Trägt die Kinder- und Jugendhilfe zur Verbesserung der schulischen Bildungschancen ihrer Adressat_innen bei? Umfasst der Bildungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe auch ein Mandat zur Förderung schulischer Bildungserfolge benachteiligter Kinder- und Jugendlicher? Wie beschreiben Nutzer_innen der Kinder- und Jugendhilfe den Einfluss der Heimerziehung, ambulanter Hilfen zur Erziehung und offener Jugendarbeit auf ihre schulischen Bildungswege? Diese Fragen sind bislang nur unzureichend diskutiert und erforscht.

Befunde der empirischen Bildungsforschung weisen darauf hin, dass der Erfolg oder Misserfolg schulischer Bildungskarrieren von sogenannten primären und sekundären Herkunftseffekten abhängen. D. h.: Erstens von familialen Ressourcen sowie den Fähigkeiten und Kenntnissen, die vor und außerhalb der Schule erworben werden; zweitens von den Vorstellungen, die Kinder und Jugendliche durch Sozialisation und Erziehung dazu vermittelt werden, was sie schulisch erreichen sollen, wollen und realistischerweise auch können (vgl. Maaz et al. 2014). Dabei werden in der Bildungsforschung vor allem die Auswirkungen der familialen Herkunft – der Position von Familien im Gefüge der sozial ungleichen Klassen, Schichten und Milieus – auf Bildungschancen in den Blick genommen. Ungleiche Bildungschancen sind demnach zentral eine Folge davon, wie Kinder und Jugendliche in ihren Herkunftsfamilien zur Bewältigung schulischer Anforderung befähigt und motiviert werden.

Für einen relevanten Teil aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind aber auch die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe bedeutsame Kontexte ihres Aufwachsens, die familienergänzend und ggf. auch familienersetzend auf die Adressat_innen einwirken. Insofern ist es plausibel anzunehmen, dass für schulische Bildungs(miss)erfolge und Bildungslaufbahnen relevante Fähigkeiten, Erwartungen und Zielsetzungen auch durch Anregungen, Erfahrungen und Lernprozesse in den unterschiedlichen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe beeinflusst werden. Dies gilt, wenn Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ein bedeutsamer Bestandteil der Lebenswelt und Lebenswirklichkeit ihrer Nutzer_innen sind, unabhängig davon, ob und inwiefern die Kinder- und Jugendhilfe einen solchen Einfluss auf schulische Bildungsverläufe selbst beabsichtigt oder nicht. Dies ist schon deshalb der Fall, weil nicht nur absichtsvolle Bemühungen der Unterstützung und Beeinflussung Auswirkungen auf die schulischen Laufbahnen von Kindern und Jugendlichen haben, sondern ggf. auch Gleichgültigkeit und Desinteresse an dem, was in der Schule geschieht. Pointiert formuliert: Auch wenn Sozialarbeitende ihren Adressat_innen explizit oder durch Nicht-Kommunikation mitteilen, dass sie sich nicht dafür interessieren, welche Schulform diese besuchen und wie erfolgreich sie dabei sind, ist dies für jeweilige Kinder und Jugendliche eine potenziell bedeutsame Aussage dazu, welcher Stellenwert schulischen Leistungen aus Sicht ihrer sozialarbeiterischen Bezugspersonen zukommt.

Dass Kinder- und Jugendhilfe – direkt oder indirekt, gezielt oder ohne dies zu beabsichtigen – auf schulisch bedeutsame Fähigkeiten und Zielsetzungen ihrer Adressat_innen einwirkt, ist insofern offenkundig. Die Frage, wie dies geschieht sowie ob Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe einen erfolgreichen schulischen Bildungsprozess erleichtern oder aber erschweren, ist aber bislang nur unzureichend erforscht und deshalb die zentrale Frage, mit der sich der vom BMBF geförderte Forschungsverbund „Unwahrscheinliche Bildungskarrieren – der Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe zu gelingender Bildung unter Bedingung von besonderer Benachteiligung (gelB)“ befasst. Im Fokus stehen dabei Bildungsverläufe, bei denen es unter ungünstigen sozialen Voraussetzungen gelingt, einen höheren formalen Bildungsabschluss zu erreichen. Wir fragen, pointiert formuliert, danach, ob dies bei schulisch erfolgreichen Adressat_innen der Heimerziehung, der ambulanten Hilfen zur Erziehung und der offenen Jugendarbeit wegen, trotz oder ganz unabhängig von der Kinder- und Jugendhilfe möglich ist.Footnote 1

Um welche Bildung geht es in der Kinder- und Jugendhilfe?

