Bei der „Freilernerbewegung“ handelt es sich um einen Zusammenschluss von vornehmlich Eltern und Jugendlichen, die sich gegen die Zwangsförmigkeit der gesetzlich verankerten Schulpflicht organisieren. Dieses Opponieren gegen die Präsenzbeschulungspflicht wird auch unter dem Begriff der Entschulungspraxis diskutiert. Elterliche Begründungen einer familialen Entschulungspraxis kommen bislang kaum forscherisch in den Blick. Dabei erweist sich eine differenzierte Auseinandersetzung mit den elterlichen Perspektiven und deren strukturellen Hervorbringung als weiterführend für eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit dem Phänomen des sogenannten „Schulabsentismus“.

Die sogenannte „Freilernerbewegung“ hat seit den 2000er Jahren in Deutschland erkennbar an Zulauf gewonnen (vgl. Spiegler 2008; Böder 2022). Mit ihren vielfältigen Netzwerken stellt die Bewegung Vergemeinschaftungsangebote für vor allem Eltern und Jugendliche bereit, die gegen die Beschulungsnorm opponieren und sich gegen die Beschulungspraxis entscheiden. Indem von einem Teil dieser Familien auch beschulungsalternative Handlungsentwürfe in die Umsetzung gebracht werden, lässt sich diese Praxis auch als Phänomen einer familialen Entschulung fassen.

Daran anknüpfend verschreiben sich die Beteiligten, die sich in der „Freilernerbewegung“ organisieren, einem eigens diagnostizierten Unrecht. Denn in ihrer Perspektive wird das reklamierte Individualrecht junger Menschen auf selbstbestimmte Bildung durch die gesetzliche Präsenzbeschulungspflicht konterkariert, weshalb ihre Abschaffung eingefordert wird. Dieser Unrechtseindruck wird dadurch bestärkt, dass schulersetzende Bildungszeiträume in weiten Teilen der Europäischen Union bildungspolitisch anerkannt oder aber zumindest geduldet werden (vgl. Blok et al. 2017). Ob allerdings an die Stelle der gesetzlichen Präsenzbeschulungspflicht eine für flexibilisierte pädagogische Zeiträume offenere Bildungspflicht treten oder aber der Staat auf sein Wächteramt sogar gänzlich verzichten solle, darin verläuft eine der zentralen Deutungsdivergenzen in der „Freilernerbewegung“.

Von den teils öffentlich zugänglichen Argumenten, wie sie in der Diskussion um die Angemessenheit der gesetzlichen Schulpflicht von Mitgliedern der „Freilernerbewegung“ getätigt werden, sind in analytischer Perspektive die akteursbezogenen Begründungen der Eltern zu unterscheiden. Letztere standen im Fokus der explorativen Studie „Entschulung als Tabuüberschreitung. Eine rekonstruktive Studie zu Begründungen familialer Entschulungspraxis“ (Böder 2022). Im Anschluss an Beobachtungen im Feld der „Freilernerbewegung“ wurden mit einem offenen Erzählimpuls narrative Elterninterviews erhoben, in denen nach der Genese der familialen Entschulungsbiographie gefragt und die im Anschluss textrekonstruktiv ausgewertet wurden.

Beschulungsnormativ und Entschulungstabu

Die normative Aufladung um die Legitimität der Entschulungspraxis der Freilernerbewegung wurde im Zuge der Studie in ein Forschungsdesign überführt, mit dem kulturelle Normen und hoheitsstaatliche Vorgaben als soziale Machtkomplexe in reflexive Distanz gebracht und selbst zum Ausgangspunkt für eine wissenschaftliche Analyse gemacht werden (vgl. ebd., S. 11ff.). Hierbei wird die Strukturkategorie des „Beschulungsnormativs“ (ebd., S. 13) zu einem zentralen Bezugspunkt. Gefasst wird darüber die Absolutsetzung der Beschulung als einzige, normativ angemessene Handlungsoption für die pädagogische Realisierung von Erziehungs‑, Lern- und Bildungszeiträumen in Kindheit und Jugend. Eine „echte“ Entscheidungssituation für Eltern und Heranwachsende und damit die Verwirklichung lebenspraktischer Autonomie ist im Beschulungsnormativ somit nicht möglich. Denn die Spielräume, wie Bildungsbiographien von Kindern und Jugendlichen raumzeitlich verwirklicht werden können, sind im Beschulungsnormativ immer schon auf die Beschulungspraxis als einzige, normativ angemessene Option enggeführt. Um den Verbindlichkeitsgrad seiner Durchsetzung zu erhöhen, wird im Pendant zum Beschulungsnormativ ein starkes Entschulungstabu wichtig. Dieses zeigt sich etwa dort, wo in fachwissenschaftlichen, bildungspolitischen oder juristischen Debatten grundsätzliche Legitimationsanfragen zum Beschulungsmodell mit einem indirekten oder direkten Verweis auf die „Unantastbarkeit“ der Schule als gesellschaftlich alternativloser Institution beantwortet werden. Einen weiteren zentralen Ausdruck findet das Entschulungstabu in der gesetzlichen Schulpflicht. Mit dieser werden an die Überschreitung des Entschulungstabus familien- und strafrechtliche Sanktionsmöglichkeiten geknüpft. Diese und noch zusätzlich vielfältige soziale Ausschlussmechanismen und Stigmatisierungserfahrungen müssen von den Beteiligten im Zuge einer familialen Entschulungspraxis in Kauf genommen werden. Die familiale Entschulungspraxis, d. h. die Entscheidung für eine im Beschulungsnormativ nicht legitimierte Lebenspraxis, entspricht dann einer Tabuüberschreitung, die zwar in letzter Konsequenz nicht verhindert, aber vorweggreifend immer schon als normativ hochproblematischer Ausnahmefall bewertet wird. Das Beschulungsnormativ erfährt in diesem Modus seine sich fortschreibende Absicherung (vgl. hier auch Böder 2022).

