Die Schule gilt als etablierte und notwendige Bildungsinstanz für Kinder ab sechs Jahren. Denn der verpflichtende Schulbesuch steht erst einmal für die Sicherstellung sozialer Teilhabe und Demokratiebildung als notwendige Voraussetzung moderner Gesellschaften. Besuchten Kinder und Jugendliche die Schule nicht, sind schwere Folgen erwartbar, mit „hohe[n] ökonomische(n), personelle(n) und individuelle(n) Kosten“ (Dunkake 2009, S. 23).

Innerhalb von stärker schulskeptischen bis schulkritischen Positionen wird demgegenüber Schule bzw. zuvorderst die Schulpflicht als Problem für ein Entfalten von Bildungsprozessen und auch von Arbeitsbündnissen aus Kindern und Jugendlichen und Lehrer_innen identifiziert (vgl. z. B. Oevermann 1996). Mit Tim Böder (2022 und in diesem Schwerpunkt) lässt sich hier auch von einem gesellschaftlich etablierten „Beschulungsnormativ“ sprechen, das verschiedentlich zum Ausdruck kommt. So wird ein Verstoß gegen die Schulpflicht, die in Deutschland an die Präsenz in Schule gebunden ist, somit zur Ordnungswidrigkeit, die entsprechend sanktioniert wird (z. B. mit einem Bußgeld). Kommen Kinder und Jugendliche dieser Anwesenheitspflicht im Kontext Schule nicht nach, gelten sie als schulabsent.

Im wissenschaftlichen Diskurs ist Schulabsentismus vor allem Gegenstand der Schulforschung. In der Fachdebatte werden verschiedene Begriffe für das Phänomen benutzt. Neben „Schulabsentismus“ als Begriff, der vielfach inhaltlich als „Klammer“ verhandelt wird, werden auch „Schulvermeidung“, „Schuldistanzierung“ etc. verwendet (z. B. Ricking und Speck 2018; Seeliger 2015; Icking 2019). Dabei wird das Verhalten von Schüler_innen und ihren Eltern häufig als abweichend vom den herrschenden Normalitätserwartungen und deviant kategorisiert (vgl. Bollweg in diesem Schwerpunkt, Dunkake 2009).

In der Kinder- und Jugendhilfe ist Schulabsentismus ganz praktisch vor allem Gegenstand von Schulsozialarbeit. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung aus sozialpädagogischer Perspektive ist bislang nur spärlich vorzufinden. Im weiteren Kontext der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Forschung hierzu spielt diese Perspektive nur eine marginale Rolle (vgl. Bollweg 2020).

Unser Schwerpunkt wird die Lücke in der sozialpädagogischen Forschung nicht schließen können, gleichwohl gibt der Beitrag von Petra Bollweg einen Überblick über die derzeitige Forschung und markiert, an welchen Stellen sich weitere Fragen auftun, die auch aus einer sozialpädagogischen Perspektive gestellt werden sollten. Kritisch beleuchtet wird dabei die Positionierung der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf den institutionellen Umgang mit Kindern, die die Schule aus unterschiedlichsten Gründen nicht oder nur selten besuchen.

Kritiker_innen problematisieren den vielfach vorherrschenden individualisierenden und in dieser Perspektive „verengten“ Blick, der sich mit „Schulabsentismus“ häufig verbindet und dann auch nicht selten reproduziert wird. Die Vielschichtigkeit des Phänomens wird sofern bislang oftmals nicht differenziert genug gefasst. Mit der Perspektive Schulabsentismus verbindet sich eine häufig unreflektierte Annahme eines durch überdurchschnittlich hohe „unentschuldigte Fehlzeiten“ im Unterricht nicht anwesenden Kindes oder Jugendlichen, das/der ein „problematisches Verhalten“ zeige, welches individuell zu bearbeiten sei und dies vor allem auch im Sinne einer Wiederherstellung der „Passung“ zur Schule. Die zu problematisierenden Strukturen eines Bildungswesens, in dem soziale Ausschlüsse strukturell (re)produziert werden, blieben bislang vielfach unberücksichtigt (Weckel und Grams 2017; Bernhard 2017). Auch deutet grundsätzlich einiges darauf hin, dass sich bei näherer Betrachtung des Phänomens eine klassentheoretisch zu deutende Schieflage herausarbeiten lässt. Schulabsentismus scheint sich auf ein Fernbleiben von Kindern und Jugendlichen zu beziehen, deren soziale Teilhabe an Bildung strukturell eingeschränkt ist. Diese strukturell begründeten Schließungen kommen jedoch bisher zu wenig in den Blick. Vielmehr werden häufig die bereits benannten individualisierenden sowie kulturalisierenden Zuschreibungen aufgerufen, die (vermeintlich) ein Abwenden von Schule begründen könnten.

