteil seien die Diskriminierungserfahrungen bagatellisiert und abgesprochen wurden. Da auch ihre Eltern keine Vertrauenspersonen für sie darstellten, habe die Jugendliche zu dem Zeitpunkt niemanden, an den sie sich wenden konnte, was das Gefühl von sozialer Isolation auslöste. Die Interviewte hebt das erhöhte Belastungsempfinden hervor, welches für sie aus der Gleichzeitigkeit von hemmenden Faktoren im familiären und im schulischen Kontext resultierte:

„Das war halt ein richtig krasser Punkt für mich gewesen, weil – also es hat sich halt dieses Mobbing und dieses Unverständnis, mit dem ich konfrontiert wurde, plus die Situation zuhause mit dem ständigen Leistungsdruck und ich muss die Beste sein (…) das war glaube ich so der Startpunkt für meine Depression. Ich bin dann halt einfach immer mehr in so ein tiefes Loch gerutscht“ (Interviewperson 7, 18 J.).

Weiter erklärt die Jugendliche im Interviewgespräch, dass eben diese Mehrfachbelastung zu selbstverletzendem und suizidalem Verhalten führte. Den Wirkungszusammenhang markiert sie als prägend. Die erheblichen psychischen und emotionalen Belastungen bewirkten zudem eine Einschränkung der schulischen Teilhabe aufgrund von mangelnder Konzentrationsfähigkeit, sinkender Motivation und phasenweiser Schulabwesenheit. Ferner betont die Befragte, dass diese Erfahrungen maßgeblich ihr späteres gesellschaftspolitisches Engagement and aktivistisches Handeln geprägt hätten.

Helfende Beziehungsaspekte im Bildungsverlauf

Zuspruch und Ermutigung

Die konflikthaften Beziehungen zu den Eltern waren für die Befragten prägend, besonders in der Zeit der Grundschule. Dennoch gab es Bezugspersonen, zu denen sie eine positive emotionale Beziehung aufbauen konnten, d. h. die ihnen das Gefühl von Halt und Sicherheit gaben, sowie Zuspruch vermittelten. Neben dem Aspekt der sozialen Integration durch positive Beziehungen zu Mitschüler_innen und Freund_innen, z. B. im schulischen Kontext, zeigt das Beispiel einer befragten Jugendlichen, inwiefern Sozialarbeitende der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) zur Kompensation fehlender emotionaler Unterstützung beitragen können. Eine Befragte besuchte das Jugendhaus in ihrer Nachbarschaft so oft wie möglich, weil:

„es erstens so eine Art Familie wurde, aber zweitens auch so, also auch in der Bildung mir sehr geholfen hat und mich da auch unterstützt hat. (…) wenn ich dann mal eine drei hatte, waren meinen Eltern total enttäuscht oder bei einer zwei auch schon enttäuscht und die waren so ‚eine eins ist besser‘. Und die [Sozialarbeitenden] haben mir dann Mut zugesprochen und gesagt ‚Hey, eine zwei ist super und das ist gut. Man muss nicht immer die Beste sein‘. Und das hat mir dann so Zuspruch gegeben, den ich auch gebraucht hatte“ (Interviewperson 3, 15 J.).

Ein weiteres Beispiel verdeutlicht, dass auch vertrauensbasierte Beziehungen zu Lehrkräften eine stützende emotionale Funktion erfüllen. Eine Befragte berichtet über ihre Lehrerin:

„Es gab Stress zuhause. Meine Mama war nicht da (…), mein Vater hat Drogen genommen. Und es ist halt Vieles passiert und da hat [die Lehrerin] mich so eines Tages mal gefragt, wie es mir so geht und dann habe ich ihr alles erzählt. Und dann hat sie mir ihre Nummer gegeben. Die meinte, egal was ist, ich soll anrufen. Also die hat mir auch richtig geholfen. Ich habe sogar immer noch Kontakt mit ihr (…) Sie war die einzige Person, mit der ich geredet habe. Und das war halt schön so jemanden zu haben, mit dem man reden kann“ (Interviewperson 10, 14 J.).

