Kinderarmut steht im Moment wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Es gibt viele Akteur_innen, die sich zu Wort melden, die Frage aber, wie einzelne Einrichtungen als Organisationen mit Kinderamut umgehen können und welche ethisch begründeten Rahmungen sie entwerfen wollen, wird selten gestellt. Am Beispiel der Kita wird in dem Beitrag der Versuch unternommen, Impulse für eine solche organisationsethische Rahmung zu entwickeln.

Wenn – wie Rainer Forst (2015) formuliert – Institutionen und somit auch Organisationen als durch ihre historischen Narrationen legitimiert und dadurch in ihren Rechtfertigungsordnungen verstehbar sind (Forst 2015, S. 87), dann ist es nicht so einfach möglich, allgemeine normative Orientierungen für Organisationsethiken in kindheitspädagogischen Organisationen zu formulieren.Footnote 1 Zunächst muss die Geschichte der kindheitspädagogischen Organisationen rekonstruiert werden. Dabei kann danach gefragt werden, wie sich in aktuellen Deutungsmustern von Fachkräften (Dis‑)Kontinuitäten der der Historie zugrundeliegenden Rechtfertigungsnarrative finden und welche Normativitäten sich den bisherigen zur Seite stellen lassen.

Der folgende historische Zugang zur Geschichte und Funktion des Kindergartens zeigt, dass man Armut immer wieder mit disziplinierender Pädagogik oder paternalistisch begegnete. Armut wurde individualisiert oder normativ kollektiviert. Ein zentrales Rechtfertigungsnarrativ kann in der ‚Verwahrung‘ von Armen gesehen werden, damit von ihnen weniger ‚Gefahren‘ für gesellschaftliche Ordnungen ausgehen mögen. Dabei wurden und werden auch die pädagogischen Fachkräfte individualisiert in den Blick genommen und weniger organisationale Strukturen verhandelt. Schon Friedrich Fröbel gibt dezidierte Anleitungen an die Kindergärtnerinnen in Bezug auf deren pädagogische Haltung den Kindern gegenüber. Auch ein Blick in aktuelle Deutungsmuster der Fachkräfte im Kontext der Kitas zeigt, wie wenig die Organisationen selbst als Orte der machtvollen Ungleichheitserzeugung gesehen werden und wie wenig Spielraum für die Fachkräfte innerhalb dieser organisatorischen Strukturen bestehen. Und selbst diese wenigen Spielräume müssen kritisch gesehen werden, denn individualisierte Partizipations‑, Bewältigungs‑, Resilienz- und Kompetenzeuphorien sind gerade heute wieder an neoliberale gesellschaftliche Diskurse und Praxen anschlussfähig. Handlungsfähigkeit und Bildung werden tendenziell wieder als ein Modus begriffen, um sich aus der Auseinandersetzung mit Armutsverhältnissen herauszuwinden.

Diese Individualisierung suspendiert jedoch die Soziale(n) Frage(n), denn sozialpädagogische Arbeit in der Kita findet in machtvollen institutionellen Kontexten statt. In diesem Zusammenhang müssten die Kitas immer auch um ihre institutionellen Normalitätsvorstellungen gerechtigkeitsambitioniert ringen, wie Eleonore Karsten (2023) in einem Interview betonte, „aber solange es kein Einsehen gibt, dass sozialpädagogische Arbeit institutionelle Arbeit ist, kann man auch keine institutionelle Ethik erarbeiten“ (Karsten 2023). Dies lässt sich ebenso für organisationale Kontexte reklamieren. Die fortschreitende Individualisierung des Verhältnisses zwischen Kind und pädagogischen Fachkräften versperrt den Blick auf die Verantwortlichkeit der Institutionen und der Organisationen.

Im Anschluss an eine historische Rekonstruktion von normativen Diskursen in der Kita im Kontext von Armut möchten wir fragen, welche (gerechteren und rechtfertigbareren) normativen Orientierungen ermöglichen auf Ebene der Organisationen eine Dialektik von Bildung und Sorge (Alterität), von Selbstvertretung und Stellvertretung, von Partizipation und Advokatorik.