Es ist bemerkenswert, dass sich bislang nur wenig Forschung findet, die sich systematisch mit der Frage beschäftigt, welche Rolle die Kinder- und Jugendhilfe für die Bildungskarrieren ihrer Adressat_innen spielt. Zwar ist es in der Fachdiskussion weitgehend unstrittig, dass die Kinder- und Jugendhilfe einen Beitrag zur Bildung Heranwachsender leisten kann und soll.Footnote 2 Entsprechend thematisieren zahlreiche einschlägige Veröffentlichungen den Bildungsauftrag und das Bildungsverständnis der Kinder- und Jugendhilfe (s. als wichtigen Ausgangspunkt Münchmeier et al. 2002). Dabei geht es jedoch gewöhnlich keineswegs um die Frage, welche schulischen, beruflichen oder hochschulischen Bildungsabschlüsse die Adressat_innen erreichen sollen. Vielmehr wird der eigene Bildungsauftrag in Abgrenzung zur Schule und vielfach auch in Verbindung mit Kritik an der hierarchischen Struktur des schulischen Bildungssystems dargelegt. Als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal wird beansprucht, dass die außerschulische Bildung – im Unterschied zur auf Teilnahmepflicht und vorgegebenen Curricula basierenden schulischen Bildung – gemäß dem gesetzlichen Auftrag des SGB VIII an die Bedürfnisse und Interesse ihrer Adressat_innen anknüpft. Akzentuiert wird die Bedeutung außerschulischer Bildung zudem in Abgrenzung gegen ein auf die Erzeugung funktional erforderlicher Qualifikationen verkürztes Bildungsverständnis, das als Kern schulischer Bildung betrachtet wird. Außerschulische Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe wird entsprechend als „die andere Seite der Bildung“ (Otto und Rauschenbach 2008) charakterisiert und dabei der eigenständige, von schulischer Bildung vermeintlich klar unterscheidbare Bildungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe hervorgehoben.

Bedeutsam dafür ist der Rückgriff auf die älteren klassischen Bildungsdiskurse, die in der Philosophie der Aufklärung und im Neuhumanismus entwickelt worden sind. Menschen werden dort als bildsame und bildungsbedürftige Subjekte verstanden, die sich durch Bildung zu vernünftiger Selbstbestimmung befähigen werden. Bildung wird als freie, allseitige und umfassende Entfaltung humaner Fähigkeiten charakterisiert, also gerade nicht als Zurichtung von Menschen für gesellschaftliche Zwecke und Erzeugung nutzbarer Qualifikationen, sondern als Ermöglichung von individueller Autonomie und Selbstverwirklichung. Dem entsprechend charakterisiert Liessmann (2006, S. 50) das, was im bildungspolitischen Diskurs vielfach unter Bildung verstanden wird, als das Gegenteil von Bildung, als „Unbildung“ und formuliert: „Gebildete nämlich wären etwas anderes als jene reibungslos funktionierenden teamfähigen Klons, die manche gerne als das Resultat von Bildung sähen.“