Die Lehrerin stellt für die Jugendliche eine Person dar, der sie sich anvertrauen kann und ihr das Gefühl vermittelt, ansprechbar zu sein, wenn sie Hilfe benötigt. Dieses implizite Hilfsangebot nimmt die Jugendliche wahr, als sie in einer Notsituation Kontakt zu der Lehrerin aufnimmt, welche zum Schutz und Wohl der Befragten das Jugendamt informiert. Somit zeigt sich hierin auch eine Form der Konfliktlösung anhand der Vermittlung zu professionellen Hilfemaßnahmen (hierzu s. Mediation bei Konfliktlösungen).

Mediation bei Konfliktlösungen

Mediation bei Konfliktlösungen kann sowohl Formen der emotionalen als auch der informativ-beratenden Unterstützung umfassen. Die psychologisch-therapeutische Unterstützung wird von den Jugendlichen als zentral betrachtet, weil sie darüber die konflikthaften und belastenden Verhältnisse im familiären und schulischen Kontext reflektieren, klären und Umgangs- bzw. Lösungsstrategien entwickeln können. Für die Bildungsteilhabe sei dies von großer Bedeutung. Eine Jugendliche ist sich sicher, „ohne die Therapie wäre ich nicht auf das Gymnasium gegangen“ (Interviewperson 3, 15 J.). Die psychologische Begleitung und Behandlung erfolgt über ambulante Therapien oder Klinikaufenthalte. Mediation bei Konfliktlösungen sind überdies im unmittelbaren schulischen Kontext relevant, z. B. bei akuten Fällen von Mobbing durch Mitschüler_innen. Hier sind es meist Lehrpersonen oder Schulsozialarbeitende, die als Mediator_innen fungieren. Zudem sind es oftmals eben diese Akteure, die die Jugendlichen an andere Hilfesysteme bzw. Alteri verweisen. Als Broker-Position verbinden sie sog. strukturelle Löcher (Burt 1992), also zwei unverbundene Netzwerkbereiche. Das Beispiel einer Jugendlichen veranschaulicht, wie die OKJA über beratend-informative Unterstützung als Broker für die Anbindung an das Jugendhilfesystem fungieren kann: Die Interviewte hatte der Pädagogin des Jugendzentrums, welches sie nur selten besuchte, von den schwierigen Verhältnissen zu Hause berichtet. Die Pädagogin nahm dies zum Anlass, die junge Erwachsene zu beraten und sie über mögliche Lösungswege zu informieren:

„Vorher habe ich von der Jugendhilfe nie etwas gehört und die Leiterin im Jugendzentrum hat dann halt gesagt so ‚Hey, wenn du es zuhause nicht aushältst, kannst du ja mal bei der Jugendhilfe nachfragen, wie das so ist‘ (…) Irgendwann habe ich mich mit meinen Eltern so hart gestritten, dass ich gesagt habe, ‚Jetzt reicht es‘. Ja, dann bin ich halt in diese stationäre Nothilfe gekommen“ (Interviewperson 7, 18 J.).

Jugendliche in der HE zwischen sozialer Stabilisierung und starren Strukturen

Im vorangegangenen Abschnitt wurden die zentralen Barrieren und Unterstützungsleitungen der sozialen Beziehungen der Befragten beschrieben. In diesem wird nun die Rolle der HE vertiefend in den Blick genommen. Die befragten Jugendlichen sind zwischen dem 12. und dem 16. Lebensjahr in stationäre Jugendwohngruppen eingezogen. Als familienunterstützende Maßnahme verfolgt HE nicht das Ziel, die formale Bildung ihrer Adressat_innen zu priorisieren (Clark et al. 2023). Dennoch nennen die Interviewten die stationäre Jugendhilfe als relevante Relation im Bildungsverlauf.