Historischer Zugang zur Funktion des Kindergartens im Kontext von Armut: Kontinuitäten und Brüche

In der historischen Entwicklung der Kinderbetreuung spiegeln sich die gesellschaftlichen und politischen Positionen und Bedingungen der einzelnen Epochen wider. Die bürgerlichen Normalitätsvorstellungen von Kindheit und Familie bestimmen die Funktion der Betreuung junger Kinder, dies allerdings analog zur jeweiligen Klassenzugehörigkeit, deren Grenzen durch die Kinderbetreuung nicht aufgelöst, sondern verfestigt und stabilisiert werden sollten (Reyer 1987, S. 254–255). Ein zentraler Beweggrund für die Schaffung einer öffentlichen Kinderbetreuung war es durchaus, die Kindheiten der ‚sozialen Unterschicht‘, der systemgefährdendes Potenzial unterstellt wurde, unter Kontrolle zu halten (Neumann 1987, S. 141).

Seit mehr als 180 Jahren gibt es Einrichtungen zur öffentlichen Kleinkinderbetreuung und -erziehung in Deutschland. Sie hat ihre Wurzeln in der karitativen Institution der Armenfürsorge und beherbergte Kinder armer Eltern und insbesondere armer Mütter, die nicht in der Lage waren, ihre Kinder mit dem Notwendigsten zu versorgen. Das karitative Engagement wurde zum Teil von bürgerlichen Frauen getragen, deren Position als Hausfrau und Mutter innerhalb eines arbeitsteiligen Familiengefüges im Gegensatz zu der Notwendigkeit des Broterwerbs der Tagelöhnerinnen stand (Reyer 1987, S. 259). Kompensiert werden sollte nicht nur die mangelnde Versorgung der Kinder, sondern auch das bürgerliche Ideal der arbeitsteilig organisierten Kleinfamilie wurde damit als natürlich gegebener Ort der Mutter vor Augen geführt. Somit trug die notgedrungene Fremdbetreuung der Kleinkinder immer auch den Vorwurf gegen die ‚Natur der Frau und Mutter‘ zu handeln und die originäre Familienbindung zu zerstören (ebd., S. 256).

Die ersten Kleinkinderbewahranstalten oder Kleinkinderschulen waren also zunächst für Kinder armer, erwerbstätiger Eltern bestimmt. Bildung war in diesen Institutionen nicht vorgesehen. Die sozialfürsorgerische Absicht, die die fehlenden erzieherischen und versorgenden Aufgaben der Familie kompensieren sollten, stand im Vordergrund, nicht aber die Bekämpfung der Armut (Ebert 2006, S. 28). Die Leitbilder dieser Pädagogik waren Unterordnung, Gehorsam und Gewöhnung an Sittlichkeit. Julius Fölsing, Gründer von Kleinkinderschulen, warnte 1846 vor den Folgen einer vernachlässigten Erziehung armer Kinder für die Gesellschaft: „Durch Kleinkinderschulen können wir nun zwar die Armut, sofern sie in der Überbevölkerung und der Arbeitslosigkeit ihren Grund findet, direkt nicht entgegenwirken. Aber der Rohheit, dem Leichtsinn, der Unmenschlichkeit, den Lastern und Verbrechen können wir entgegenwirken – und zwar durch ein einziges Mittel: durch eine bessere Erziehung von unten auf“ (Fölsing 1846, zit. n. Aden-Grossmann 2002, S. 27).