Dass Soziale Arbeit und Sozialpädagogik zu Beginn der 2000er Jahre recht problemlos an solche bildungstheoretischen Traditionen anknüpfen konnten, ist darin begründet, dass der Bildungsbegriff in unterschiedlichen Varianten kritisch-emanzipatorischer (Sozial‑)Pädagogik bereits vor der damals neu einsetzenden Bildungsdiskussion als Leitbegriff beansprucht wurde, so etwa in den Arbeiten von Michael Winkler, Heinz Sünker, Franz Hamburger, Erhard Meueler und Albert Scherr.Footnote 3 Entscheidender dafür, dass ein Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe als Bildungsangebot in der Fachdiskussion und im politischen Diskurs einflussreich wurde, waren allerdings politische Gründe: Zentrale Themen der politischen Diskussion waren Anfang der 2000er Jahre einerseits die Finanzkrise des Sozialstaats, andererseits die Frage nach den Erfordernissen der Bewältigung der Transformation der Industriegesellschaft in eine sog. Wissens- und Informationsgesellschaft. Die (akademische) Soziale Arbeit sah sich aus strategischen Gründen aufgefordert, sich zu diesen politischen Debatten zu positionieren. Denn sowohl im Kontext der Programmatik des Umbaus vom traditionellen sozialstaatlichen Arrangement hin zu einem aktivierenden Staat, als auch im Kontext der Diskussion um die Erfordernisse der Wissens- und Informationsgesellschaft und der PISA-Debatte, wurde die Notwendigkeit von mehr und besserer Bildung als zentrale gesellschaftliche Herausforderung betont. Und dies mit dem Fokus auf Investitionen in eine solche Bildung, die zur Qualifikation von Arbeitskräften beiträgt und deshalb ökonomisch als Steigerung des Humankapitals relevant und nutzbar ist. Für die Soziale Arbeit bedeutete dies: Sie stand unter den Bedingungen wachsender Sozialstaatsskepsis einerseits und der zunehmenden Betonung der gesellschaftlichen, insbesondere ökonomischen Bedeutung von Investitionen in das Humankapital anderseits vor der Herausforderung, ihre gesellschaftliche Nützlichkeit nachzuweisen, indem ihr eigenständiger Beitrag zur Bildung betont wurde – also nicht mehr ‚nur‘ ihre Bedeutung als sozialstaatliche Hilfe für sozial Benachteiligte.

Anerkennung der Bedeutung Sozialer Arbeit für Bildung

Rückblickend ist diesbezüglich festzustellen: Im Kampf um politische Anerkennung als unverzichtbarer Beitrag zum gesellschaftlichen Bildungsangebot war die Soziale Arbeit durchaus erfolgreich. So konnte bereits im 12. Kinder- und Jugendbericht reklamiert werden, dass „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule“ (BMFSFJ 2005, S. 44) Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe seien, ohne dass diese Inanspruchnahme eines Bildungsauftrags Widerspruch auslöste. Vielmehr ist in der Stellungnahme der Bundesregierung zu lesen: „Die Bundesregierung stimmt ausdrücklich dem von der Kommission eingeführten erweiterten Bildungsverständnis unter Einbeziehung vieler Bildungsorte und Lernwelten zu.“ (BMFSFJ 2005, S. 12).

Insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe hat von dieser Entwicklung profitiert. Denn der Verschiebung zu einem stärker edukativen und investiven statt transferorientierten und statussichernden Wohlfahrtsarrangement (vgl. Lange et al. 2022) mündete in einem politisch gewollten Bedeutungsgewinn personenbezogener sozialer Dienste – und in eine erhebliche Expansion der Beschäftigungszahlen in der und Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe. Mit der Inanspruchnahme eines erweiterten Bildungsbegriffs, aus dem auch die Idee einer unverzichtbaren Verschränkung von „Bildung und Lebenskompetenz“ (Münchmeier et al. 2002, S. 1) bzw. ein Verständnis von „Bildung als Ressource der Lebensbewältigung“ (Krappmann 2002, S. 33) oder von „Bildungsprozesse(n) als Bewältigungsprozesse(n)“ (Böhnisch 2002, S. 126) abgeleitet wurde – konnte Bildung in sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Perspektive beansprucht werden. Denn Bildung ist so betrachtet nicht zweckfreie Selbstbildung im Sinne der neuhumanistischen Tradition oder Förderung von Autonomie im Sinne kritischer Bildungstheorien, sondern wird als unverzichtbares Element der erfolgreichen Bewältigung der Auswirkungen gesellschaftlicher Anforderungen an die individuelle Lebensführung postuliert.

Eine Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Bemühungen um eine bildungstheoretische Fundierung bzw. eine bildungsbezogene Profilierung der Sozialer Arbeit besteht darin, dass eine deutliche Abgrenzung zu schulischer Bildung vorgenommen wurde, indem das eigene Bildungsverständnis als ein Gegenpol zu einer ökonomisch verkürzten Humankapitalperspektive konturiert wurde. Bildung, so ein zentrales Argument, sei notwendig mehr und anderes als Schule. Zugleich wurde auch die Chance gesehen, Schule könne erweitert, geöffnet und in einen Ort der Ganztagsbildung überführt werden, an dem sich Schul- und Sozialpädagogik ‚auf Augenhöhe‘ begegnen (dazu: Bollweg et al. 2020).