Fehlende schulische Unterstützung

Die Befragten unserer Studie thematisieren die spezifische Zielgruppenorientierung der HE. Dass, wie oben beschrieben, kaum junge Menschen mit einer höheren Bildungsaffinität in den stationären Einrichtungen leben, spiegelt sich auch in den Erfahrungen der Befragten wider, die sich hier als Abiturient_innen eher als Ausnahme und Außenseiter_innen fühlen. In den Interviewgesprächen wird angemerkt, dass die Mitbewohner_innen und die Pädagog_innen wenig Verständnis für die vergleichsweise hohe Lernmotivation und -verpflichtung aufbrächten, die sie als (angehende) Abiturient_innen hätten. Die Einrichtungen adressierten mit ihren Angeboten vielmehr junge Menschen, die tendenziell schulmüde seien und keine höhere Schulbildung anstrebten. Diese Problematik zeige sich z. B. anhand der fehlenden schulischen Unterstützung. Die Pädagog_innen seien z. T. selbst mit dem Abiturstoff überfordert und hätten zudem kaum Zeit für die individuelle Lernunterstützung. Überdies erleben die Befragten Beratungen bei Bildungsentscheidungen, der beruflichen Orientierung und dem Übergang von der Schule zum Studium oder zur Ausbildung als unzureichend. Diesem Umstand könne entgegengewirkt werden, wenn Pädagog_innen zu externen Unterstützungsangeboten vermitteln, bei z. B. Lernhilfen zu professioneller Nachhilfe. Hierbei stellten sich jedoch häufig Fragen der Finanzierungsmöglichkeit. Die jüngeren interviewten Jugendlichen (14 und 15 Jahre) beurteilen die schulische Unterstützung durch die Pädagog_innen als ausreichend, betonen aber gleichzeitig, dass sie deren Hilfe selten benötigten oder einfordern würden. Die Jugendlichen entwickeln ihre persönlichen Lernnetzwerke somit vielmehr außerhalb der stationären Einrichtungen.

„Unsere Struktur können wir nicht verändern“ – Überlastung durch institutionelle Routinen

Die institutionellen Routinen wie einrichtungsspezifische Tages- und Wochenpläne in den Wohngruppen werden von einem Großteil der Befragten als starr und einschränkend erlebt. Die etablierten Abläufe würden kaum individuelle Handlungsspielräume lassen. Aufgaben wie Wäsche waschen, kochen sowie feste Abendbrotzeiten, Gruppenabende und Hilfeplangespräche gelten für alle Bewohner_innen gleichermaßen und würden zusätzlich zu den schulischen Anforderungen in der gymnasialen Oberstufe überlasten. Dies wird von den Jugendlichen als problematisch im Hinblick auf ihre Schulbildung aufgefasst, weil dadurch wenig Zeit für die Schule und das Lernen bleibt. Dieser Umstand wird als bildungsbenachteiligend empfunden: „Dadurch hatte ich viel mehr Rahmenbedingungen, die ich erfüllen musste, (…) die andere Schüler halt eben nicht erfüllen mussten. Und das ist halt super unfair und deswegen super schwierig“ (Interviewperson 6, 20 J.). Neben der schulischen Benachteiligung aufgrund von Lernrückständen betonen die Jugendlichen das erhöhte Stresserleben, welches mit der Doppelbelastung von Schul- und Einrichtungsaufgaben einhergehe. Eine Interviewperson erzählt: „Ich kam dann halt nicht zur Ruhe (…) also diese anfänglichen klaren Strukturen, die mir geholfen haben, wurden am Ende für mich zum totalen Horror“ (Interviewperson 2, 17 J.). Es zeigt sich hierin eine Ambivalenz der Bewertung der HE, denn das Bewertungsverhältnis von ‚Stabilität und Sicherheit‘ versus ‚Flexibilität und Selbstbestimmung‘ verändert sich im zeitlichen Verlauf. Gerade mit dem Eintritt in die gymnasiale Oberstufe, der mit mehr Lernaufwand verbunden ist, seien flexiblere Handlungsspielräume wichtig. Der Wechsel in das angegliederte Verselbstständigungswohnen wird in dieser Hinsicht als wichtiger Schritt für die schulische Karriere gesehen, weil die Jugendlichen ihren Tag selbstbestimmter strukturieren können, sie sich nicht durch andere Mitbewohner_innen abgelenkt fühlten und damit besser auf die Schule fokussieren könnten.

„Großer Cut zwischen damals und jetzt“

HE wird von allen Befragten als wichtig für die eigene gesundheitliche und persönliche Entwicklung und für die Klärung und Verbesserung familiärer Verhältnisse betrachtet. Auf die Frage hin, welchen Einfluss die HE in Bezug auf ihren Bildungsweg hatte, antwortet eine Jugendliche:

„Ich glaube halt kurzfristig hemmend, langfristig supportive (…) ist halt ein totaler Szenenwechsel so. Du wirst halt aus deinem Elternhaus rausgerissen, auch wenn ich es freiwillig gemacht habe (…) diese Orientierungslosigkeit, die halt daraus resultiert – es hat sich auf jeden Fall ganz klar auf meine schulischen Noten ausgewirkt. Langfristig gesehen hatte ich allerdings die Möglichkeit bekommen, meine Erfahrungen zu verarbeiten“ (Interviewperson 7, 18 J.).

