Was haben Soziale Arbeit und Nachhaltigkeit miteinander zu tun? In einem Beitrag von 1991 führt Silvia Staub-Bernasconi aus, dass „ökologische Krise und soziale Entwicklungskrise eng zusammenhängen“ (Staub-Bernasconi 1991, S. 34). Nicht nur „Überentwicklung und Konsumüberfluss, sondern auch Armut und Unterentwicklung gehören zu den Verursachern der ökologischen Krise“ (Staub-Bernasconi 1991, S. 36). Mit dieser Einschätzung ist sie nicht allein: „Im Kern ist ‚Nachhaltigkeit‘ ein Gerechtigkeitskonzept. Bei Nachhaltigkeit geht es letztlich um die konsequente Erweiterung der Menschenrechtsidee“ (Schneidewind 2013, S. 27).

Hier lassen sich Überlegungen zum Verständnis Sozialer Arbeit als öko-sozialer Profession und Disziplin und ihres möglichen Beitrags zur nachhaltigen Entwicklung anführen: Soziale Arbeit hätte „aufgrund ihrer Theorie- und Professionsgeschichte die Möglichkeit, theoretische Instrumente für ein niveauübergreifendes, interdisziplinäres Denken und Handeln zu liefern“ (Staub-Bernasconi 1991, S. 34).

Ich möchte im Folgenden darstellen, dass ein Verständnis der Sozialen Arbeit als Arbeit für nachhaltige Entwicklung eine lange, vielfach vergessene Tradition hat. Das ökologische Paradigma der Sozialen Arbeit findet sich bereits in den Ursprüngen der Profession und Disziplin vor ca. 150 Jahren und es wurde in den vergangenen Jahrzehnten von namhaften Vertreter_innen der Sozialen Arbeit und der Sozialwissenschaft immer wieder implizit oder explizit angemahnt. Ein Blick zurück eröffnet hoch aktuelle integrative und sektorübergreifende Ansätze einer Sozialen Arbeit in partizipativer Forschung, Praxisentwicklung und Politikstrategien, die angesichts der heutigen Herausforderungen interessante Antworten liefern. Diese Ansätze entstanden in einer historischen Phase tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen und öko-sozialer Verwerfungen, welche zahlreiche Bezüge zu unserer Zeit der Transformation aufweisen. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf historischen Zugängen der Solidarökonomie (Elsen 2018, 2023) sowie auf der transdisziplinären Forschung aus und im Kontext Sozialer Arbeit, da diese neue Denk- und Handlungshorizonte für einen veränderten materiell-ökonomischen und sozial-kulturellen Alltag und Beiträge zur nachhaltigen Entwicklung eröffnen.

Soziale Arbeit und Mensch-Umweltbeziehungen: 150 Jahre Theoriegeschichte und öko-soziale Praxis

Das so genannte „ökologische Paradigma als Lehre von den Mensch-Umwelt-Beziehungen ist für die Soziale Arbeit nichts grundsätzlich Neues“, so Silvia Staub-Bernasconi 1995 (Staub-Bernasconi 1995, S. 44). Sie greift dabei auf die Darstellungen der Arbeit des Settlement Hull-House in der Einwandererstadt Chicago Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, die von der Gründerin Jane Addams und weiteren Mitgliedern vorgelegt wurden. In den genannten Schriften findet sich ein Handlungsverständnis politischer Sozialarbeit, das von der Erkenntnis ausgeht, dass soziale Konstellationen veränderbar sind und verändert werden müssen, um zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme in vielen Bereichen beizutragen.

Die Verhältnisse, die die Gründer_innen von Hull-House in ihrem Umfeld vorfanden, waren desaströs. Abfallberge in Straßen und Hinterhöfen, giftiges Abwasser, verseuchtes Leitungswasser, unvorstellbare Wohnverhältnisse, ausbeuterische und gefährliche Arbeitsbedingungen, fehlende soziale und gesundheitliche Infrastruktur, hohe Kindersterblichkeit, Gewalt, Alkoholismus und Prostitution – um nur einige der Probleme zu nennen. Chicago wurde seit 1860 zum Magnet für Hunderttausende europäischer Immigrant_innen insbesondere aus Deutschland, Italien und Griechenland. Zwischen 1860 und 1914 stieg die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte um 700 %. 1833 als Frontiersiedlung mit ca. 350 Einwohner_innen gegründet, war es siebzig Jahre später mit 3,4 Mio. Einwohnern die zweitgrößte Stadt Amerikas ohne notwendige Infrastruktur und Wohnungen. Die Wohnungsnot wurde verschärft durch einen Brand, der im Jahr 1871 ca. 90.000 Menschen um ihre Behausungen brachte. Das Ausmaß sozialer Ungleichheit war enorm. Zwei Prozent der Amerikaner_innen verdienten 60 % des Volkseinkommens. 80 % der Einwohner_innen waren europäische Immigrant_innen.