Elterliche Begründungen familialer Entschulungspraxis

Wie gelingt es den Eltern, dennoch eine sinnstiftende Begründung für die Entschulungspraxis vorzunehmen, mit der die Legitimationsproblematik für sie zumindest handhabbar wird? Eltern aus der „Freilernerbewegung“ entwickeln Begründungen ihrer familialen Entschulungspraxis, die in dieser Studie entlang von Typen gefasst wurden und im Folgenden kursorisch skizziert werden sollen (vgl. zusammenfassend Böder 2022, S. 137ff.).

Für den ersten Typus, für den die Sequenz: „das ist nicht mehr mein Kind“ (ebd., S. 50) fallcharakteristisch ist, wurde als übergreifende Fallstruktur die Verteidigung des elterlichen Hoheitsanspruchs über die Bildungszeiträume des Kindes rekonstruiert. Diese Fallstruktur konkretisiert sich in einer gesteigerten Anspruchshaltung bei der elterlichen Verantwortungsübernahme gegenüber dem Kind. Es wird als Aufgabe der Eltern gesehen, die Kinder zur Autonomiefähigkeit zu erziehen und darüber zu bestimmen, welche Norm- und Wertbezüge über das pädagogische Handeln vermittelt werden. Davon ausgehend tritt als beschulungsbezogenes Krisenszenario das Gegeneinandertreten rivalisierender Hoheitsansprüche über das Kind hervor. In der Regel manifestiert sich in diesem Typus eine krisenbehaftete familiale Schulbiographie, in deren Verlauf sich ein Machtkampf um die Deutungshoheit über das Kind zwischen Eltern und Lehrer_innen zuspitzt. Gemeinsam ist diesen Eltern bei der Begründung der Entschulungsentscheidung, dass sie das Bild von Schule als einer Rivalin zeichnen. Die Schule unterminiert den elterlichen Selbstentwurf und das darin liegende Sorgeprimat aufgrund schulisch durchgesetzter Hoheitsansprüche gegenüber dem Kind, was auch als symbolischer Kindesverlust erlebt werden kann. Die Entschulungspraxis geht dann im Lösungsentwurf eines romantischen Bildungsmoratoriums sowie der Verheißung auf, dass durch die Entpflichtung von leistungsbezogenen Normen der Erwachsenengesellschaft das Ideal einer authentischen Selbstbestimmung des Kindes in die Erreichbarkeit rücke.

Die Sequenz: „diese pionierarbeit wo man einfach leisten muss“ (ebd., S. 86) ist für den zweiten Typus sinnbildlich. Er zeichnet sich zentral durch einen Kompetenzüberlegenheitsanspruch aus. Im Unterschied zur ersten ist diese Fallstruktur von einer ambitionierten pädagogischen Vermittlungsabsicht geprägt. Als Krisenlösungsprojekt wird die Entschulungspraxis zum avantgardistischen Modellprojekt erhoben, durch dessen erfolgreiche Umsetzung eine kompetentere Pädagogik und moralisch fortschrittlichere Kultur gestiftet werden soll. Die Schule wird zum einen als pädagogisch unterlegene Institution entworfen. Zum anderen werden in der entworfenen Handlungspraxis mit dem Kind schulisch normierte Wissensbestände und Fähigkeiten verbürgend durch die Eltern aufgegriffen und damit unter der Hand die Legitimationsproblematik der Entschulungspraxis vorauseilend entschärft. Hieran schließt auch der elterliche Idealentwurf über den Werdensprozess des Kindes an. So sollen die im Kind bereits angenommenen Potenziale bestmöglich zur Entfaltung gebracht werden, womit es sich um einen Idealentwurf handelt, der weit über die „Freilernerbewegung“ hinaus Anerkennung findet.

