Junge Menschen sind Grundrechtsträger_innen. Mit dieser Festlegung wird der normative Bezugspunkt der Kinder- und Jugendpolitik und auch der Kinder- und Jugendhilfe nicht zuerst in pädagogischen Programmen, dem sozialstaatlichen Angebot oder der Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfestrukturen gesehen, sondern mit der Rechtsstellung des jungen Menschen und der Verwirklichung ihrer Grundrechte und sozialen Rechte als Voraussetzung z. B. für die Kinder- und Jugendhilfe formuliert (vgl. Zukunftsforum Heimerziehung 2021, S. 18–22).

Ein solcher rechtebasierter Ansatz in der Kinder- und Jugendpolitik impliziert nicht nur, die Rechtsstellung junger Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe zu verbessern, sondern es soll insgesamt ihre Rechtssubjektivität gestärkt und ihre gleichberechtigte soziale Teilhabe diskriminierungsfrei verwirklicht werden. Dies meint, basierend auf supranationalen Konventionen – wie die UN-Kinderrechte-Konvention (UNKRK) oder die UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen (UNBRK), aber auch europäischer rechtlicher Regulationen zur Kindheit und Jugend – das institutionelle Gefüge des Aufwachsens inklusiv(er) zu gestalten sowie sozialen Benachteiligungen systematisch entgegenzuwirken und die Rechte von jungen Menschen im Alltag zu verwirklichen.

Vor diesem Hintergrund wird in den Diskussionen um die Reform der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) zu wenig berücksichtigt, dass Inklusion im Kindes- und Jugendalter nicht allein darüber erreicht wird, dass die Sozialsysteme „aus einer Hand“ gestaltet werden. Auch in der Debatte um die inklusive Öffnung von Bildungseinrichtungen kann mitunter der Eindruck gewonnen werden, als sei Inklusion dann verwirklicht, wenn alle junge Menschen gemeinsam Bildungseinrichtungen – wie z. B. Schulen – besuchen können. Dabei wird u. a. der Blick auf die Lebenslagen junger Menschen vernachlässigt. Das aktuelle politische Bestreben, eine Kinder- und Jugendgrundsicherung zu schaffen, kann hier ein Ansatzpunkt sein, dies zu ändern und auch die inklusive Perspektive weiter zu öffnen.

Leaving Care ist nicht nur eine Herausforderung der Kinder- und Jugendhilfe

Mit Blick auf die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland hat sich Kiaras Gharabaghi, ein Experte der internationalen Diskussionen um „child and youth welfare“, auf einer Fachtagung verwundert darüber geäußert, dass die Einrichtungen und die Fachöffentlichkeit der Erziehungshilfen z. T. den Eindruck vermittelten, die jungen Menschen würden ihnen in gewissen Hinsicht „gehören“ oder besser ausgedrückt, sie als Professionelle allein könnten ihnen eine bessere soziale Teilhabe ermöglichen. Gharabaghi wollte damit nicht die Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe und die Leistung ihrer Organisationen relativieren, sondern vielmehr darauf hinweisen, dass die Kinder- und Jugendhilfe nur im Zusammenspiel mit jungen Menschen selbst sowie mit anderen sozialpolitischen Partner_innen im institutionellen Gefüge des Aufwachsens die soziale Teilhabe der jungen Menschen diskriminierungsfreier ermöglichen kann.

Die Kinder- und Jugendhilfe habe sich, so könnte in Anlehnung an Stefan Köngeter (2009) weiter formuliert werden, auch als Teil des Problems in dieser Ermöglichung sozialer Teilhabe zu begreifen und nicht nur als Lösung. Denn z. B. die Heimerziehung ruft bis heute Stigmatisierungen hervor (Zukunftsforum 2021) und reflektiert nur bedingt die sozialen Folgen (Weinbach et al. 2017) und Benachteiligungen, die sie in den Lebensverläufen mit hervorbringt. Für die Kinder- und Jugendhilfe ist diese Perspektive von entscheidender Bedeutung, denn dies bedeutet, dass sie nicht nur eine rechtliche Regulation nach innen, also in Bezug auf die Leistungen des SGB VIII vorzunehmen hat. Vielmehr beeinflusst die Kinder- und Jugendhilfe durch ihre Maßnahmen die Lebensverläufe und die soziale Teilhabe junger Menschen erheblich, ohne dass sie für die nachhaltigen und langfristigen Folgen auch die Verantwortung übernimmt.