Das Settlement Hull-House war eine Universitäts-Außenstelle mit dem Ziel, ein Zentrum gesellschaftspolitischen Engagements und öko-sozialer Forschung und Entwicklung zu etablieren. Die Erfassung von Ursachen und Wirkungen sozialer, ökologischer, ökonomischer und kultureller Verwerfungen generierte die Entwicklung von Theorien für die professionelle Soziale Arbeit und die Erprobung strategischer und methodischer Ansätze. In den historischen Dokumenten von Hull-House finden sich Schilderungen der Einmischung in die problemverursachenden Zusammenhänge und die Analyse der sozialen, ökonomischen und ökologischen Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung unter Berücksichtigung globaler Perspektiven, z. B. des Zusammenhangs von Armut und Krieg, die Beschreibungen und Begründungen der Intervention in die Arbeits- und Produktionsbedingungen, die Wohnverhältnisse und die Stadtentwicklung, die sanitären Bedingungen und die Schaffung einer gemeinwohlorientierten Infrastruktur, des Aufbaus demokratischer Interessenorganisationen benachteiligter Gruppen, partizipativer Settings transformativer Forschung und die Gründung bedarfsorientierter Solidarökonomien (Addams 1913).

Es sind frühe Modelle dessen, was heute als Ansätze einer öko-sozialen Entwicklung diskutiert wird. Die Ansätze der Forschung und Entwicklung von Hull-House greifen späteren Diskursen partizipativer Forschung (z. B. Nowotny et al. 2001) vor. Die im Folgenden skizzierten solidarökonomischen Gründungen von Hull-House waren Antworten auf die drängenden Bedürfnisse und Nöte der Menschen im Umfeld des Settlements.

Solidarische Ökonomie als Soziale Arbeit: Ein Blick zurück

Die öko-soziale Transformation erfordert ermöglichende und fördernde Strukturen für kollektives Lernen in sozialen Experimenten die neue Denk- und Handlungshorizonte generieren können. Ein solidarökonomischer Bereich, der bedarfsorientiert, lokalisiert, selbstorganisiert, demokratisch strukturiert und nicht primär-profitorientiert ausgerichtet ist, hat erhebliche soziale und ökologische Effekte und ist für nachhaltige Entwicklung als auch für die Sicherung der Bevölkerung von zentraler Bedeutung (Elsen 2018, 2011, 2023).

Hull-House selbst war ein experimentelles gemeinschaftliches Wohn- und Lebensprojekt, eingebettet in ein problembelastetes Gemeinwesen. Die Bewohner_innen, Frauen und Männer aus den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen, Kunst und Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Journalismus, zahlten für Wohnung und Essen und wirkten für das Settlement. Bis ins Jahr 1907 entstanden im Hull-House-Komplex 13 Gebäude, darunter eine Bibliothek mit Seminarräumen, zahlreiche Werkstätten, Sporteinrichtungen und eine Kunstgalerie. In ihrer Schrift von 1913 verweist Jane Addams auf den Einfluss der internationalen Genossenschaftsbewegung sowie des internationalen Genossenschaftskongresses, der 1893 im Rahmen der Chicagoer Weltausstellung in Hull-House stattfand, auf die Gründung von Selbsthilfeunternehmen als Teil der Arbeit des Settlements. Sie stellt dar, dass sie mit der Idee der Gründung eigenständiger Genossenschaften zur Selbstorganisation von Arbeit, sozialer Sicherung, Energieversorgung und Wohnraum die Hoffnung verband, dass es durch den genossenschaftlichen Zusammenschluss gelingen könne, die Menschen unabhängiger zu machen. Hull-House gründete genossenschaftliche Versicherungen und Hypothekendarlehen welche Unterstützung für den Kauf von Wohnungen boten. Als erste Konsumgenossenschaft entstand die Cooperative Coal Association, die die Mitglieder von den schwankenden Heizkosten unabhängig machen sollte. Geschildert wird sowohl das Aufblühen als auch das Scheitern der Kohlengenossenschaft nach drei Jahren, die Addams mit der mangelnden Erfahrung begründet (Addams 1913, S. 95). Aktuell sind es Energiegenossenschaften in Europa, insbesondere im Osten Deutschlands, die vergleichbare Ziele verfolgen (Bayer et al. 2021). Die zweite Konsumgenossenschaft war eine kooperative Apotheke zur Versorgung der Mitglieder mit preiswerten Medikamenten. Hull-House siedelte eine eigene Postbank an und importierte die Idee der Postsparkasse aus Europa. Addams begründet dies: „weil sonst unsere Einwanderernachbarn bei jeder Geldsendung hohe Prozente den Vermittlern zahlen mussten. Unsre Erfahrungen mit unserer Posthilfsstelle lieferten uns Material, auf das wir unsre Forderungen der Einrichtung von Postsparkassen gründen konnten“ (Addams 1913, S. 205).

