Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) im Jugendamt kann die Armut der Welt nicht beseitigen, aber sie konsequent als gesellschaftliche Gewalt analysieren. Im Folgenden wird danach gefragt, wie in und durch Organisation die Armut von jungen Menschen und ihren Familien macht- und gewaltanalytisch reflektiert und den Adressat_innen ermächtigende Hilfen zur Armutsbewältigung angeboten werden können.

Für viele Menschen ist Armut kein wissenschaftlicher Gegenstand, sondern der Ernst des Überlebens. Wer zum Beispiel häufig mit der U‑Bahn durch Berlin oder andere Metropolen fährt, der kennt womöglich die Menschen, die mit verletzten Körpern in den Zügen um etwas Geld oder Essen bitten. Armut zeigt sich aber nicht immer in derart extremen Formen und ist weder ein Großstadtereignis noch ein Randphänomen. Oftmals bleibt Armut im öffentlichen Leben verborgen oder wird ignoriert, obwohl sie gesellschaftlich weit verbreitet ist: Der Gang zur Tafel, das Flaschensammeln im Stadtteil, aber ebenfalls Schamgefühle, Abstiegsängste, Schlaflosigkeit, das fehlende Spielzeug, Lehrbuch oder Musikinstrument, Vereinsamung und Selbstzerstörung hinter den vier Wänden, Hunger in Leib und Seele, bis die Luft ausgeht. Nicht selten wird Armut auch in gesellschaftlichen Organisationen übersehen sowie reproduziert und vertieft und von den Betroffenen aus Scham versteckt, zum Beispiel im Betrieb, in der Schule oder im Jugendamt. Keine Frage, Armut stigmatisiert und beschämt und diese „Scham vereinzelt“ (Eribon 2018, S. 123) und zerstört.

Insofern ist Armut eine aggressive Form gesellschaftlicher Gewalt. Durch das Finanz- und Wirtschaftssystem (Piketty 2016) und die gegenwärtige Gesellschaftsordnung werden Menschen in schwierige bis destruktive Lebenslagen gezwungen und zum Armsein verurteilt. Solche „Urteile“ (Eribon 2018, S. 20) der Gesellschaft sind nicht nur ein bloßer Sprechakt, sondern gehen vielmehr mit Kapital- und Sozialisationsmacht respektive sozio-materieller und symbolischer Gewalt einher (ebd., S. 101 ff.). In den Blicken, Taten und Worten, mit denen Menschen im öffentlichen Leben verurteilt werden, „liegt die ganze Gesellschaftsordnung beschlossen: Sie sind ein Schuldspruch, der den Individuen einen Aufenthaltsort in den stigmatisierten und würdelosen Regionen der sozialen Welt zuweist“ (ebd., S. 112). Diesen Zuweisungen können Menschen kaum entkommen, vor allem in der Kindheit und Jugend.

Innerhalb der globalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden Kinder und Jugendliche aus bestimmten Sozialmilieus respektive Klassenlagen gesellschaftlich in die Armut gedrängt, darüber verunsichert und verletzt, ohne dass die sozio-materiellen Entstehungsbedingungen und Reproduktionsmechanismen ihrer Armutskontexte nachhaltig und konsequent fokussiert und beseitigt werden. Insbesondere in sogenannten Wachstums- und Wohlfahrtsstaaten, wie der Bundesrepublik Deutschland, tritt Armut „eher subtil in Erscheinung“ (Butterwegge 2016, S. 7) und wird „oft selbst von damit tagtäglich konfrontierten Fachkräften wie Erzieher(inne)n und Pädagog(inn)en nicht einmal erkannt“ (ebd.). Wird Armut nicht bemerkt oder gar kaschiert, ist das ein gesellschaftliches Problem, weil sich dann die damit einhergehende Gewalt ohne Weiteres in Biografien, Organisationen und Diskursen entfalten kann. Mit Blick auf die Entwicklungs‑, Entfaltungs- und Einflussmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen und die damit verbundenen Stabilisierungs- und Erneuerungsprozesse von demokratischen Gesellschaften sind vor allem auch die Professionellen und Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe und speziell die Fachkräfte von Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) in örtlichen Jugendämtern herausgefordert, Mittel und Wege zu finden, um Armut so weit wie nur möglich zu reflektieren und gemeinsam mit den Adressat_innen und gesellschaftlichen Partner_innen zu bewältigen. Es wird davon ausgegangen, dass der ASD in eine armutsbewältigende, pädagogisch-sozialarbeiterische Praxis eingebettet ist.