Seit 1840 erfährt die Kinderbetreuung eine bis heute wirkende Neuerung durch die Etablierung der Fröbelschen Kindergartenbewegung. Von Anfang an verstand Fröbel den Kindergarten als frühkindlichen Bildungsort, der eine Vorbereitung zur Schule bilden sollte. Im Mittelpunkt seiner Pädagogik stand die kindliche Selbsttätigkeit, die er durch das Spiel anregen und fördern wollte. Seine Vorstellungen hatten jedoch zunächst kaum Auswirkungen auf die Kinderbetreuung der Fabrikarbeiterinnen, lediglich in bürgerlichen Kreisen wurde seine Pädagogik adaptiert. Dies auch deshalb, weil Fröbel sein pädagogisches Konzept nicht kompensatorisch, als sozialen Notbehelf dachte, sondern als Ergänzung und Unterstützung der familialen, insbesondere mütterlichen Erziehung und damit ein pädagogisch interessiertes bürgerliches Publikum ansprach (Beinzger und Diehm 2003, S. 10–11). Erst zögerlich und unvollständig beeinflusste die Fröbelsche Idee der frühkindlichen Förderung auch die Volkskindergärten (Klattenhoff 1987, S. 111).

Einen Vorstoß, den Kindergarten nicht allein als familienergänzenden Notbehelf zu konzipieren, sondern in einen Ort frühkindlicher Bildung zu überführen und gesetzlich zu verankern, machte die Reichsschulkonferenz der Weimarer Republik 1920. 1922 schrieb das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz den Kindergarten als Teil der Jugendhilfe und damit erneut als familienergänzend fest. Der Bildungsaspekt blieb damit außen vor. Der Kindergarten, so der Vorwurf, fokussierte wieder die ‚unteren Schichten‘ als „Auslese besonders benachteiligter Kinder zu einer Straf- und Armeleuteanstalt“, so ein SPD-Abgeordneter (Reichsministerium des Inneren 1921, S. 946, zit. n. Aden-Grossmann 2002, S. 62).

Die öffentliche Kleinkindererziehung war also weiterhin geprägt von „der Polarität einer sozialpädagogisch sich verstehenden Nothilfe auf der einen Seite und dem Verständnis einer allgemeinen Bildungsanstalt auf der anderen Seite. Diese Konkurrenz in der Zielsetzung sollte noch lange virulent bleiben“ (Kindergartenmuseum Nordrhein-Westfalen 2023).

Die Vorstellung als Notbehelf dysfunktionaler und in der Diktion des totalitären Staates sogenannter ‚asozialer Familien‘ hat im Nationalsozialismus zwar immer noch Gültigkeit, darüber hinaus wurde aber zunehmend der Wert einer außerfamilialen Erziehung als paramilitärische Ausbildung erkannt. Auch die nach der Weltwirtschaftskrise sowie im Zuge der Kriegsvorbereitungen verstärkte Berufstätigkeit von Müttern beförderte die Unterbringung von auch kleinen Kindern in Kindergärten. Dabei stand nicht mehr die Kompensation von Mängeln der familialen Erziehung im Vordergrund, sondern eine Entlastung der arbeitenden Mütter von erzieherischen Aufgaben, die dann im Sinne einer Ideologie von Gefolgschaft und bewusster Unterordnung sowie strikter geschlechtsspezifischer Rollenerziehung von den Einrichtungen selbst übernommen wurden. (Aden-Grossmann 2002, S. 109).

In den 1950er und 1960er-Jahren stand der Kindergartenbesuch wieder verstärkt für das Fehlen einer mütterlichen Erziehung und Betreuung. Eine berufstätige Mutter vermittelte hier in Anknüpfung an bürgerliche Vorstellungen des 19. Jahrhunderts den Eindruck, es handele sich um arme Leute, bei denen die Frau mitarbeiten muss. Die Ideologie, die für die Frau nur ein Dasein als Hausfrau vorsah, wirkte auch weiterhin, sodass der institutionalisierten Betreuung kleiner Kinder immer noch das Stigma des Notbehelfs anhaftete. Lediglich als Vorbereitung auf die Anforderungen der Schule an Disziplin und Feinmotorik wurde der Kindergarten allgemein akzeptiert.