Die Eingliederung in das Jugendhilfesystem stellt eine räumliche, soziale, aber auch persönliche Umstellung dar, die, auch aufgrund der Diskontinuität der Schullaufbahnen, selten ohne Auswirkungen auf die schulischen Leistungen vonstatten geht. Die qualitativen Daten belegen, dass im Zuge der prozesshaften Eingliederung in das Jugendhilfesystem, das subjektive Erleben von Unterstützung sowie von Handlungsfähigkeit steigt, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Jugendlichen aus Netzwerken herausgenommen werden, die kaum Unterstützung zur Verfügung stellen und zudem von hemmenden Faktoren geprägt sind. Eine befragte Person reflektiert, welche Bedeutung dem Wechsel in die Einrichtung für sie als handelndes Subjekt einnimmt:

„Ich würde persönlich einfach mal sagen, dass ich einfach einen ganz großen Cut gemacht habe zwischen damals und jetzt (…) Mir ging es ja nicht gut (…) So wie ich mich jetzt fühle und handle und lebe und alles, bin ich damit völlig zufrieden. Und habe auch das Gefühl, ich habe die Kontrolle und es sind meine Entscheidungen und ich fühle mich gut damit (…) Aber was halt so früher passiert ist, so bis ich 16 war würde ich sogar sagen, ist für mich (…) wie hinter so einer Milchglasscheibe (…) Und das finde ich auch gut so. Da ist irgendwie auch eine ganz klare Grenze für mich gesetzt“ (Interviewperson 2, 17 J.).

Die räumliche wie auch emotionale „Grenze“ zwischen damals und jetzt stellt für die Jugendliche eine bedeutungsvolle Veränderung dar. Im Vergleich zu früher empfindet sie sich heute als handlungsfähig und selbstbestimmt. Auch habe sich durch den Abstand zur Familie ihre Beziehung zur Mutter wieder verbessert. Eine weitere Befragte betont in dieser Hinsicht, dass ihre Mutter mittlerweile eine unterstützende Rolle in Bezug auf Bildung einnehme und konstituiert sie als Teil ihres bildungsbezogenen Unterstützungsnetzwerkes, in welchem sich zudem eine funktionale Spezifität (Hollstein 2001) zeigt: „Meine Mutter ist eher so für die Motivation da […] Die spornt mich an. Und meine Klasse ist einfach super für mich da und hilft mir die ganze Zeit bei Aufgaben, wenn ich Hilfe brauche“ (Interviewperson 3, 15 J.). Folglich zeigt sich, dass die Ermöglichungsbedingungen der HE für gelingende Bildung dennoch und gerade in der Stabilisierung des sozialen Umfeldes liegen.