Angesichts der institutionellen Schlüsselstellung des Jugendamtes und des ASD im Feld der Kinder- und Jugendhilfe wird im vorliegenden Beitrag danach gefragt, wie die Armut von jungen Menschen und ihren Familien und Milieus in und durch Organisation reflektiert und ggf. bewältigt werden kann. Vor diesem Hintergrund wird der ASD als armutsbewältigende Organisation professioneller Sozialer Arbeit vorgestellt (zum Bewältigungsbegriff: Böhnisch 2019; auch: Hunold 2022). Bevor dies erfolgt, werden zunächst Aspekte aus der Armuts- und Reichtumsforschung in Deutschland aufgegriffen, um den Gegenstand näher zu beschreiben.

Armut erforschen und bekämpfen

Durch und in Gesellschaften und speziell Organisationen werden multiplexe Armuts- und Reichtumsverhältnisse (re-)produziert. Armut und Reichtum stehen in einem Verhältnis zueinander und gehen mit gesellschaftlichen Ungleichheiten sowie politischen, ökonomischen und soziokulturellen Macht- und Herrschaftsverhältnissen einher (u. a. Butterwegge 2016, S. 18 ff.; historisch: Sachße und Tennstedt 1983). Unter anderem wird Armut heute als „individuelles und […] soziales Problem“ (Best et al. 2018, S. 28) in Gesellschaften und in Bezug auf subjektive und objektive Merkmale erforscht. In diesem Zusammenhang wird zwischen absoluter und relativer Armut differenziert (ebd.).

Absolute Armut bezeichnet existenzbedrohende Mangelzustände und Notlagen, zum Beispiel in Form von Unterernährung, Wohnungslosigkeit oder fehlender medizinischer Versorgung. Relative Armut orientiert sich demgegenüber an einem bestimmten Existenzminium und ist abhängig vom jeweiligen Berechnungs- und Bewertungsmodell und den raumzeitlichen Verhältnissen, wobei zwischen dem Ressourcen- und dem Lebenslagenansatz unterschieden wird. Während beim Ressourcenansatz das durchschnittliche Haushaltseinkommen herangezogen wird, um Armut zu ermitteln, werden beim Lebenslagenansatz verschiedene Dimensionen, wie Einkommen, Wohnsituation, Gesundheitsversorgung sowie Bildungs- und Medienzugang, rechtliche Anerkennung, gesellschaftliche Mitbestimmungsmöglichkeiten etc. fokussiert (Rietzke 2011, S. 68). „Armut wird hier verstanden als Unterversorgung in mehreren Lebensbereichen, so dass die durchschnittliche Lebensqualität auf dem jeweils geltenden sozialen und kulturellen Standard einer Gesellschaft unterlaufen wird“ (ebd.). Für die einzelnen Dimensionen werden „Indikatoren entwickelt und Unterversorgungsschwellen definiert“ (ebd.), um Armut zu erfassen. Sowohl die Bestimmungen von Indikatoren als auch die Strategien zur Armutsbekämpfung gehen aus Klassifizierungs- und Kapitalkämpfen in und zwischen gesellschaftlichen Macht- und Kräftefeldern hervor (in Anlehnung an Bourdieu und Wacquant 2013, S. 136 ff.). Bei diesen Kämpfen stehen sich in der Regel wissenschaftliche Einrichtungen, Gewerkschaften, Parteien und Ministerien, Kirchen sowie Wirtschafts- und Wohlfahrtsverbände konfliktreich gegenüber und ringen um die Dokumentation, Deutung und Bearbeitung von Armut und Reichtum in der Gesellschaft (Butterwegge 2021, S. 23 ff.).

Hauptsächlich im Lebenslagenansatz, der bereits in der Weimarer Republik von Otto Neurath und in der Nachkriegszeit von Gerhard Weisser geprägt und später von Ingeborg Nahnsen weiterentwickelt wurde, werden verschiedene Dimensionen von Armut und der subjektiv wahrgenommene Handlungsspielraum im Kontext objektiver Existenzbedingungen fokussiert (Best et al. 2018, S. 37). Unter Rückgriff auf den Lebenslagenansatz zielt Forschung darauf ab, „die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlich verursachter und individuell erlebter Armut analytisch wie empirisch herzustellen“ (Huster et al. 2018, S. 14). Aus einer solchen Perspektive gründet Armut auf unterschiedlichen Erfahrungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, „die dann wiederum oftmals mit den Dimensionen Gender, Migration, Familie, Alter und Behinderung“ (ebd.) und, das soll an dieser Stelle betont werden, vor allem der Klassenlage verknüpft sind (auch Groh-Samberg 2009).

