Stephanie Landa (Hamburg, s. Abb. 1) ist in der Medienarbeit für Kinder, Jugendliche und Erwachsene tätig. Die von ihr 2007 gegründete Online-Plattform www.audiyou.deist als werbefreie und kostenlose Online-Audiothek vielfach ausgezeichnet worden. Zudem hat sie das Projekt Sisters Network gegründet, in dem sie bis heute mit jungen geflüchteten Mädchen und Frauen zusammenarbeitet, um ihnen eine gleichberechtigte Bildungsteilhabe zu ermöglichen. Für Sozial Extra hat Wolfgang Schröer mit Stephanie Landa über das „Sister Network“ und die Verwirklichung der Rechte für junge Geflüchtete gesprochen.

 

Abb. 1
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Interviewpartnerin Stephanie Landa

FormalPara Sozial Extra:

Liebe Frau Landa, toll, dass Sie sich für das Interview Zeit nehmen. Können Sie uns zunächst erzählen, was „Sisters Network“ ist und wie es zu der Gründung kam?

FormalPara Stephanie Landa:

Das mache ich gerne. Vor 15 Jahren habe ich die Online-Audiothek audiyou.de mit der Leitidee „Wie hört sich deine Welt an?“ gegründet. Mich hat schon immer sehr interessiert, was andere Menschen wahrnehmen und zu erzählen haben. Auf audiyou.de können Klänge, Musik, Hörproduktionen unterschiedlicher Genres veröffentlicht und für eigene nichtkommerzielle Projekte verwendet werden. Das Angebot wird von Schulen im deutschsprachigen Raum rege genutzt. Seit einigen Jahren ist audiyou.de als gemeinnützige GmbH aufgestellt, deren Zwecke u. a. Persönlichkeitsentwicklung, Zuhör- und Sprachförderung sind. Das eröffnete die Möglichkeit, unter dem Dach dieses Freien Trägers auch Projekte zu schaffen, die keinen digitalen Schwerpunkt haben. 2002 habe ich – durch den Kinderschutzbund vermittelt – eine private Vormundschaft für einen minderjährigen Geflüchteten aus Afghanistan übernommen. Durch diese Verbindung, die bis heute besteht, lernte ich in der Praxis, welche Fragen und Unterstützungsbedarfe Jugendliche haben, wenn sie neu in Deutschland sind. Es ist erwiesen, welch große Rolle familiäre Prägungen und Netzwerke für den Bildungserfolg spielen. Wenn sich junge Menschen zum einen ohne diese Unterstützung und zum andern auch in einem neuen Land komplett neu orientieren müssen, brauchen sie weitreichende Hilfe. Auf diese Bedarfe gehen wir bei Sisters Network ein. Mit einem stark partizipativen Ansatz, bei dem „Sisters“ eigene Ideen einbringen und umsetzen können. In Bezugsgruppen treffen sie sich regelmäßig zum Austausch mit erfahreneren „Big Sisters“, gruppenübergreifende Projekte und Angebote wie kreatives Schreiben, Ausflüge, Feiern und auch gemeinsame Reisen verbinden alle Interessierten miteinander.

Zurück zur Gründung von Sisters Network: Nach 2015/16 beschäftigte mich, wie es den Mädchen und jungen Frauen geht, die in Hamburg neu angekommen sind. Durch den Kontakt zur Lehrerin einer internationalen Vorbereitungsklasse hatte ich die Möglichkeit, meine Idee für eine spezielles Angebot für Schülerinnen vorzustellen. Sie bestärkte mich darin, dass dies auf eine hohe Nachfrage bei ihren Schülerinnen stoßen würde. Und so war es: als ich die Zusage einer ersten Stiftung – der Homann Stiftung – bekam, starteten alleine zwölf Schülerinnen aus dieser Schule in der ersten Gruppe. Seitdem haben sich weitere Gruppen gebildet, die Organisation ist gewachsen und hat sich weiterentwickelt. Seit 2020 ist Christine Bargstedt mit in der Leitung tätig, die mit langjähriger Erfahrung in der Jugendhilfe, der Projektarbeit und Organisationsberatung, die Professionalisierung der Initiative unterstützt. Seit Sommer 2022 haben wir nun auch eigene Räume in der Hamburger Innenstadt, was ein herausragender Schritt für unsere Sichtbarkeit in der Stadtgesellschaft ist.

FormalPara Sozial Extra:

Wenn wir von rechtebasierter Kinder- und Jugendhilfe bzw. -politik sprechen, was fällt Ihnen da in Bezug auf die „Sisters“ ein?