Problematik der Abgrenzung zu schulischer Bildung

Ob die Bemühungen zur theoretischen Konturierung und institutionellen Implementierung eines eigenständigen Bildungsverständnisses erfolgreich waren und sind, ist anhaltend strittig. Darauf ist hier nicht näher einzugehen. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass ein in Ergänzung zu schulischer Qualifizierung gefasster erweiterter Bildungsbegriff aus zumindest zwei Gründen durchaus auch problematisch ist: Erstens tendiert die Ausweitung dazu, dass Bildung zu einem Containerbegriff wird, der die Aneignung hochkulturellen Wissens ebenso umfasst wie den Erwerb lebenspraktisch relevanter Kompetenzen, was dazu führt, dass nahezu alles irgendwie als ein Aspekt von Bildung beschrieben und zu legitimiert werden kann. Unterschiede zwischen berufsbezogener Qualifizierung, selbstbestimmter Persönlichkeitsentfaltung und Befähigung zu alltäglicher Lebensbewältig werden dann unklar. Entscheidender aber ist zweitens, dass ein in dezidierter Abgrenzung zu schulischer und beruflicher Qualifizierung gefasstes Bildungsverständnis eine bemerkenswerte Blindstelle in Bezug auf Fragen der ökonomischen Existenzsicherung und in Zusammenhang damit für Armut und Ungleichheit hat.Footnote 4 Denn dieses vernachlässigt einerseits, dass auch Wissens- und Kompetenzerwerb für die Arbeit und durch die Arbeit – in modernen Gesellschaften: überwiegend Lohnarbeit – eine zentrale Dimension der Persönlichkeitsbildung ist. Andererseits wird in einem allzu idealistisch gefassten Verständnis von Bildung ausgeblendet, dass Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten einen substantiellen Einfluss darauf haben, welche Möglichkeiten der freien und selbstbestimmten Selbstbildung tatsächlich erreichbar sind, sowie, dass Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand in modernen Gesellschaften für den größten Teil der Bevölkerung im Wesentlichen über (Lohn‑)Arbeit vermittelt ist. D. h.: Funktionale Qualifizierung und selbstbestimmte Bildung sind keine voneinander unabhängigen Sphären, sondern in der Lebensführung von Individuen eng aufeinander bezogen und ineinander verschränkt; die sozial ungleichen Chancen zu einer selbstbestimmten Lebensführung sind ebenso von Positionen auf dem Arbeitsmarkt abhängig, wie ein gutes Leben für erwerbstätige Erwachsene ohne eine anständige Arbeit nur begrenzt möglich ist. Darauf werden wir im Folgenden noch etwas näher eingehen. Zuvor ist aber auf eine wichtige Implikation der bisherigen Überlegungen hinzuweisen: Die Unterscheidung eines sozialarbeiterischen bzw. sozialpädagogischen Bildungsauftrags vom schulischem Bildungsmandat ist zwar nicht verzichtbar, gleichwohl aber prekär und nicht konsequent durchzuhalten. Denn eine Soziale Arbeit, die eine umfassende Zuständigkeit für eine gelingende (oder etwas gelingendere) Lebensführung ihrer Adressat_innen beansprucht, kann die Frage nicht sinnvoll ausblenden, was sie zur beruflichen Qualifizierung und Positionierung beiträgt. Lebenskompetenz ist von beruflichen Kompetenzen und von der Fähigkeit zur Bewältigung beruflicher Anforderungen nicht einfach abspaltbar. Auch arbeitsmarktbezogene Qualifizierung ist so betrachtet allzu wichtig, um sie allein der Schule zu überlassen. Insofern ist die Profilierung eines eigenständigen Bildungsverständnisses der Sozialen Arbeit, wenn dieses nicht in Ergänzung, sondern in dezidierter Abgrenzung zu schulischer Qualifizierung erfolgt, durchaus problematisch.

Bildung für und durch berufliche Arbeit?