Olaf Groh-Samberg und Wolfgang Voges rücken die „zeitliche Dimension von Lebenslagen“ (2013, S. 67) besonders in den Forschungsblick und schlagen vor, Armut „multidimensional zu betrachten“ (ebd., S. 73), das heißt, die dynamischen Wechselverhältnisse zwischen mehreren Lebenslagendimensionen im Zeitverlauf zu analysieren. Mit Verweis auf ihre längsschnittlich-mehrdimensionalen Studien konstatieren sie einen stabilen „Zusammenhang zwischen Armutsrisiken und sozialen Klassenlagen“ sowie „eine zunehmende zeitliche Verfestigung von Armut“ (ebd., S. 73 f.) in Deutschland. An einer anderen Stelle verweist Groh-Samberg (2014) auf Folgendes: „Die Klasse der einfachen ArbeiterInnen trägt das mit Abstand größte Risiko, sich in der Zone der verfestigten Armut zu befinden, das absolut gesehen auch am stärksten ansteigt, gefolgt von der Klasse der FacharbeiterInnen. Noch extremer ist dieser Anstieg im Osten verlaufen“ (ebd., S. 313). Die Klassenlage steigert zudem in Überlagerung mit Bildung, Haushaltstyp, Migration und Lebensalter das Risiko von (verfestigter) Armut (ebd.).

Im Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung werden die „Lebenslagen in Deutschland“ (2021) ebenso unter Berücksichtigung von Mehrdimensionalität und Zeitlichkeit thematisiert (ebd., S. 132 ff.). Armut wird in Bezug auf Einkommen, Vermögen, Erwerbsarbeit, soziale Sicherung, Bildung, Gesundheit, Wohnen, Lebensumfeld, Partizipation und Mobilität im zeitlichen Verlauf erforscht. Neben den quantitativen Analysen wird der Armuts- und Reichtumsbericht außerdem durch qualitativ orientierte Interviews zur Erfassung subjektiver Bewertungen ergänzt, wobei von Armut gefährdete Personen „zu ihrer Biografie, ihren aktuellen Lebensumständen, zu Einkommen, Vermögen, Konsummöglichkeiten und nicht-materiellen Dimensionen der Lebenslage“ (ebd., S. 25) befragt wurden.

Christoph Butterwegge (2021) kritisiert den deskriptiven Charakter und die fehlende „Tiefenschärfe“ im Armuts- und Reichtumsbericht. Im Bericht der Bundesregierung seien zwar viele Daten zu Armut und Reichtum enthalten, doch die „gesellschaftlichen Determinanten sozialer Auf- und Abstiege blieben im Dunkeln, weil die bestehenden Eigentums‑, Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht hinterfragt wurden“ (ebd., S. 70). Des Weiteren weist Butterwegge darauf hin, dass der Begriff der relativen Armut nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass es auch in Deutschland viele Menschen gibt, die von massiver und absoluter Armut betroffen sind (ebd., S. 23).

Die sozio-materiellen Machtgrundlagen und Herrschaftsmechanismen von Armut werden jedoch nicht nur in wissenschaftlichen Studien vernachlässigt. Ebenfalls in vielen öffentlichen Diskussionen oder gesellschaftlichen Organisationen bleiben politische, ökonomische und kulturelle Armutsbedingungen oft unhinterfragt oder werden verharmlost bis skandalisiert (Butterwegge 2016, S. 101 ff.). Diese Kaschierung von Armut ist aus verschiedenen Gründen problematisch, zuvorderst da, wo es um das Wohlergehen sowie die Befähigung und Entfaltung von Kindern und Jugendlichen durch öffentlich organisierte Bildung, Erziehung und Hilfe geht. Das betrifft unter anderem Organisationen in der Kinder- und Jugendhilfe und, das wird im Folgenden erläutert, vor allem auch den Allgemeinen Sozialen Dienst.