Der von Georg Picht (1964) geprägte Begriff des „Bildungsnotstands“ galt sodann als Initial der sogenannten Bildungsoffensive der 1970er-Jahre. Picht prognostizierte Nachteile Deutschlands im internationalen Wettbewerb und, ähnlich wie Ralf Dahrendorf mit seinem Buch „Bildung ist Bürgerrecht“ von 1965, eine Gefährdung der Demokratie (Dahrendorf 1965). Aus dieser Debatte ging in den 1970er-Jahren die Einführung von Gesamtschulen in Schulversuchen hervor. Der Gedanke der Chancengleichheit stand hier bereits Pate, da man schon damals erkannt hatte, dass ein dreigliedriges Schulsystem die Weichen für einen weiteren Lebensweg viel zu früh stellen und Kinder aus Arbeiterfamilien benachteiligt.

Auch die in den 1968er-Jahren in Großstädten wie Frankfurt, Berlin oder Stuttgart entstandenen antiautoritären Kinderläden veränderten die Bildungslandschaft. Es waren Orte, an denen Kinder von klein auf demokratisches Denken, soziales Handeln, Autonomie und Diskursfähigkeit erlernen sollten. Die Kinderläden wurden von selbstverwalteten Elterninitiativen getragen und rekrutierten sich aus einem urbanen, akademisch-studentischen Milieu. Dabei verstand sich die Kinderladenbewegung sowohl als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Protestbewegung gegen die bestehenden Verhältnisse und als Gegenentwurf zu den immer noch sehr traditionellen Erziehungsmethoden kommunaler und kirchlicher Einrichtungen. Kinder sollten zu freien, selbstbestimmten Menschen ohne Autoritätsgläubigkeit erzogen werden. Die zentrale Intention jedoch war die bewusste Abkehr vom bürgerlichen Ideal der Kleinfamilie mit ihrer rigiden Rollenaufteilung und der alleinigen Zuständigkeit der Mütter für die Betreuung und Erziehung von Kindern. (Aden-Grossmann 2002, S. 133).

Obwohl alles ‚Bürgerliche‘ verworfen wurde, war die Kinderladenbewegung eine bürgerlich-akademische Veranstaltung: Die ‚Erziehung zum Ungehorsam‘, wie es hieß, vertraute – wenig machtreflexiv – darauf, dass Kinder ihre Belange selbst regulieren könnten und letztlich vernünftig und sozial handeln würden bzw. in der Lage wären, Kompromisse auszuhandeln. Es wurde jedoch ignoriert, dass die Ausgangspositionen von Kindern aus weniger privilegierten Familien andere waren, als die von gut situierten Akademiker_innenkindern. Fragen der materiellen wie sozialen und zeitlichen Ressourcen waren nicht mitbedacht worden, weshalb der Versuch, die Kinderläden für Kinder aus Arbeiter_innenfamilien zu öffnen, letztendlich scheiterte. So gesehen hat die 68er Kinderladenbewegung kaum Klassenbewusstsein für die eigenen strukturellen Bedingungen entwickelt.

Die in den 2000er Jahren vorangetriebenen Initiativen, frühe Bildung in den Kitas zu verankern und über Bildungs- und Orientierungspläne zu institutionalisieren, waren Bemühungen, Benachteiligung durch Kinderarmut zu kompensieren beziehungsweise zumindest die Chancen auf einen weiteren erfogreichen Bildungsweg zu erhöhen.

Fragen nach den Auswirkungen von Kinderarmut auf die Routinen des Kindergartens und Möglichkeiten eines Umgangs damit scheinen jedoch bis heute noch eher auf der individuellen Ebene verhandelt zu werden. Erzieher_innen sind gezwungen, situative Lösungen zu finden, um Kinder vor armutsbedingten Ausgrenzungen verschiedener Ausprägungen zu schützen. Eine systematisch verankerte Organisationsethik würde der Organisation und den in ihr Handelnden einen Rahmen bieten, in dem ein reflexiver unabgeschlossener Diskurs vorangetrieben werden kann. Insgesamt zeigt die Rekonstruktion der Geschichte der Kindergärten die Vermeidung von Armut als ein Kompensieren und Reparieren ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse, bis hin zur Formel ‚Bildung ändert alles‘, die als Reaktion auf den sogenannten „Pisa-Schock“ in aller Munde war. In der Geschichte lässt sich eine Dichotomie von Aufbewahrung und Bildung nachweisen. Dabei werden normative soziale Konstruktionen der ‚guten Mutter‘ und damit auch der ‚gescheiterten Mutter‘ reproduziert. Folgende Stimmen aus dem Handlungsfeld stützen den Vorschlag, Armut über das pädagogische Handeln Einzelner hinaus zum Thema zu machen.