FormalPara Stephanie Landa:

Aus der Perspektive der „Sisters“ haben wir als Aufnahmegesellschaft ein Versprechen abgegeben, dass das deutsche Bildungssystem insbesondere den jungen zugewanderten Schüler_innen Zugang zu Bildung ermöglicht und Unterstützung gibt. Die individuellen Lebenslagen von Jugendlichen müssen mitgedacht werden. Jugendhilfe soll durch die Neufassung des SGB Vlll dieses als Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in der Gesellschaft rechtlich gesehen garantieren. Dafür müssen wir uns – als in diesen Prozess involvierte Institutionen – mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten Jugendlicher beschäftigen und diese jungen Menschen als Expertinnen für ihre Unterstützungsbedarfe in die Foren holen.

Für eine „Sister“ beispielsweise, die 2016 als 16jährige nach Deutschland kam, galt es auf allen Ebenen, sich in bisher unbekannten Strukturen zu orientieren. Sie lebte über mehrere Jahre in öffentlichen Unterkünften, musste mehrfach umziehen und die Schule wechseln. Meist sind es sie als Töchter, die in ihren Familien durch ihre höhere Sprachkompetenz die erforderlichen Ämtergänge, Arztbesuche und Schulfragen der jüngeren Geschwister eine zentrale Funktion einnehmen. Diese Zuständigkeiten beanspruchen einen großen Raum in der außerschulischen Zeit.

Für uns als Organisation bedeutet es, dass wir dieses Eingebundensein immer mitdenken müssen. Gleichzeitig liegen darin große Kompetenzen bei den jungen Frauen, die wenig als solche wahrgenommen werden. Eine Anerkennung hierfür verbunden mit der Frage: „Was brauchst du, um deinen persönlichen Zielen näher zu kommen?“ öffnet den gemeinsamen Raum für eine gelingende Unterstützung. Die „Sisters“ kommen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, Lebensrealitäten und sind mit ihrer individuellen Vorerfahrung keine einheitliche Gruppe. Wir sehen als Organisation jede Teilnehmerin mit ihren individuellen Perspektiven. Das bedarf auf allen Ebenen ein hohes Maß an Flexibilität.

Bei „Sisters Network“ stehen verlässliche Beziehungen im Mittelpunkt, die zum Teil schon seit fünf Jahren bestehen. „Sisters“ können sich als Teil der Gruppe in verschiedenen Rollen ausprobieren. Es gibt einige, die eher zurückhaltend Diskurse verfolgen und an Aktivitäten teilnehmen, bis hin zu denjenigen, die eigene Frustrationen durch z. B. Diskriminierungserfahrungen meinungsstark einbringen und keine Konflikte scheuen. Für alle gilt: Wer als „Sister“ auch längerfristig mehr Engagement zeigt, kann eigene Projekte starten und bekommt die dafür nötige Unterstützung. Mit diesem Zugehörigkeitsgefühl als Teil von „Sisters Network“ sehen wir die Chance für uns als Organisation, auch stärker öffentlich wahrgenommen zu werden. So haben zum Beispiel Sisters eigene Texte auf einer öffentlichen Solidaritäts-Veranstaltung für die Menschen im Iran im Hamburger Literaturhaus gelesen. Wenn wir nun als „Sisters Network“ auch in politischen Diskursen wahrgenommen werden, können „Sisters“ ihre Erfahrungen formulieren und dadurch Förderbedarfe sichtbar machen. Dabei sehen wir auch die Care Leaverinnen, die es unter ihnen gibt, die eine stärkere rechtebasierte Unterstützung brauchen.

FormalPara Sozial Extra:

Wie hat die neue Konstellation angesichts der Geflüchteten aus der Ukraine die Arbeit im „Sister Network“ verändert?

FormalPara Stephanie Landa:

Um darauf zu antworten, möchte ich die Situation Anfang 2022 beschreiben. Es fühlte sich so an, als ob Corona mit den betreffenden Beschränkungen in den Hintergrund treten könnte. In den beiden davor liegenden „Pandemiejahren“ lebten viele der „Sisters“ mit sehr eingeschränkten Möglichkeiten, soziale Kontakte außerhalb der Familien zu pflegen. Allein das Thema Homeschooling bedeutet für eine Schülerin, die sich mit oft mehreren Geschwistern ihr Zimmer in einer öffentlichen Unterkunft ohne WLAN teilt, dass sie in ihrer Eigenständigkeit stark eingeschränkt wurde. Für Eltern bedeutete es, dass Deutschkurse und Fortbildungen erschwert waren. Auch dadurch wurden Freiräume, die sich „Sisters“ vorher schon erobert hatten, wieder kleiner. Wir haben in dieser Zeit über Zoom, mit Spaziergängen in Kleingruppen, Telefonaten und der Versendung von anregenden und aufmunternden Materialien den Kontakt aufrecht erhalten. Das sich so viele unter den Bedingungen engagiert haben und schulischen Erfolg nachweisen können, verdient größten Respekt. Wir waren in der glücklichen Lage, durch Förderungen – aus den Corona-Sonderfonds finanziert – zusätzliche Reisen und Nachhilfeangebote anzubieten.