Historische Ambivalenz im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz

In der Diskussion um „Leaving Care“ ist in den letzten Jahren vielfach angemerkt worden, dass das 2021 verabschiedete Kinder- und Jugendstärkungsgesetz wesentliche rechtliche Verbesserungen mit sich gebracht habe und nicht zuletzt die Abschaffung der Kostenheranziehung im Jahr 2022 ein wichtiger sozialpolitischer Schritt dafür sei. Gleichzeitig bleibt eine Ambivalenz bestehen: Zwar wird das Fenster zu einer sozialen Teilhabeorientierung geöffnet, aber die bisherige individualisierende Defizitzuschreibung ist für die jungen Menschen nicht überwunden. In einigen Kommunen wird sogar eine diagnostizierte seelische Behinderung im Sinne des § 35a SGB VIII als eine Voraussetzung für eine Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) gesetzt, obwohl dies das alte und neue SGB VIII nicht vorsieht.

Doch auch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz hat 2021 nicht vollständig auf einen Defizitzugang verzichtet: In der Formulierung des § 41 SGB VIII hat der Gesetzgeber es nicht vermocht, den Schritt von einer eher kompensatorisch ausgerichteten Kinder- und Jugendhilfe hin zu einer Teilhabeorientierung konsequent genug zu gehen. Im § 41 SGB VIII bleibt der Begriff „Persönlichkeitsentwicklung“ die bedarfsermittelnde Größe, um soziale Benachteiligungen in Bildungsverläufen oder begrenzte soziale Teilhabemöglichkeiten festzustellen. So ist der § 41 SGB VIII, trotz aller anderen Ausdeutungen, von einer historischen Ambivalenz geprägt: Er zielt zwar auf eine soziale Teilhabeorientierung – macht diese aber weiterhin an einem nicht erreichten Status von Persönlichkeitsentwicklung fest.

Vor diesem Hintergrund müsste im nächsten inklusiven Schritt der Reform diese historische Ambivalenz eindeutig überwunden und herausgearbeitet werden, wie ein „Rechtsstatus Leaving Care“ gefasst werden kann, der sowohl auf eine Defizitzuschreibung in der bisherigen Persönlichkeitsüberwindung verzichtet, damit junge Volljährige durch die Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII nicht weiterhin dazu veranlasst werden, sich selbst als unzureichend hinsichtlich ihrer individuellen Entwicklung beschreiben zu müssen. Weiterhin ist auch eine Teilhabeorientierung zu implementieren, die sich nicht nur auf Maßnahmen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe erstreckt, sondern auch in andere Sozialleistungsbereiche sowie Rechtssysteme hineinwirkt.

Kinder- und Jugendgrundsicherung nutzen, um einen „Rechtstatus Leaving Care“ zu etablieren

Vor diesem skizzierten Hintergrund sollte auch die Diskussion um die Kinder- und Jugendgrundsicherung ein wesentlicher Ausgangspunkt sein, um einen Impuls für die Schaffung eines „Rechtstatus Leaving Care“ zu geben. Die bisherigen Vorschläge zur Kinder- und Jugendgrundsicherung sind vor allem familienpolitisch orientiert und berücksichtigen die besondere Lage von Care Leaver_innen darum nur bedingt. So können familiäre Konflikte, die zu einer stationären Unterbringung geführt haben, mit der familienbezogenen Existenzsicherungslogik im Übergang aus stationären Hilfen erneut verschärft werden. Dies trifft alle sozialen Leistungen, die elternabhängig gewährt werden, aber auch Unterhaltsfragen. In der Kinder- und Jugendgrundsicherung sollte es daher nicht nur darum gehen, wie monetäre Sozialleistungen familienpolitisch neu strukturiert werden, sondern es gilt ebenfalls darüber nachzudenken, wie soziale Sicherheit und ein gleichberechtigter sozialer Status von jungen Menschen jenseits von Armutslagen, familialen Abhängigkeiten und Diskriminierung gestaltet werden kann. Daran ist auch die Fachstelle „Leaving Care“ beteiligt (mehr zu deren Arbeit s. Abb. 1).