Aktuelle Stimmen aus dem Handlungsfeld

Die rekonstruktive Auswertung von Auszügen einer Gruppendiskussion mit Fachkräften eines Familienzentrums, die im Kontext einer wissenschaftlichen Studie an der HS Esslingen entstanden ist, werfen Schlaglichter auf ein individualisiertes Verständnis von Armut, dass das Handeln der Fachkräfte beeinflusst (vgl. hierzu Kerle et al. 2019). Anregungen für Überlegungen zur Organisationsethik können beispielhaft ausgewählte Auszüge aus dem Interviewprotokoll liefern.

Ein Hinweis darauf, dass die Ausgrenzung und die damit einhergehende Beschämung sozioökonomisch schlechter gestellter Kinder und derer Eltern in vielen Kita-Konzepten bereits verankert ist, findet sich beispielsweise in folgendem Zitat einer Fachkraft: „Wir verlangen von den Eltern nicht zu viel Zusatzleistungen. […] in meiner alten Einrichtung gab es Kopiergeld […] ich glaube vierzig Euro im Jahr (.) dann Ausflüge einmal im Monat mussten auf jeden Fall von den Eltern bezahlt werden, war aber konzeptionell festgeschrieben, dass man einmal im Monat einen Ausflug macht und dann haben da schon immer die gleichen Kinder gefehlt das ganze Jahr über (.) ja immer am Ausflugstag (.) oder man ist diesem Geld ewig hinterher gerannt, wenn wir halt dann Spiel- und Materialgeld einsammeln mussten (.) oder Vorschultüten basteln und dann verlangt man halt pro (.) Schultüte zehn Euro ähm (.) ich glaube da fällt es eher auf und da kommen diese Kinder glaube ich schon nachher in die Bredouille, weil die haben dann halt nicht pünktlich eine Schultüte und da ist dann immer noch nichts bezahlt.“

In diesem Narrativ wird deutlich, wie Fachkräfte alleine gelassen und selbst individualisiert adressiert werden. Um ihre pädagogischen Projekte durchzuführen, sind sie gezwungen, die fehlenden Gelder von den Eltern bzw. den Kindern einzutreiben. Damit wird nicht zuletzt Beschämung konzeptionell verankert. Es ist augenfällig, dass ein Kindergartenkonzept ohne finanzielle Zusatzleistungen hier Abhilfe schaffen würde.

Auch bei der Bewerbung um einen Kitaplatz zeigt sich, dass ärmere Familien auf den guten Willen und die Zugeständnisse der Einrichtung angewiesen sind: „Also vereinzelte Familien sagen (…) dann auch ich hätte gerne den Platz, aber ich kann ihn mir nicht leisten, so nach dem Motto: was können wir denn machen, also weil viele halt hoffen, dass wir dann einen Rabatt geben können.“

In eine ähnliche Richtung weist die zwar gut gemeinte, aber letztlich willkürliche Gabe in Notfällen. Wie folgende Textpassage zeigt, finden in diesem Beispiel Hilfeleistungen individualisiert durch ungeregelte Almosen statt: „Also teilweise hat uns unser Chef Geld in die Hand gedrückt und hat gesagt, stattet die aus.“ Die Finanzierungen sind prekär und unsicher und auf die Hilfsbereitschaft und Möglichkeiten von privaten Initiativen verwiesen.