Als dann der Krieg in der Ukraine einen großen Zuzug von Geflüchteten auch nach Hamburg auslöste, nahm dieses einen großen Raum in der Berichterstattung ein. Sehr schnell schlossen sich Strukturen zusammen, die in der Geflüchtetenhilfe schon Erfahrungen hatten. Die umfassende Unterstützung der ukrainischen Geflüchteten stand ohne Frage mit einer hohen Dringlichkeit auf der Agenda. Es wurden rasch neue Fördertöpfe eingerichtet, an weiterführenden Schulen eigene Ukraine-Klassen gegründet und die Bevölkerung um die Bereitstellung von Wohnraum gebeten. Plötzlich, so empfanden es die meisten „Sisters“, bekamen viele ukrainische Familien Wohnraum durch Privatpersonen. Wozu das führte, war sehr schnell wahrzunehmen. Durch die starke Lobbyarbeit für die ukrainischen Geflüchteten fühlen sich die aus anderen Herkunftsländern kommenden Sisters stark benachteiligt. Es gibt belegbare Unterschiede in der Beschulung (rein ukrainische Klassen, Beschäftigung von ukrainischen Lehrerinnen, vorrangige Versorgung mit digitalen Endgeräten) und auch in der Wohnraumversorgung (öffentliche Unterkünfte nur für Ukrainerinnen, leichterer Zugang zu Mietwohnungen). Die Wahrnehmung der „Sisters“ geht in die Richtung: „Wir sind Geflüchtete zweiter Klasse“. Nachrichten über den Umgang mit den so bezeichneten Drittstaatlern unterstreichen die strukturelle Diskriminierungserfahrung.

Sisters Network hatte sich schon Anfang Mai 2022 zu diesem Thema mit einem Statement gegenüber einer großen Hamburger Stiftung dahingehend positioniert, dass wir diese Entwicklung mit Sorge betrachten. Daraufhin kam es im Juli zu einem Treffen mit Mitarbeiterinnen der Hamburger Sozialbehörde, der involvierten Stiftung und zwölf „Sisters“. Diese Diskussion war wertvoll und aufschlussreich für alle Beteiligten. „Sisters“ wurden gehört und konnten ihre Kritik äußern. Für unsere Arbeit erwarten wir, dass die Entscheider_innen zukünftig strukturellen Rassismus stärker wahrnehmen und das gesetzliche Vorgaben unterschiedslos umgesetzt werden.

FormalPara Sozial Extra:

Was müssten Stiftungen und die Förderlandschaft aus Ihrer Sicht lernen, damit sie die Verwirklichung der Rechte aller jungen Geflüchteten stärken?

FormalPara Stephanie Landa:

Das Stichwort Frustration passt sehr gut zu den Beobachtungen der Sisters, die wir als Organisation im vergangenen Jahr gemacht haben. Teilnehmerinnen haben sehr genau das öffentliche Interesse und die Auswirkungen durch den Krieg in der Ukraine auf die Stadtgesellschaft verfolgt. Wenn immer wieder in der Berichterstattung auf die europäische Nähe zur Ukraine verwiesen wurde, verstärkte dieses auf der anderen Seite die persönlichen und strukturellen Erfahrungen von Diskriminierung. Hier sind auch Stiftungen und öffentliche Geberinstitutionen gefragt, wie sie in Krisensituationen Förderungen so kommunizieren, dass durch kurzfristig zu treffende Förderentscheidungen andere Förderadressatinnen möglichst nicht benachteiligt werden. Es sollte im Blick behalten werden, dass das Entstehen von Konkurrenzgefühlen wenig förderlich ist, solidarisches Verständnis zu fördern.