Der ASD als armutsbewältigende Organisation professioneller Sozialer Arbeit

Die Kinder- und Jugendhilfe soll gemäß dem Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) für alle jungen Menschen entwicklungsförderliche Lebensbedingungen ermöglichen (Jordan et al. 2015, S. 14 ff.) und Kinder und Jugendliche durch Bildung, Erziehung, Beratung und Hilfe bei der Herausbildung „einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII, 2023) unterstützen (Rätz et al. 2014, S. 73 ff.). Das SGB VIII legt fest, dass junge Menschen in ihrer Entwicklung gefördert und soziale Benachteiligungen vermieden oder abgebaut werden sollen (§ 1 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII). Bei der Verwirklichung der Leistungen und Aufgaben gemäß dem SGB VIII kommt dabei dem ASD eine Schlüsselstellung zu. Als Handlungs- und Organisationsfeld Sozialer Arbeit ist der ASD der konsequenten Durchsetzung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verpflichtet.

Institutionalisierte Organisationen, wie der ASD im Jugendamt, funktionieren gesellschaftlich als „Nadelöhre der Ressourcen(um)verteilung und Legitimierung sozialer Praktiken“ (Bernhard und Schmidt-Wellenburg 2012, S. 44) und sind als Kampf- und Konfliktzonen gesellschaftlicher Macht- und Kräfteverhältnisse einflussreich an der Verteilung und Aneignung von differenten Kapital- und Klassifizierungsformen beteiligt (in Anlehnung an Emirbayer und Johnson 2008, S. 6 ff.). Das Jugendamt, als Teil des demokratischen Rechtsstaates, und der ASD, als soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisation, handeln im Kontext von wohlfahrtsstaatlicher Sozialpolitik durch Hilfe und Kontrolle und orientieren sich eigendynamisch an gesellschaftlich-feldspezifischen Normalitätsansprüchen, Professionsidealen und Gesetzesvorschriften, etwa dem Kinderschutz gemäß § 8a des SGB VIII (Klatetzki 2018, S. 1259 ff.).

Der ASD ist eine Anlaufstelle auf kommunaler Ebene, wenn es um das Wohl von Kindern und Jugendlichen geht. Die Mitarbeitenden der Sozialdienste beraten unter anderem Eltern und junge Menschen zu Erziehungsfragen, führen zuweilen Hausbesuche und bei Gefährdungen des Kindeswohls auch Inobhutnahmen durch oder vermitteln und begleiten Hilfeprozesse von jungen Menschen (Klatetzki 2018, S. 1261). Eingebunden in die Fachverwaltung des Jugendamtes lassen sich die Tätigkeiten des ASD-Personals „als personenbezogene soziale Dienstleistungen bezeichnen, da sie sich in direkten ‚face to face‘ Interaktionen mit den Klienten vollziehen“ (ebd., S. 1266; H. i. O.). Das Personal im ASD arbeitet mit Menschen aus unterschiedlichen Milieu- beziehungsweise Reichtums- und Armutsverhältnissen zusammen, um gezielt „soziale Problemlagen festzustellen und durch die Gewährung und Planung von Maßnahmen sozialpädagogische Dienstleistungen einzuleiten“ (ebd., S. 1261). Dafür, so lautet die These, sollten Fachkräfte im ASD in der Lage sein, mögliche Armuts- und Gewaltverhältnisse hinter und in den Anliegen, Krisen und Konflikten der Adressat_innen in ihrer raumzeitlichen Mehrdimensionalität zu erkennen und diese Erkenntnisse in der professionell-organisationalen Arbeit zu berücksichtigen. Armut sollte dabei weder privatisiert oder entsozialisiert noch depolitisiert oder ideologisiert werden. Für die Reflexion von Armut und die damit einhergehende Bewältigungshilfe im ASD sind professionelle Haltungen und organisationale Settings von Nöten, die im Folgenden in ein Verhältnis zueinander gesetzt und als anspruchsvolle Zielperspektiven für die sozialpädagogische Arbeit vorgeschlagen werden.