Die 1915 in Hull-House gegründete Gewerkschaft „AMALGAMETED Clothing Workers of America“ wurde Trägerin des ersten Mitarbeiter_innenbetriebes in Form einer Produktivgenossenschaft. Diese Gründung wird von Addams kommentiert als ein Beispiel, wie Industriearbeiter_innen Selbstbestimmung erreichen können und dass der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit in der industriellen Produktion kein zwangsläufiger sein müsse (Eberhart 2009). Im Jahr 1891 wurde in Zusammenarbeit mit der Frauengewerkschaftsbewegung die erste Wohnungsgenossenschaft für Arbeiterinnen gegründet. „Während des Streiks in einer großen Schuhfabrik fand in Hull-House eine Versammlung der Fabrikmädchen statt. In der Diskussion zeigte sich, dass von den Streikenden die am leichtesten einzuschüchtern […] waren, die Kost und Logis zu bezahlen hatten und fürchten mussten, herausgesetzt zu werden, wenn sie die Miete zu lange schuldig blieben“ (Addams 1913, S. 96). Geschildert werden die Details der Lernprozesse in der Selbstorganisation sowie des Betriebs des Wohnprojektes. Fragen des Managements, der Geschäftsordnung und der Finanzierung wurden in wöchentlich stattfindenden Sitzungen geklärt. Eine Kassiererin, eine Präsidentin und eine Verwalterin wurden gewählt und jede Bewohnerin zahlte drei Dollar pro Woche für Essen, Wohnen und gemeinsame Dienstleistungen. Die Spende in Höhe von zwanzigtausend Dollar eines Gönners zur Ausstattung des Projektes wurde abgelehnt, da sich herausstellte, dass dieser Mann als Arbeitgeber seine Arbeiterinnen nicht nur schlecht entlohnte. Addams hält fest, dass in den darauffolgenden Diskussionen deutlich wurde, dass der Wert einer solchen demonstrativen Weigerung darin bestehe, reichen Mäzenen die Auffassung der öffentlichen Meinung über gewisse Methoden des Gelderwerbs zu vermitteln.