Angesichts der Tatsache, dass die ungleiche Verteilung der Bildungs- und Lebenschancen von Kindern ein historisch gewachsenes und bisher nicht zu beseitigendes Phänomen bleibt, scheinen die Mittel zu ihrer Behebung bisher nicht ausreichend zu sein. Der bevorzugte Blick auf die individuelle Weiterqualifizierung der kindheits- und sozialpädagogischen Fachkräfte verlagert die Verantwortung weg von den institutionellen und organisationalen Strukturen hin auf die individuelle Verantwortung von Fachpersonal, die mit weiter verfeinerten sensiblen Haltungen und akribischer Dokumentation der individuellen Entwicklungsschritte der einzelnen Kinder Bildungsfähigkeit befördern und diffuse Fähigkeiten wie Resilienz hervorbringen sollen. Es ist sicher nicht falsch, Fachpersonal weiter und besser zu qualifizieren, aber es darf nicht als alleinige Möglichkeit gesehen werden. Die Behebung des Problems der ungleichen Lebenschancen überlastet die Verantwortlichkeit des Fachpersonals und individualisiert die Erscheinungsformen von Armut auf der Ebene der Eltern und Kinder sowie auf der Ebene der Fachkräfte.

Strukturell verankerte ethische Grundsätze würden das Fachpersonal davon entlasten, Entscheidungen über Ein- oder Ausgrenzung von Kindern und Eltern treffen zu müssen und immer wieder Auswege suchen zu müssen, die eine weitere Selektion und letztlich auch Willkür Vorschub leisten (müssen), denn nicht alle der von Armut betroffenen Kinder (immerhin 20,8 % aller Kinder, vgl. Funcke und Menne 2023, S. 3) werden in den (fragwürdigen) Genuss einer punktuellen Unterstützung kommen können. Dazu wäre ein analytischer Blick der Institutionen Kindergarten und besonders auch Schule auf die seit zwei Jahrhunderten mehr oder weniger offensichtlichen Strukturen und deren Funktionen notwendig. Probleme ins Individuelle zu delegieren, bedeutet für die Institutionen sich nicht verändern zu müssen. In dieser Analyse ist die Frage zu beantworten, wie das Zusammendenken der Bildungsfrage und Sozialen Frage im Sinne von Befähigungsgerechtigkeit und Demokratie gefördert werden kann. Ebenso ist die Frage offen, wie Formen von Individualisierung der Familien so strukturell in den Blick genommen werden können, dass die sozialen Probleme nicht auf die familialen Konstellationen subjektiviert werden. Und schließlich: Welche ethisch-normativen Orientierungen wären dafür weiterführend?

Rechtfertigung und Verletzlichkeit als Grundlagen von Gerechtigkeit

Gerechte Institutionen und Organisationen brauchen grundlegend Diskurse über inklusive, faire Solidaritätsstrukturen. Dazu bedarf es Strukturbedingungen in den Organisationen, welche den Akteur_innen vermitteln, dass sie bedeutsam sind, dass auf sie gezählt wird (Forst 2019, S. 17). Strukturelle Bedeutsamkeit wird durch eine „Refeudalisierung der Gesellschaft“, in der auch Bildungschancen unterschiedlich verteilt sind, in Frage gestellt (Forst 2005). Grundsätzlich ist Gerechtigkeit für Forst das Grundprinzip ethischen und politischen Zusammenhalts, und zwar nicht nur aus der Perspektive der Empfänger_innen durch die barmherzige Gewährung von Grundgütern. Die Frage ist vielmehr, welche Ungleichheiten und welche Gerechtigkeitsvorstellungen gegenüber den Akteur_innen (nicht) rechtfertigbar sind. Dabei ist Gerechtigkeit unteilbar und Institutionen und somit auch Organisationen müss(t)en gegenüber den am schlechtesten gestellten Personen oder familiären Kontexten rechtfertigbar sein, um keine Strukturen der Willkür zu etablieren (Forst 2019, S. 19). Dazu gehört auch, dass allen Akteur_innen der Kita Rechte (Menschenrechte, Kinderrechte) zugesprochen werden. Institutionen, in denen es um Bildung geht, zeigen jedoch, „wie sich soziale Asymmetrien und Privilegiensysteme in den Erziehungssystemen strukturell reproduzieren“ (ebd., S. 20). Demokratische Institutionen grenzen hingegen nicht aus, sondern sie ringen um Teilhabe und Teilnahme- sowie Teilgabemöglichkeiten durch „fundamentale Inklusionsbedingungen“ (ebd., S. 21) und stellen „diskursive“ Macht als „Rechtfertigungsmacht“ zur Verfügung (Forst 2005). So kommt Forst zu der Einlassung, „dass die erste Frage der Gerechtigkeit die Frage nach Macht“ sei (ebd.).