An diese verschiedenen Kritikpunkte einer gegenwärtigen Forschung zum Schulabsentismus schließt dieser Schwerpunkt an und greift Perspektiven auf, in denen eben nicht das individuelle Versagen der Schüler_innen und ihrer Eltern grundgelegt wird. Stattdessen wird gerade auch die strukturelle Ebene der Schule, der rechtliche Rahmen des Bildungssystems, die personellen Ressourcen sowie die Frage nach dem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital, das den betreffenden Kindern und Jugendlichen bzw. ihren Eltern zur Verfügung steht, in den Vordergrund rückt.

Die mit Schulabsentismus einhergehenden Herausforderungen für die Fachpraxis zeigt hier exemplarisch das Interview von Helmuth Schweitzer mit zwei Mitgliedern der Schulleitung zweier im „Bildungsfairbunt Marxloh“ zusammenarbeitenden Schulen (www.bildungsfairbunt-marxloh.de) in diesem von extremer sozialer Exklusion geprägten Stadtteil in Duisburg. Die hohe Zahl an schulabsenten Kindern und Jugendlichen (bis zu einem Drittel) steht für die Lehrkräfte in engem Zusammenhang mit den Erfahrungen der Eltern im Bildungssystem in ihrem Herkunftsland. Hier werden Passungsverhältnisse zwischen dem System Schule und der Perspektive sowie den Ressourcen von einigen Eltern infrage gestellt. Besonders betont wird, dass eine Schule, die Kinder und Jugendliche dabei begleiten soll, zurück in die Schule zu kommen, dauerhaft zusätzliche Ressourcen braucht, um intensive professionelle Beziehungsarbeit zu leisten.

Daran anknüpfend zeigt der Beitrag von Helmuth Schweitzer aus einer inzwischen fünfjährigen Binnenperspektive im System einer Grundschule im gleichen Duisburger Stadtteil, welche massiven Kommunikationshürden zwischen dem machtvollen Erziehungssystem und den betroffenen marginalisierten Kindern von transnational agierenden, sozial und ethnisch diskriminierten Familien mit Migrationsgeschichte aus Bulgarien und Rumänien zu überwinden sind. Schweitzer stellt die verschiedenen Formen einer „Fehladressierung“ in der Kommunikation zwischen diesen Familien und der Schule dar. Er zeigt, dass selbst die außergewöhnlichen Inklusionsbemühungen des Schulpersonals an die Grenzen sozialer Ungleichheitsstrukturen und machtvoller Erziehungsinstitutionen (vgl. auch Hertel 2020 und in diesem Schwerpunkt) stoßen. Auch dieser Artikel verweist auf die strukturellen und personellen Voraussetzungen, die in der Praxis fehlen.

Ein Angebot, schulische Machtverhältnisse diskurstheoretisch in den Blick zu nehmen, bietet der Artikel von Thorsten Hertel. Er fragt darin mit einer machtanalytischen Perspektive nach der Rolle, die die Institution Schule selbst im Schulabsentismus spielt. Er plädiert sowohl für eine machtanalytische Schulabsentismusforschung als auch eine Praxis, die die Macht der Institution reflektiert und die Reaktion der Schüler_innen als ein Sich-Entziehen des Machtzugriffs liest.

An diese Lesart von Schulabsentismus schließt auch der Beitrag von Tim Böder an. Das Fernbleiben von Schule und damit die Verletzung von Schulpflicht als zu sanktionierende Praxis wird in jüngerer Zeit auch im Kontext einer in der Bundesrepublik neueren sozialen Bewegung diskutiert. Eltern, die das öffentliche Schulwesen ablehnen, finden sich im Kontext der „Freilerner_innen“. „Freilerner_innen“ gehen aus einer Kritik an Schule als öffentliche Institution auf Distanz und sehen vor, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Böder zeigt mit drei unterschiedlichen Strukturtypen, welche Begründungsmuster Eltern anführen, um Kinder nicht in die Schule zu schicken.

Insgesamt werden in diesem Schwerpunkt aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und professionellen Zugängen zum Phänomen „Schulabsentismus“ strukturelle Aspekte des Wissenschafts‑, Schul- und Bildungssystems fokussiert und daraus entsprechende Ansatzpunkte zu einer veränderten Praxis für Forschung und (Sozial‑)Pädagogik entwickelt. Alle Beiträge werfen explizit oder implizit die Frage auf, inwieweit Macht- und Gewaltverhältnisse dazu führen können, dass Heranwachsende bzw. ihre Eltern, entscheiden, dass sie nicht (mehr) zur Schule gehen (können). Mit diesem Fokus wird die derzeit vorherrschende Perspektive im Schulabsentismusdiskurs, die die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern in ihrer individuellen Verantwortung fokussiert, nochmals befragt. Ziel des Schwerpunktes ist es dabei keineswegs, eine Gegenposition zu einer öffentlich verantworteten Erziehung und Bildung in Schule einzunehmen. Vielmehr soll der Blick auf Schulabsentismus entlang verschiedener Positionen und gesellschaftlicher Zusammenhänge geweitet und Reflexionsmöglichkeiten im Umgang mit Schulabsentismus im Kontext von Schule und Kinder- und Jugendhilfe eröffnet werden.