Die Bedarfsorientierung der Unternehmensgründungen bezogen auf die Bedürfnisse des Gemeinwesens lässt sich bereits an den ersten solidarökonomischen Aktivitäten von Hull-House nachzeichnen. Die Gründung einer Volksküche basierte auf der Beobachtung der Lebensverhältnisse der Arbeiter_innen, deren Arbeitstag keinen Raum für die Zubereitung von Nahrung ließ sowie einer systematischen Untersuchung dieser Verhältnisse im Auftrag des amerikanischen Landwirtschaftsamtes durch Mitglieder von Hull-House. Selbstkritisch merkt Addams an, dass sie zwar nahrhafte Kost verkauften, aber den kulturspezifischen Geschmacksunterschieden ihrer Nachbar_innen nicht gerecht wurden. Positiver fällt das Urteil über die genossenschaftliche Kaffeestube, insbesondere aufgrund ihres sozialen Wertes, aus. Dieser offene Treffpunkt, der in einem Haus gemeinsam mit einer Versammlungs- und Sporthalle untergebracht war, entwickelte sich zu einem Zentrum der Geselligkeit und des interkulturellen und klassenübergreifenden Austausches nicht nur für Bewohner innen des Stadtteils. „Sie wurde von Geschäftsleuten aus den nahegelegenen Fabriken und von Lehrern aus den nächsten Volksschulen […] benutzt. Menschen, die das Leben im und ums Hull-Haus kennen lernen wollten, […] aßen dort an kleinen Tischen zusammen Abendbrot oder hielten dort Versammlungen und Festessen ab, was übrigens Organisationen aus allen Teilen der Stadt taten. Die Erfahrung mit der Kaffeestube lehrte uns, uns nicht an eine vorgefasste Meinung über das, was der Nachbarschaft fehlte, zu binden, sondern uns mit unseren Einrichtungen stets den vorhandenen Bedürfnissen anzupassen“ (Addams 1913, S. 93). Dies zeigt die besondere Bedeutung von Hull-House als sozialem Kristallisationspunkt im Gemeinwesen, eine Voraussetzung für Entwicklungsprozesse „von unten“.

Das Prinzip der Bedarfsorientierung wird auch sichtbar bei den Hull-House Werkstätten. Das erste neu errichtete Gebäude neben der alten Villa Hull enthielt eine Bildergalerie und 1891 wurde die erste Ausstellung eröffnet. Kunst und Ästhetik sollten keine Privilegien der Reichen sein, sondern ein Gegengewicht zur trüben Wirklichkeit der Arbeitenden. Verbunden mit der Kunstsammlung waren Ateliers die Künstler_innen und Lai_innen zur Verfügung standen und in denen Kurse in Malen, Lithographie und Holzdruck stattfanden (Addams 1913). An anderer Stelle wird die Gründung der Buchbinderei durch Ellen Starr, Kunstlehrerin am Chicago Art Institute beschrieben: „Miss Starr fand es auf Dauer unerträglich, Vorträge über Kunst zu halten, […] und doch mit ansehen zu müssen, dass das Handwerk ringsum keine Spur von Schönheit zeigte, […]. Sie ging nach London und lernte dort […] Buchbinden; dann richtete sie im Hull Haus eine eigene Buchbinderei ein, in der eine kleine Zahl von Lehrlingen Unterricht im Entwerfen und Herstellen schöner, dauerhafter Bucheinbände erteilt wird“ (Addams 1913, S. 249).

Eines der schönsten Beispiele der Kultur der Gemeinwesenökonomie (Elsen 2018) ist das im Jahr 1900 gegründete Labor Museum, verbunden mit Bildungsangeboten und einer Verkaufsstelle für handwerklich produzierte Textilien in den Traditionen der Einwanderergruppen. Es diente primär dem übergeordneten Ziel aller Aktivitäten von Hull-House, der umfassenden sozialen, kulturellen und ökonomischen Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder. Das Arbeitsmuseum bot eine breit angelegte Ausstellung historischer Werkzeuge, Artefakte, Vorträge und Leihgaben. In Werkstätten wurden alte Verfahren und kunsthandwerkliche Traditionen demonstriert. Ein kommerzieller Textilbetrieb war angegliedert. Die Einrichtung, die als Lernkontext der Arbeiterbildung entstand, lässt sich mit aktuellen multi-medialen museumspädagogischen Konzepten vergleichen.

Zur Aktualität der partizipativen öko-sozialen Forschung im Kontext von Hull House

So wie die Solidarökonomien aus dem Hull-House Kontext bedarfsorientiert, kooperativ und demokratisch organisiert wurden, so lässt sich für die Forschung und Entwicklung aus dem Hull-House-Kontext feststellen, dass sie frühe Zeugnisse einer kritischen und proaktiven Erforschung brennender sozialer und gesundheitlicher Probleme darstellen, welche konsequent auf der Ko-Kreation von Wissen unter Einbeziehung relevanter Stakeholder und der betroffenen Bevölkerung basierten und maßgebliche Verbesserungen der Lebensbedingungen im Umfeld des Settlements bewirkten. Es sind überzeugende Beispiele für eine partizipative und lebensweltorientierte Forschung und Entwicklung aus der Perspektive und zum Nutzen benachteiligter Gruppen. Hull-House entwickelte in der Einbindung und im Austausch mit seiner Einwanderernachbarschaft ein Verständnis von Wissenschaft, Forschung und Praxisentwicklung, wie es für nachhaltige Entwicklung von zentraler Bedeutung ist (Schneidewind 2013).