Das bedeutet nun weder, dass man Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe allein an Erfordernissen des Arbeitsmarkts ausrichten soll, noch dass sich der gesellschaftliche hergestellte Zusammenhang von Lohnarbeit und Berufstätigkeiten einerseits und Lebenschancen andererseits nicht kritisieren lässt (siehe dazu etwa Negt 2001, S. 454ff.). Hingewiesen ist damit aber darauf, dass nicht sinnvoll davon abzusehen ist, dass berufliche Positionen Lebens- und Soziallagen maßgeblich beeinflussen. Umgekehrt stellen Arbeitslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung nach wie vor das mit Abstand größte Armutsrisiko dar (vgl. Bundesregierung 2021). Die Armuts- und Ungleichheitsforscher_innen Gerhard Bäcker und Jennifer Neubauer (2012, S. 624) bestehen in diesem Zusammenhang darauf, dass es „für die Vermeidung und Bekämpfung von Armut“ entscheidend sei, „in welchem Umfang und wie schnell eine (dauerhafte) Arbeitsmarktintegration der Betroffenen gelingt“.

Der Zugang zu einer Beschäftigung, die zwar keine Garantie, aber die Bedingung der Möglichkeit für die Teilhabe an Wohlstand und die ökonomische Absicherung der eigenen Lebensführung ist, wird in einem hohen Maße über Formalqualifikationen, d. h. schulische, berufliche und hochschulische Abschlüsse vermittelt. Selbstverständlich lässt sich die Frage stellen, ob und inwiefern diese Abschlüsse Kompetenzen abbilden und ob und in welchem Umfang solche Kompetenzen auch in non- oder informellen Settings erworben werden können. Allerdings verpasst diese Frage ggf. eine entscheidende Pointe, nämlich, dass das formale und testierte Bildungsniveau ein zentrales Zuordnungskriterium für die Zuteilung beruflicher Chancen ist.Footnote 5

Dieser Befund ist nicht nur für das erwartbare Einkommen, sondern auch deshalb relevant, weil arbeitssoziologische Studien eine enorme Varianz von Arbeitsbedingungen und -qualitäten als ein zentrales Merkmal gegenwärtiger Erwerbsarbeit ausmachen. Anspruchsvolle, kooperative Tätigkeiten mit einem vergleichsweise hohen Maß an Autonomie und eigener Kontrolle über den Arbeitsprozess stehen solchen gegenüber, die einfache, weisungsgebundene Tätigkeiten unter restriktiven Bedingungen darstellen. Trotz der langfristigen Tendenz zu einer Erhöhung der Qualifikationsanforderungen, zur technischen Komplexitätssteigerungen der Produktion sowie erhöhter Anforderungen an die Arbeitskräfte – etwa mit Blick auf deren Anpassungsfähigkeit an kontingente Arbeitssituationen und nicht-kodifizierbare Aufgaben (vgl. Atzmüller 2022) – machen solche einfache Tätigkeiten auch im ersten Fünftel des 21. Jahrhunderts noch einen erheblichen (und tendenziell eher steigenden als sinkenden) Anteil der Beschäftigungsverhältnisse aus.

Nicht nur ungleiche Lebensbedingungen und Lebenschancen mit Arbeitstätigkeiten und beruflichen Positionen verknüpft, sondern auch viel von dem, was Bildung ermöglichen soll, realisiert sich im Kontext von Arbeit. Obwohl Arbeit ‚stumpfe‘, einer Fremdkontrolle unterworfene, anstrengende, langweilige, monotone sowie ‚unsichtbare‘ ‚Maloche‘ sein kann, kann sie auch der Ort solcher Tätigkeiten sein, bei denen sich Potenziale und Könnerschaft entwickeln und entfalten, subjektiv sinnvolle, gesellschaftlich wertvolle und wertgeschätzte Beiträge geleistet sowie kooperative Gemeinschaft und Formen von Anerkennung erfahren werden, die eine Quelle von Selbstachtung darstellen (vgl. Gheaus und Herzog 2017). Deshalb ist die folgende Formulierung treffend: „Vielfältige Formen der Selbstachtung und der sozialen Anerkennung sind nach wie vor in zentraler Weise mit dem Wesensgehalt einer Arbeit verknüpft, die ihres Lohnes würdig ist.“ Negt 2001, S. 11).