Der dritte Typus findet seinen prägnanten Ausdruck in der Sequenz: „ich konnte das nicht“ (ebd., S. 111) und ist von der Fallstruktur des Entkommens von der Begründungslast der Selbstsorge gekennzeichnet. Als Initial der Freilerner_innenbiographie wird auch hier die elterliche Biographie ausgewiesen. Im Unterschied zum zweiten Typus handelt es sich in diesem dritten Typus jedoch um eine biographisch begründete Selbstkrise. Diese soll durch die Gefolgschaft zum Freilernen überwunden werden. So wird die Entschulungspraxis des Kindes von den Eltern als Einfallstor für sozialpathologisierende Zuschreibungen von pädagogisch Professionellen entworfen, mit denen ihnen ihre moralische Zurechnungsfähigkeit abgesprochen wird. Die Beschulung des Kindes wird derart zur Bedrohung für die biografische Integritätsarbeit der Eltern. Aus dieser (Selbst‑)Sorge heraus wird ein Arbeitsbündnis zwischen Schule und Eltern abgewehrt und die familiale Entschulungspraxis wird mit der Verheißung auf eine eigenaktive Selbstsozialisation des Kindes begründet.

Familiale Entschulungspraxis als Lösungsprojekt für strukturelle Krisen zwischen Eltern, Kind und Schule

Mit der Studie lässt sich zeigen, dass die Überschreitung des Entschulungstabus in unterschiedlicher Weise zum Lösungsprojekt für Krisenmomente im pädagogischen Arbeitsbündnis zwischen Eltern, Kind und Schule wird. Der Typus der Verteidigung des elterlichen Hoheitsanspruchs wird als Ausdruck einer fehlenden Passförmigkeit zwischen elterlichen Bildungsidealen und deren Umsetzung in der Schule greifbar. Mit Blick auf das pädagogische Arbeitsbündnis tritt das Krisenpotenzial der Machtasymmetrie zwischen Eltern und Schule hervor. Elterliche Partizipationsansprüche erfahren im Zuge dieser machtasymmetrischen Konstellation im institutionellen Kontext eine Zurückweisung. Zugleich entsteht für Familien aufgrund der schulischen Definitionsmacht ein hoher Anpassungsdruck. Für den zweiten Typus zeigt sich ein deutliches Krisenpotenzial des elterlich-schulischen Arbeitsbündnisses in der Absolutsetzung der Überlegenheit schulpädagogisch Professioneller durch die gesetzliche Schulpflicht. Denn im Beschulungsnormativ wird die pädagogische Kompetenzunterlegenheit von Eltern generalisierend festgeschrieben. Der dritte Typus ist aufgrund schüler_innen- und familienbiographisch zurückliegender Missachtungserfahrungen durch ein enormes generalisiertes Misstrauen gegenüber pädagogischen Regelsystemen gekennzeichnet. Mit Blick auf das elterlich-schulische Arbeitsbündnis evoziert dies die Frage, inwiefern sich Artikulationsräume für die Thematisierung elterlicher Selbstkrisen auch fernab von medizinisch-psychologisierenden Defizitdiagnosen und familienrechtlichen Sanktionen eröffnen lassen.

Bilanzierung

Die ausgewählten Befunde der qualitativen Studie machen deutlich, dass die Begründungen zur familialen Entschulungspraxis wesentlich diversifizierter sind als weithin angenommen (vgl. auch Jolly und Matthews 2020). Dieser differenziertere Blick auf Eltern, die in Opposition zum Beschulungsnormativ treten, leistet auch Impulse für die sogenannte Schulabsentismusforschung, die sich bislang nicht systematisch mit den eigenen normativen Prämissen auseinandersetzt. Nicht-intendierte Nebenfolgen schulisch organisierter Erziehungs‑, Lern- und Bildungsprozesse bleiben dabei ebenso entthematisiert, wie im Fokus auf die individuellen Dispositionen der Kinder, Jugendlichen und Eltern, die schulischen und gesellschaftlichen Dimensionen bei der Herstellung von Beschulungsopposition und Nonkonformität (vgl. dazu Böder und Hertel 2022) abgeblendet werden. Bisher bleibt die Schulabsentismusforschung somit im Beschulungsnormativ verhaftet und stabilisiert implizit das geltende Entschulungstabu.

Aus der hier vertretenen Perspektive heraus ist die Reproduktion sozialer Tabus in der Wissenschaft als Ausdrucksgestalt für eine tendenziell deprofessionalisierte Praxis zu problematisieren. Während also im bildungspolitischen Mainstream „alternative Wege der Vermittlung gesellschaftlicher Bildungsziele nicht denkbar sind“ (Preuß 2016, S. 358), kann sich der wissenschaftliche Diskurs auf eben jene Haltung nicht zurückziehen. Dann aber hat sich die Erziehungswissenschaft sowie die sie angrenzenden Bereiche fernab von ideologischen Prämissen mit der Frage neu zu befassen, ob und wie sich die monopolhafte Verortung von Erziehungs- und Bildungsprozessen am Schulort noch in der reklamierten Absolutheit angemessen begründen lässt.