Addams beschreibt die forschungsbasierte Arbeit des Settlements an sozialen und ökologischen Fragen wie folgt: „We continually conduct small but careful investigations at Hull-House, which may guide us in our immediate doings“ (Addams 1910, S. 146). Die Analyse der Probleme erfolgte, ausgehend von der Beobachtung konkreter Missstände, auf der Basis von Recherchen und der Erarbeitung aussagefähiger Daten. Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden in den Hull-House Maps and Papers (Addams 1895) dokumentiert, die als Modelle sozialraumorientierter Enqueteberichte angesehen werden können. Die Ergebnisse waren die Basis gezielter sozialreformerischer Interventionen. Voraussetzung war das tiefe Einlassen in die Lebenswelten der „Armen“ und der Respekt vor deren Kompetenzen. Addams beschreibt diese Haltung u. a. im Zusammenhang mit der Würdigung des Hull-House-Klubs für Sozialwissenschaft: Er verhalf „den Hull-Haus-Bewohnern zu der Überzeugung, dass niemand die Mängel der bestehenden Gesellschaftsordnung so gut kennt und versteht, wie der, der an der tiefsten Stelle steht, der sie unmittelbar zu fühlen bekommen und unter ihnen am schwersten gelitten hat“ (Addams 1913, S. 128).

Hull-House vernetzte sich mit anderen amerikanischen Organisationen, die Untersuchungen sozialer und sanitärer Fragen durchführten und wurde selbst 1909 von der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften mit einer Untersuchung über Kindersterblichkeit beauftragt. In der Untersuchung der Wohnungsfrage kooperierte Hull-House mit der Forschungsabteilung der Chicagoer Schule für Bürgerkunde und Soziale Arbeit, an der Hull-House Bewohner_innen als Lehrende wirkten und die aktuellen Untersuchungen in die Lehre integrierten. Beschrieben wird die partizipative Untersuchung der Ursachen der verheerenden Typhus-Epidemie im Rahmen einer bakteriologischen Untersuchung durch zwei Hull-House Mitarbeiter_innen, die die schadhaften oder fehlenden Abwassersysteme der Häuser im Umfeld als ursächlich annahmen. Ihre Annahme wurde durch die Studie bestätigt. Gleichzeitig konnten sie die Fahrlässigkeit bzw. die Korruptheit des städtischen Inspektorats für diesen Bereich nachweisen (Addams 1913).

Addams beschreibt plastisch die ekelerregenden und gesundheitsgefährdenden Zustände in der gesamten Stadt, besonders jedoch in den Armenvierteln, die auf unzureichende Mülllagerung und -entsorgung zurückzuführen seien. Mitglieder von Hull-House unternahmen gemeinsam mit dem vom Kindergarten des Settlements gegründeten Hull-House-Frauenklub eine systematische Untersuchung des Chicagoer Müllabfuhrsystems und prüften mögliche Zusammenhänge zwischen Sterblichkeitsziffern und Müllproblemen in verschiedenen Bezirken. Die fast zweitausend Fälle, in denen das Gesetz bewiesenermaßen übertreten worden war, wurden dem städtischen Gesundheitsamt gemeldet. Addams betont, dass die an dieser Untersuchung mitwirkenden Frauen der Nachbarschaft trotz ihrer zahlreichen Verpflichtungen die Energie aufbrachten, sich an drei Abenden in der Woche, in der unangenehmsten Jahreszeit, mit Müllkübeln zu befassen (Addams 1913).