Zwar gibt es die privilegierte Position, nicht in einer lohnabhängigen Weise arbeiten zu müssen, sondern von ererbtem oder erworbenem Vermögen leben zu können, aber die erwartbaren Adressat_innen der Kinder- und Jugendhilfe sind gewöhnlich nicht in dieser Lage. In der Regel sind die Adressat_innen der Kinder- und Jugendhilfe in ihrem Lebensverlauf mit dem Umstand konfrontiert, dass nicht nur die Zugänge zu auskömmlichen Löhnen und einem respektablen sozial-ökonomischem Status, sondern auch die zu Tätigkeiten, die autonome Gestaltungsmöglichkeiten, Anerkennung sowie die Erprobung und Entfaltung der eigenen Potenziale und Interessen erlauben, in einem erheblichen Maße ungleich verteilt sind. Vor diesem Hintergrund kann gerade auch eine Kinder- und Jugendhilfe, die ihren Bildungsanspruch ernst nimmt, nicht folgenlos ignorieren, ob und ggf. wie sie den Erwerb schulischer und beruflicher Qualifikationen und Zertifikate beeinflusst.

Perspektive des Forschungsverbundes

In Forschungsverbund „Unwahrscheinliche Bildungskarrieren – Der Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe zu gelingender Bildung unter Bedingung von besonderer Benachteiligung (gelB)“, steht darauf bezogen die Frage im Zentrum, was die Kinder- und Jugendhilfe zur Ermöglichung schulischer Bildungserfolge von Kinder- und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien beiträgt. Die ersten Befunde weisen eindrücklich darauf hin, dass die Kinder- und Jugendhilfe – durchaus anders als die Schule – eine breite Reihe von Lebensführungsproblematiken bearbeitet, die sich in unterschiedlichen Formen von Überforderungen, Care‑, Erziehungs- wie Beziehungsproblemen, psychischen, emotionalen und materiellen Belastungen usw. manifestieren. Die Aussagen der in unserer Forschung befragten jungen Menschen verdeutlichen, wie sich diese Bedingungen und Hausforderungen auf ihre Versuche einer erfolgreichen Bewältigung schulischer Anforderungen sowie ihre Aussichten auf den Erwerb von Bildungszertifikaten niederschlagen. Die institutionellen Strukturen und Praktiken in den unterschiedlichen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe werden jedoch – auch das verdeutlichen bereits die ersten Befunde von gelB – diesbezüglich aber keinesfalls immer als hilfreich erfahren, sie können auch zu Beeinträchtigungen führen.

Die Befunde unserer Forschung zeigen auf, dass Kinder- und Jugendhilfe eine vergleichsweise unspezifische Hilfe darstellt (vgl. Bommes und Scherr 2000, S. 67ff.), für die sehr unterschiedliche Dimensionen der Biografie und der aktuellen Lebenspraxis relevant sein können. Auch wenn schulische Erfolgskriterien nicht identisch mit dem sind, was einen gelingenden Hilfeprozess auszeichnet, ist es gleichwohl bemerkenswert, dass es in der Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe von der Alltagsunterstützung und der Bearbeitung von Care- Erziehungs- und Beziehungsproblematiken, über die Anerkennungsverhältnisse mit Peers sowie die Belastungen, die andere Institutionen für ihre Adressat_innen induzieren, kaum etwas zu geben scheint, das im Hilfeprozess nicht thematisch und relevant werden kann. Auch die Auseinandersetzung mit Schule und schulischen Akteur_innen spielt – wenngleich in den unterschiedlichen Felder in einem unterschiedlichen Ausmaß – eine erkennbare Rolle. Erfahrungen mit Praktiken, in denen ein Anspruch sichtbar wird, nicht nur den Schulbesuch zu gewährleisten, sondern schulische Bildungserfolge und Bildungsaufstiege zu ermöglichen, werden demgegenüber kaum berichtet.

Die folgenden Beiträge erörtern mit Blick auf die Felder offene Kinder- und Jugendarbeit, Heimerziehung und ambulante Hilfen zur Erziehung sowie aus einer feldübergreifenden Netzwerkperspektive die Erfahrungen junger Menschen mit der Kinder- und Jugendhilfe mit Blick auf ihre schulische Bildungskarriere.