Soziale Arbeit zeichnet sich besonders aus durch die „Fähigkeit des Fallverstehens unter Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse“ (Becker-Lenz und Müller-Hermann 2013, S. 218), eine „berufsspezifische ethische Grundhaltung“ (ebd.) und Menschenrechtsorientierung, „die Fähigkeit zur Gestaltung eines Arbeitsbündnisses“ (ebd.) sowie die Fähigkeit, struktur-, macht- und „habitussensibel zu agieren“ (Sander 2014, S. 25; Kubisch 2014; Schmitt 2014) und zu reflektieren. Diese oder andere Professionsansprüche, wie sie unter anderem von Ulrich Oevermann oder Fritz Schütze entwickelt wurden, werden in, durch und zwischen Organisationen verwirklicht oder nicht. Insofern ist es für die Reflexion von Armut im ASD vielversprechend, Profession und Organisation aufeinander zu beziehen.

Organisationen, wie Allgemeine Soziale Dienste, erschöpfen sich nicht in formalen Strukturen (wie z. B. Hierarchien, Regeln etc.), sondern bringen eigene Kulturen und Muster des Handelns hervor (Informalität etc.) und lassen sich als eigendynamische Akteure im gesellschaftlichen Feld der Kinder- und Jugendhilfe konzipieren (Klatetzki 2018, S. 1260 ff.). Unter Berücksichtigung der Widersprüche und Logiken sozialer Praxis können Organisationen die Aneignung und Einübung von professionellen Haltungen auf Seiten des ASD-Personals, und damit bestimmte Praktiken zur Armutsbewältigung, einflussreich anregen und verstärken, zum Beispiel in Form einer Organisationskultur (auch Mohr und Ziegler 2012), aus der heraus die dafür geschulten Fachkräfte im ASD systematisch und sensibel die möglichen Armutslagen der Adressat_innen sondieren und durch Aktenführung dokumentieren. Dies erfolgt durch narrativ orientierte Fragen (zum Beispiel in einem Beratungsgespräch) und aufmerksame Beobachtungen (etwa bei Hausbesuchen) im Kontext vertrauensbildender Beziehungsarbeit (auch Kubisch 2014, S. 104 ff.). Damit wird versucht, dass sich die Menschen mit ihren feld- und milieubedingten Lebenskonflikten und Bewältigungsaufgaben in der Organisation offen, ungezwungen und ohne Beschämung entfalten können. Diese qualitative Erkundung von krisen- und konfliktrelevanten Armutsdimensionen im Vollzug des Fallverstehens erfolgt regelgeleitet, wird mittels spezieller Fragebögen und kollegialer Beratungen unterstützt und durch Vorgesetzte und Gleichstellungsbeauftrage des Jugendamtes und/oder externe Profis für Milieuschutz und Stadtentwicklung begleitet. Der Blick des ASD-Personals wird in der und durch die Organisation geschärft, verstetigt und orientiert. Ziel ist, dass die Armutsreflexionen in die Falleinschätzung sowie Gewährung, Planung und Begleitung von sozialarbeiterischen Maßnahmen nachhaltig einfließen, um eine menschenrechts- und adressat_innenorientierte Armutsbewältigung durch entsprechende Hilfen und Ressourcen zu unterstützen. Diese Hinweise deuten die hohen Ansprüche an, die für den ASD gelten. Hinsichtlich dieser und anderer Aufgaben sollte der ASD angemessen mit Personal, Geld und Zeit ausgestattet sein.

Mitarbeitende in leitender Position, wie die Jugendamtsleitung oder Abteilungsleitung des ASD, könnten eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Armut zudem durch themen- und praxisbezogene Fort- und Weiterbildungen, Workshops, Bildungsurlaube, Teamtreffen, Forschungskontexte, Fachzeitschriften und sozioanalytisch angeleitete Stadtteilbegehungen im Verantwortungsbereich des Amtes fördern. Durch milieusensible Analyse- und einer damit verbundenen Öffentlichkeitsarbeit des ASD, die sich besonders an Klassenlage, Alter, Gender, Region und auch anderen aus der Armutsforschung ermittelten Dimensionen orientiert (wie oben dargestellt), wäre es des Weiteren möglich, armutserfahrenen Menschen den Zugang zum Jugendamt zu erleichtern, zum Beispiel durch informative Besuche in Schulen, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen oder Betrieben. Dabei könnten differente Armutsdimensionen als Ausprägungen gesellschaftlicher Gewalt aufgegriffen und sozialarbeiterische Hilfen zur Armutsbewältigung in Aussicht gestellt werden.