Armut und die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen standen im Zentrum der Forschung von Hull-House. Die „Armen“ seien keine besondere Gruppe. Armut zu bekämpfen hieße, sie nicht erst entstehen zu lassen. „Die herzzerbrechendste von allen Formen sozialen Elends bleibt die Arbeitslosigkeit“ (Addams 1913, S. 154). Mitglieder des Settlements setzten sich selbst den Produktionsbedingungen in Fabriken und Sweatshops aus. Ein Selbstversuch der vergeblichen Arbeitssuche in Chicago wurde als Bericht verfasst, um den Mythos zu entkräften, dass jeder, der arbeiten wolle, auch Arbeit finden könne. Die Mitarbeiter_innen von Hull-House begannen mit systematischen Ermittlungen zur Frage der Kinderarbeit und der Heimarbeit und erarbeiteten die ersten Enqueteberichte über die Verhältnisse in der Chicagoer Industrie. Den Auftrag dazu ließen sie sich vom US-Arbeitsministerium erteilen. Das Untersuchungsgebiet umfasste eine Quadratmeile rund um Hull House. Überall fanden sie „Sweating“, eine üble Form der ausbeuterischen Heimarbeit. Schon Vierjährige wurden zur Arbeit herangezogen und 18 Monate alte Kleinkinder zogen Fäden für die Textilproduktion. Addams schildert ein Schlüsselerlebnis für die vorbereitenden Untersuchungen zur Durchsetzung der ersten Arbeiterschutzgesetzgebung in Illinois. Beim Weihnachtsfest im Jahr der Gründung des Settlements Hull House 1889 erlebte sie, wie Kinder die Süßigkeiten zurückwiesen, die sie als Geschenk bekommen sollten. Es stellte sich heraus, dass diese Kinder von morgens um sieben bis abends um neun Uhr in einer Süßigkeitenfabrik arbeiten, völlig erschöpft waren und Süßigkeiten nicht mehr riechen konnten.

Die Forscher_innen gaben sich nicht mit der Erfassung der Missstände zufrieden, sondern erwirkten politische Veränderungen. Sie veranstalteten Vortragsabende und Gewerkschaftsversammlungen, zwangen Parlamentsabgeordnete, sich die schmutzigen und überbevölkerten Sweatshops anzusehen und fuhren mit Vertreter_innen der Gewerkschaften zum Parlament, um ihrer Forderung nach Arbeitsschutzgesetzen Nachdruck zu verleihen. Das Gesetz, das schließlich erkämpft werden konnte, verbot Kinderarbeit für Kinder unter 14 Jahren. Es sollte einhergehen mit einer gesetzlich geregelten Schulpflicht.

Abschließende Diskussion

Warum der Rückgriff auf diese historischen Darstellungen, wenn es um ein neues Verständnis des Verhältnisses von Sozialer Arbeit und Nachhaltigkeit geht? Diese Beispiele einer umfassenden, forschungsbasierten Arbeit am Sozialen in einer gesellschaftlichen Phase tiefgreifender Transformation zeigen neue Denk- und Handlungshorizonte, welche einerseits benachteiligte und unterstützungsbedürftige Gruppen in integrative Ansätze der lernenden Innovation und der Solidarökonomie integriert, Brücken baut zu entscheidenden Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft und damit nachhaltige Lösungsansätze erzielt. Sie zeigen andererseits Beispiele für eine partizipative Forschungskultur, welche den Erfordernissen der Nachhaltigkeit gerecht wird.

Eine solche Arbeit am Sozialen erfordert soziale Kristallisationspunkte, die nach dem Beispiel des Hull-House eine wirksame Öffentlichkeit herstellen, und zu einer Neukonstellation des Verhältnisses zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft beitragen kann und dabei sowohl klassischen als auch neuen Formen der Sozialen Arbeit Raum bieten. Diese Kristallisationspunkte müssen eingebettet werden in alltägliche Zusammenhänge. Sie eröffnen gleichzeitig neue Optionen der politischen und sozialproduktiven Teilhabe. Diese entstehen als gemeinschaftsbildende und lernende Formen der Solidarökonomie aus dem lebensweltlichen Kontext, z. B. Gemeinschaftsgärten, Stadtteilwerkstätten, Gemeinschaftsnutzungen, gegenseitige Hilfen oder Sozialgenossenschaften im Bereich von Handwerk oder Nahraumversorgung. Aus und in diesem Kontext können z. B. in Kooperation mit Universitäten und zivilgesellschaftlichen Gruppen, interdisziplinäre Projekte der öko-sozialen Innovation entstehen. Neben diesen Ermöglichungsstrukturen braucht es aber Professionelle für eine umfassende Arbeit am Sozialen, die sich als Ermöglicher_innen, Moderator_innen und Erfinder_innen für Wege in die Nachhaltigkeit verstehen.