Abb. 1
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Fachstelle Leaving Care

Gerade Kinder und Jugendliche, die in ihrer Kindheit und Jugend eine der wohl intensivsten Interventionen des Sozialstaats in ihr Alltagsleben – die stationäre Hilfe zur Erziehung – erlebt haben, welche nicht selten mit ungleichen Chancen sowie Diskriminierungsfolgen auch nach Ende der Hilfe verbunden ist, sollten durch eine Kinder- und Jugendgrundsicherung so abgesichert werden, dass sie eigenständig einen diskriminierungsfreien sozialen Status erreichen können. Es ist zu vermeiden, dass sie nach dem Ende der stationären Erziehungshilfe erneut von sozialen Benachteiligungen betroffen sind, die sich als Folge der Erziehungshilfen ergeben. Darum ist in die Gesetzesinitiative zur Kinder- und Jugendgrundsicherung auch ein „Rechtstatus Leaving Care“ zu integrieren.

Weiterhin sind Leistungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter, insbesondere auch während der beruflichen Bildung, im deutschen Sozialleistungssystem hochgradig an den familialen Hintergrund geknüpft und setzen viele familiale monetäre und soziale Unterstützungsleistungen voraus. Zudem sind auch andere Übergänge ins Erwachsenenalter (z. B. in eigenständiges Wohnen) ebenfalls von vielen Familienleistungen abhängig. Für junge Menschen, die in stationären Erziehungshilfen aufwachsen, bedeutet dies, dass sie in Abhängigkeiten zurückkehren sollen, aus denen sie sich u. a. mit Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe herausbewegt haben.

Darum erscheint es notwendig, über diese Perspektiven hinaus einen „Rechtsstatus Leaving Care“ zu formulieren, der den jungen Menschen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter gleichberechtigte Zugänge im institutionellen Gefüge des jungen Erwachsenenalters, im Bildungsbereich, im – für sie beginnenden – Arbeits- und Erwerbsleben ermöglicht sowie steuer- und sozialversicherungsrechtlich eine Position erlaubt, die ihnen eine elternunabhängige soziale Sicherung schafft, ohne sich permanent dafür legitimieren zu müssen.

Als in den USA vor einiger Zeit der Erlass von Studienschulden ins Spiel gebracht wurde, haben wir uns gefragt, warum dies nicht generell für Care Leaver_innen vorgeschlagen wird? Es wird seit Jahren über die soziale Sicherungslücke nach der Erziehungshilfe diskutiert, doch tragen Care Leaver_innen im Fall einer Verschuldung die die Konsequenzen daraus aktuell weitgehend selbst. Diese Thematik – dass auch teilweise schon während der stationären Hilfe Schulden entstehen – wird bisher in Deutschland nicht mit praktischen Gegenmaßnahmen bearbeitet. Care Leaver_innen geraten schließlich nicht selten aufgrund fehlender sozialer Sicherung in Verschuldungsfallen und es dauert, bis sie über ausreichend Einkommen verfügen, um diese zu tilgen.

„Rechtstatus Leaving Care“ etablieren

Entsprechend plädieren wir dafür, dass unter Beteiligung von Care Leaver_innen ein „Rechtsstatus Leaving Care“ konzeptionell und rechtlich ausgearbeitet wird, der mit der Kinder- und Jugendgrundsicherung und der SGB-Reform etabliert wird. Denn: Die Lebenslage von Care Leaver_innen mit und ohne Behinderungen wird in diesen sozialpolitischen Perspektiven aufgrund ihrer familienpolitischen Grundorientierung bisher zu wenig berücksichtigt. Für einen entsprechenden Rechtsstatus liegen noch keine expliziten Überlegungen vor. Die rechtlichen Verbesserungen mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sind ein wichtiger erster sozialpolitischer Schritt, der aber erst sozialpolitisch wirksam werden kann, wenn auch die genannten weiteren Schritte diskutiert, geplant und gegangen werden.

Aus unserer Sicht handelt es sich dabei nicht um eine positive Diskriminierung von Care Leaver_innen, da der Sozialstaat für diese Gruppe bereits diskriminierend gewirkt und in die Biografien und Lebensverläufe der jungen Menschen hineingewirkt hat. So ist es letztlich auch als ein Nachteilsausgleich zur sozialen Teilhabe zu verstehen, der Care Leaver_innen bis zu ihrem 27. Lebensjahr ungeachtet ihrer individuellen Bedarfslagen in Form eines rechtlichen Status’ sozial absichert, um nicht immer wieder und erneut den eigenen familiären Kontext stigmatisierend nachweisen zu müssen und dabei zwischen den Sozialsystemen in Sicherungslücken zu geraten.