Fazit und Ausblick

Armutsbewältigung ist sowohl eine Frage des Geldes als auch der Erfahrungs‑, Entfaltungs- und Einflussmöglichkeiten in der Praxis. In der und durch die Organisation kann die Reflexion von Armut als gesellschaftliche Gewalt im ASD strukturiert und verstetigt werden, um Kinder und Jugendliche durch die Gewährleistung von Hilfen und Ressourcen in ihrem Sozialmilieu und darüber hinaus zu ermächtigen. Ermächtigung meint hierbei, dass sich die Adressat_innen individuell und kollektiv von der gewaltvollen Verurteilung durch die Gesellschaft distanzieren und ohne Scham entfalten können. Durch sozialarbeiterische Hilfen zur Armutsbewältigung, die sich nicht nur an einzelne Personen, sondern auch an die Milieuangehörigen wenden, kann der ASD dazu beitragen, dass sich „Scham in Stolz“ (Eribon 2018, S. 20) umwandelt und Kraft zur Reibung entzündet. Anstatt armutserfahrene Menschen zu erziehen und zu sanktionieren, müssen die mehrdimensionalen Armutsverhältnisse fokussiert, im Sozialraum beseitigt und das Einzelkämpfertum der Betroffenen beendet werden. Hierbei wäre es auch sinnvoll, über erweiterte Einflussmöglichkeiten des Jugendhilfeausschusses zu diskutieren.

Die im vorliegenden Beitrag formulierten Überlegungen zur Reflexion und Bearbeitung von Armut sind bezüglich der knappen Personalausstattung und der ohnehin komplexen Aufgaben im ASD eine zusätzliche Herausforderung für das Jugendamt. Deshalb sollte gerade die Organisation so gestaltet sein, dass die ASD-Mitarbeitenden im Vollzug ihrer anspruchsvollen Berufspraxis deutlich entlastet werden. Gleichzeitig braucht es eine umfassende Ausstattung, strukturelle Einbindung und öffentliche Aufwertung des ASD und Jugendamtes in der Gesellschaft. Wenn der ASD selbst durch Unterfinanzierung und Personalnot blockiert ist, dann wird es sehr schwer, armutserfahrene Kinder und Jugendliche durch sozialarbeiterische Angebote zu ermächtigen und den gesetzlichen Auftrag (SGB VIII) und die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen zu erfüllen. Neben dem ASD müssen aber vornehmlich auch andere gesellschaftliche Organisationen der Armut den Kampf ansagen. Mit Böhnisch et al. (2005) lässt sich darauf hinweisen, dass Soziale Arbeit systematisch „Hilfe zur Lebensbewältigung“ (ebd., S. 127) leistet, dabei aber auch an Grenzen stößt und mit Krisen und Konflikten konfrontiert wird, die primär durch wohlfahrtsstaatliche Politik bearbeitet werden müssten (ebd.). Um Armut konsequent zu bekämpfen, braucht es sozial-, finanz- und wirtschaftspolitische Reformen und einen aktiven Wohlfahrtsstaat, der alle Menschen vor den Risiken und Gewalten einer ausdifferenzierten Kräftefeldgesellschaft (dazu Bourdieu und Wacquant 2013, S. 124 ff.) schützt und in den kollektiv produzierten Reichtum eingreift, um diesen umzuverteilen, unter anderem in Bezug auf Löhne, Renten und Kindergrundsicherung, Klima- und Milieuschutz, Wohnen, Bildung, Gesundheit sowie Mobilität, Energie und Infrastruktur in den Städten und ländlichen Regionen. Außerdem sind milieugrenzenübergreifende und durchsetzungsstarke Bündnisse sowie sozial-ökologische und demokratische Bewegungen, Gewerkschaften, Verbände, Betriebe, Parteien, Netzwerke, Vereine etc. gefragt, die sich mit Nachdruck und offenen Türen engagieren, um Armut als gesellschaftliche Gewalt vor Ort und überall auf der Welt zu bezwingen. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse kann Soziale Arbeit als menschenrechts- und gemeinwesenorientierte Profession auch jenseits des ASD tragfähige sowie lern- und weltoffene Kooperations- und Ermächtigungsmöglichkeiten zur kollektiven Konfliktbearbeitung und Armutsbekämpfung anbieten und beispielsweise über Formen des Community Organizing demokratische Mitbestimmung und Durchsetzungskraft für armutserfahrene Menschen in benachteiligten Stadtteilen unterstützen und ausweiten. Dafür muss Soziale Arbeit nicht nur im ASD bestens ausgestattet und organisiert sein.