Vor Allem erleben wir, wie wichtig es ist, möglichst genaue Kenntnisse über die Lebensrealität der Jugendlichen zu bekommen, für die Förderungen entwickelt werden. Formale Bildung mag noch relativ einfach vermittelt werden können. Doch wo sind die Räume, in denen diese jungen Menschen als Persönlichkeiten im Mittelpunkt stehen, wo sie ihre Sorgen und Frustrationen thematisieren dürfen und an denen sie Kontakt zu unterstützenden Personen bekommen, um sich ein eigenes Netzwerk mit vielfältigen Ansprechpartner_innen aufzubauen? Was wir als Organisation häufig beobachten ist, dass Angebote, die sich auch an geflüchtete Jugendliche wenden, sich zu wenig an deren Bedarfen und Lebensrealität orientieren. Ein wichtiger Aspekt ist, wie sehr fehlende finanzielle Mittel Teilhabe erschweren. Zu einer selbstständigen Lebensgestaltung gehört eine wirtschaftlich gesicherte Basis. Bei den „Sisters“, die gemeinsam mit ihren Familien leben, verfügen nur wenige über geregeltes eigenes Geld. Wir hoffen, dass die geänderten Zuverdienstgrenzen für Jugendliche im gerade in Kraft getretenen Bürgergeld, die Kompetenzen des eigenverantwortlichen Wirtschaftens motivieren.

Nach unserer Information können Übungsleiterinnenpauschalen bis zu 250 € im Monat abzugsfrei auch für Bürgergeldempfängerinnen gewährt werden. Darin sehen wir einen guten ersten Schritt, um darüber eventuell auch Stipendien laufen zu lassen. Unser Ziel ist, gesellschaftliche Durchlässigkeit zu fördern. Um insbesondere junge Geflüchtete gemäß ihrer Rechte zu unterstützen, sollten Stiftungen, deren Förderschwerpunkte in dem Bereich liegen, in stärkeren direkten Austausch mit dieser Zielgruppe gehen.

FormalPara Sozial Extra:

Rechte zu verwirklichen heißt für Sie ja auch mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Arbeit mit jungen Geflüchteten. Was ist für Sie die zentrale geschlechterpolitische Botschaft des „Sisters Network“?

FormalPara Stephanie Landa:

Für uns sind Räume des Austauschs von persönlichen und kollektiven Erfahrungen als Frauen mit und ohne Fluchterfahrung elementar für die persönliche Entwicklung und gesellschaftliche Positionierung. Es braucht diese „Safer Spaces“, in denen sich Mädchen und (junge) Frauen öffnen, eigene Themen verhandeln, sich ausdrücken können, in denen kontroverse Diskussionen stattfinden, Konflikte ausgetragen werden und jede als Person ernstgenommen und wertgeschätzt wird. Hier können „Sisters“ selbst entscheiden, ob sie Diskriminierungserfahrungen und Rollenerwartungen in patriarchal geprägten Gesellschaften thematisieren oder sich davon erholen möchten.

Sisters Network ist eine Gemeinschaft, die sich der Selbstbestimmung von Menschen verpflichtet und für junge geflüchtete Mädchen und Frauen einen sicheren Erfahrungs- und Erprobungsraum bietet. Derartige Räume können allen Heranwachsenden Sicherheit und Entfaltungsmöglichkeiten bieten, für „Sisters“ sind sie jedoch besonders wichtig, weil sie häufig die einzige Möglichkeit sind, sich mit der eigenen Identität und den persönlichen Zielen zu beschäftigen und durchzuatmen. Und ganz klar: Unsere Gesellschaft braucht diese motivierten, klugen und erfahrenen jungen Frauen mit Migrationsgeschichte, die als Multiplikatorinnen und Vorbilder Wege für ein selbstbestimmtes Leben gehen.

FormalPara Sozial Extra:

Wenn Sie einen kinder- und jugendpolitischen Wunsch offen haben: was wünschen Sie sich?

FormalPara Stephanie Landa:

Außerschulische Begegnungsformen, die sich stark an den Bedarfen der Jugendlichen orientieren, brauchen verlässliche Strukturen. Viele Tätigkeiten geschehen hier ehrenamtlich. Eine stärkere Professionalisierung ist nach unserer Erfahrung notwendig, um mit größerer Kraft Foren und Begegnungsorte für Jugendliche zu schaffen. Sind diese etabliert und werden sie auch von politischen Strukturen wahrgenommen, sind wir einen wichtigen Schritt vorangekommen, Jugendliche für demokratische Prozesse zu interessieren oder gar zu begeistern. Wenn wir betrachten, wie sich die Bevölkerung in Großstädten wie Hamburg zusammensetzt, können wir sehen, dass insbesondere junge Geflüchtete in Demokratie stärkenden, politischen Strukturen unterrepräsentiert sind. Dabei könnten diese jungen Menschen dort ihre Erfahrungen einbringen und andererseits als Multiplikator*innen in den jeweiligen Communities aktiv werden. Um das zu ermöglichen, müssen wir Strukturen und Angebote, die sich für einen gesellschaftliche Zugänge für sozio-ökonomisch Benachteiligte einsetzen, langfristig fördern.

FormalPara Sozial Extra:

Herzlichen Dank für das Gespräch.