Fazit

Jugendliche Adressat_innen der HE sind verstärkt von Bildungsbenachteiligung betroffen (Köngeter et al. 2016). In unserer Studie konnten wir mit Hilfe der qualitativen Netzwerkforschung zentrale förderliche wie auch hemmende Faktoren für den Bildungserfolg nachzeichnen. Bezüglich der hemmenden Beziehungsaspekte finden sich v. a. konflikthafte, teils gewaltvolle Interaktionen mit den Eltern sowie im schulischen Kontext. Die konflikthaften Eltern-Kind-Beziehungen gehen gleichzeitig mit fehlender emotionaler Zuwendung und Unterstützung einher. Daraus resultierende psychische und seelische Belastungen, erhöhtes Stressempfinden, mangelndes Selbstvertrauen und Konzentrationsschwierigkeiten erschweren die schulische Teilhabe bzw. führen zu diskontinuierlichen Schullaufbahnen. Förderliche Beziehungsaspekte hingegen umfassen emotionale Komponenten wie Zuspruch und Ermutigung, aber auch Mediation bei Konfliktlösungen sowie Beziehungen, die beratend-informative Unterstützung leisten oder als Broker fungieren und den Zugang zu anderen Hilfesystemen (z. B. Jugendamt) herstellen. Hier ist die Rolle der OKJA hervorzuheben, die zudem dezidiert bildungsbezogene Unterstützung wie Hausaufgabenhilfe leistet, was durch die HE nicht gegeben ist. In den sozialen Netzwerken der Befragten sind vor allem emotionale sowie beratend-informative Unterstützungsformen relevant, d. h. solche, die ihnen dabei helfen, mit den schwierigen Lebenssituationen und -bedingungen umzugehen und auf die Stabilisierung des sozialen Umfeldes und der emotionalen und psychischen Gesundheit abzielen. Diese werden v. a. über sog. arm-length ties (Uzzi 1997) transferiert, d. h. Beziehungen, die primär auf der Basis eines sachlich-distanzierten Verhältnisses beruhen. Es existieren auch Beziehungen, die sich mit der Zeit verändern und dadurch eine andere Bedeutung im schulbiographischen Verlauf erhalten. Das Beispiel des negativen Rollenvorbildes verdeutlicht die Ambivalenz der Beziehungen und stellt die simplifizierende Einteilung in helfende und hemmende Beziehungen, bzw. positive und negative ties nochmals in Frage. Eine Beziehung ist somit nicht als eine eindimensionale und statische Verbindung zu verstehen, sondern als ein dynamisches Verhältnis zwischen Akteuren, welche im biographischen Verlauf dem Wandel unterliegt und innerhalb dessen verschiedene und teils sich wiedersprechende Beziehungsaspekte förderlicher und hemmender Art transferiert werden können. Am Ende haben wir die Beziehung der Jugendlichen zur HE in den Fokus gestellt. Während die Befragten in der Zeit der Grundschule weniger Unterstützung erleben und hemmende Beziehungen als zentrales Momentum konstituieren, steigt im Zuge der Eingliederung in die HE die subjektiv wahrgenommene Verfügbarkeit von Unterstützung. Dies liegt zum einen an dem Austritt aus dem destruktiven familiären Umfeld und zum anderen lassen sich die Effekte hemmender Faktoren durch die spezifischen Unterstützungsressourcen kontrollieren, bzw. kompensieren (s. Abb. 1). Infolgedessen lässt sich sagen, dass die sozialen Netzwerke der Jugendlichen zum Zeitpunkt der Erhebung kohäsive Netzwerke (Hollstein 2001) darstellen. Der Umzug in die stationäre Jugendwohngruppe erweist sich als entscheidender Schritt zur Stabilisierung des sozialen Umfeldes, womit sie einen wichtigen Faktor im Bildungsverlauf darstellt. Allerdings geht die Rolle der HE nicht darüber hinaus. Nach unseren Daten fördert die HE die Jugendlichen hinsichtlich ihrer Bildungskarrieren nicht explizit und es fehlt an schulischer Unterstützung. Durch ihre fehlende Verpflichtung, auch aus rechtlicher Perspektive, wird Bildungsungleichheit vielmehr reproduziert. Die Befragten bringen bereits vor dem Eintritt in die HE eine hohe Bildungsaffinität mit und schaffen es trotz der institutionellen Restriktionen, ihre Bildungsziele zu verfolgen. Die fehlende Priorisierung formaler Bildung kann auch in Anlehnung an Clark et al. (2023) in Frage gestellt werden. Ein weiterer Teil unser Forschungsdaten aus dem Projekt „gelB“ kontrastiert, dass HE verstärkt als unterstützend im Bildungsverlauf wahrgenommen wird, wenn mit dem Ziel der schulischen Bildungsförderung Kooperationen mit externen Trägerschaften erfolgen, d. h. wenn die stationäre Jugendhilfe in sog. Bildungsnetzwerke integriert ist. Hier wäre es interessant, diese Perspektiven in zukünftigen Untersuchungen verstärkt in den Blick zu nehmen.

Abb. 1
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Beispiel eines bildungsbezogenen Beziehungsnetzwerkes. Quelle: Eigene Darstellung. Beschreibung: Das Beispiel des bildungsbezogenen Beziehungsnetzwerkes einer befragten Jugendlichen (Interviewperson 3, 15 J.) veranschaulicht, dass die bildungshemmenden Faktoren durch die Herausnahme der Jugendlichen aus dem destruktiven familiären Umfeld verringert werden. Die bildungsförderlichen Faktoren rücken näher an Ego heran. Für die Jugendliche hat dies einen förderlichen Effekt auf ihren Bildungsweg, da sie ihr bildungsbezogenes Unterstützungsnetzwerk elaborieren und ihr Bildungsziel verfolgen kann