Für eine Organisationsethik für Kitas würde das bedeuten, dass die Bildungs- und Betreuungsangebote „den am schlechtesten Gestellten [am meisten] zugute kommt“ (ebd.).

Hier müsste auch über eine „bedingungslose Kita“ (Schrödter 2020, S. 71) nachgedacht werden, wie sie Schrödter fordert, welche zumindest keine weiteren Kosten für ihre Angebote erhebt. Wenn die Selbstbestimmungsmöglichkeiten und Entwicklungschancen nicht verwirklicht werden können und von Institutionen und Organisationen Adressierte nicht als „Subjekte der Gerechtigkeit gelten“ (Forst 2005), sondern objektiviert (zu) werden (drohen), braucht es aktive Institutionen (Kitas und Hochschulen gemeinsam) als politische Akteur_innen, welche diese Ungerechtigkeiten und Exklusionen formulieren und für Veränderungen im politischen Diskurs werben (Forst 2019, S. 23).

Gleichzeitig – und diese Perspektive wird bei diskursethisch inspirierten Lesarten nur implizit verhandelt – braucht es ein Vergewissern über den Zusammenhang von „Verletzlichkeit und sozialer Gerechtigkeit“ (Rüb 2017). Friedbert W. Rüb (2017, S. 647) sieht in der Verletzlichkeit der Menschen, die sich in den sozialen Risiken aktueller gesellschaftlicher Verfasstheit zeigen, die prinzipielle Begründung des Wohlfahrtsstaates (ebd.). Gruppenbezogene und individuelle (soziale) Verletzlichkeiten werden größer und die Risiken werden in die Subjekte individualisiert hineinverlagert. Diese gestiegenen Verletzlichkeiten führen auf Ebene wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Organisationen nur unzureichend zu Reaktionen (ebd., S. 648). Und letztendlich sind auch Institutionen und Organisationen verletzliche Orte (z. B. Beschneidung von Ressourcen, Reichweiten), die gleichwohl selbst Verletzungen (z. B. Stigmatisierungen) erzeugen können. Rüb resümiert, dass aus der Konzeption menschlicher Verletzlichkeit das ‚autonom‘ entworfene, daher auch rechtfertigungsfähige Subjekt im Sinne Forsts herausgefordert ist. Im Konzept der Verletzlichkeiten wird vielmehr davon ausgegangen, „dass es (extrem) asymmetrische, personalistische und soziale Beziehungssituationen gibt, in denen eine Seite durch die Entscheidungen der anderen strukturell geschädigt und verletzt werden kann. Dazu gehören auch Fragen von problematischen Arbeitsbedingungen von Kitapersonal genauso wie Kindern Bildung vorzuenthalten“ (ebd., S. 652). Weiterführend wäre es jetzt für eine Organisationsethik in sozialpädagogischen Handlungsfeldern, Rechtfertigung (und somit Partizipation und Bildung im Sinne der Koproduktion) und Verletzlichkeit (und somit Betreuung, Sorge und Verantwortung füreinander) zusammenzudenken, ohne dabei in eine einseitige Bildungseuphorie (Bildung ändert alles) oder einseitige paternalistische Stellvertretung (z. B. Beschämung durch barmherzige Gratifikationen) abzugleiten. Beide Positionen eint, dass sie machtreflexiv und inklusiv entworfen sein müssen. Es geht darum, wie die Balance herzustellen ist, zwischen einer am Individuum orientierten Bildung als Ermächtigung und einem verantwortungsvollen sorgenden Blick ohne Stigmatisierung.