Armut+Zuschreibungen schlechter Elternschaft=Klassismus in kindheitspädagogischen Settings, könnte eine einfache Formel zur Identifizierung von Klassismus lauten. Aber ist dies wirklich immer so eindeutig? Der Beitrag diskutiert Möglichkeiten und weiterführende Fragen für empirische Forschung zu Klassismus in Kindheits- und Sozialpädagogik.

Klassismus kann in einer breiten Definition, in Anlehnung an Seeck und Theißl als Unterdrückungsform, Abwertung, Marginalisierung entlang von Klasse und als Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder -zugehörigkeit verstanden werden (Seeck und Theißl 2020, S. 11). Der Diskurs um Klassismus als lange vernachlässigte Diskriminierungsform ist in den vergangenen beiden Jahren im deutschsprachigen Raum wieder verstärkt geführt worden.

Gegenwärtige Debatten um Klassismus

Eine Kritiklinie in Bezug auf die neueren Klassismusdebatten stellt die starke Fokussierung auf die Hervorbringung klassistischer Zuschreibungen in Interaktionen und Diskursen (Hezel und Güßmann 2021) und die Anschlussfähigkeit dieser Überlegungen an sog. identitätspolitische Forderungen (Pawlewicz 2021, S. 4) dar, wohingegen Fragen der Umverteilung und einer grundlegenden Kapitalismuskritik weniger prominent thematisiert werden. Gleichwohl lässt sich im Klassismusdiskurs die Gegenüberstellung „Kapitalismuskritik vs. Identitätspolitische Fragen“ erkenntnistheoretisch leicht auflösen (Schäfer 2021). Indem man* im Sinne des konstruktivistischen Strukturalismus (Bourdieu 2011, S. 135) davon ausgeht, dass (kapitalistische) Strukturen kulturelle Praktiken prägen und zugleich strukturelle Ungleichheiten konservieren. Die beiden vermeintlichen Pole (Struktur vs. Kultur bzw. kulturelle Praktiken) stehen sich demnach weniger antagonistisch gegenüber als dass sie sich vielmehr bedingen (Schäfer 2021).

Desweiteren ist das Verhältnis von Klasse bzw. class als Struktur- und Interaktionskategorie in gegenwärtigen Debatten um Klassismus strittig. Einerseits wird Klasse als (Heterogenitäts‑)Kategorie verstanden, die im Vollzug als soziale Konstruktion hervorgebracht wird („doing class“ in Anlehnung an Fenstermaker und West 2000). Andererseits geht es um die Klassenposition, welche mit der sozialen und ökonomischen Positioniertheit in den kapitalistischen Gesellschafts- und Produktionsverhältnissen zusammenhängt.

Anhand der Frage nach Klassismus in kindheitspädagogischen Settings und am Beispiel von klassistischen Deutungsweisen pädagogischer Fachkräfte im Familienzentrum möchten wir fragend dem Phänomen des Klassismus nachspüren, Deutungsangebote unterbreiten und zur Diskussion stellen. Dabei widmen wir uns bewusst Uneindeutigkeiten und wollen zu Fragen anregen, welchen zukünftig theoretisch und empirisch nachgegangen werden kann.

Klassismus als Forschungsdesiderat in der Kindheitspädagogik

Bevor wir anhand von empirischen Beispielen die Komplexität des Phänomens des Klassismus entfalten und diskutieren, werfen wir einen Blick auf das kindheitspädagogische Feld und auf empirische Erkenntnisse zum Thema Klassismus und Armut. Studien, die sich den Armutsdeutungen von Pädagog_innen in Kindertageseinrichtungen widmen, zeigen eine Spannweite abwertender Zuschreibungen der Professionellen (z. B. Simon et al. 2019; Kerle et al. 2019). Die Armutslage der Eltern wird individualisiert, stigmatisierende Aussagen über das Sorgeverhalten der Eltern getroffen und vermeintliche Erziehungs- und Sorgeinkompetenz in Bezug auf Armut thematisiert (auch Hübenthal 2018 für den politischen Diskurs um Kinderarmut). Armut, wie auch Kultur und Nationalität, erscheinen als Differenzkategorien, die mit Problemen verbunden werden (Betz und Bischoff 2017; Thon und Mai 2018; Beyer 2013).

Gemein ist, dass Armut als gesamtgesellschaftliches Problem und Folge gesellschaftlicher Ungleichheiten von den Pädagog_innen nicht also solches benannt, sondern diese Aspekte vielmehr verschleiert werden. Diese Dynamik versucht der Begriff der „Ent_nennung“ beschreibbar zu machen (Simon et al. 2022). Obgleich diese Forschungen im Ergebnis klassistische Stigmatisierungen beschrieben (auch Koevel et al. 2021 in Bezug auf die Deutungen von Lehrer_innen), fragten sie in ihrer Anlage nicht dezidiert nach Klassismus. Eine systematische Analyse von Klassismus, klassistischen Praktiken und Positionierungen sowie Deutungsweisen in kindheitspädagogischen Settings erweist sich derzeit noch als zentrales Forschungsdesiderat. Die von uns nachfolgend aufgeworfenen Perspektiven bieten wir als eine Sensibilisierung für letzteres an.

Un_eindeutigkeiten bei der empirischen Annäherung an Klassismus

Das aus einer Qualifizierungsarbeit zum Thema Armut und Familienzentren stammende Material (Kerle 2021) nutzen wir im Folgenden zur Illustration unserer Perspektiven und dem Nachspüren der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer empirischen Perspektive auf Klassismus. Zunächst zeichnen wir, anhand der Brezel, klassistische Deutungen und Positionierungen auf und diskutieren deren Funktionalität. Im zweiten Beispiel zur Elektrokatze konfrontieren wir unsere Annäherungsversuche an klassistische Praktiken wiederum mit konstruktiv-kritischen Fragen, die eine differenziertere Betrachtung des Phänomens anregen sollen.

Die Brezel als Statusobjekt: Klassistische Positionierungen

Eng verwoben mit den Deutungen zu Kinder- bzw. Familienarmut sind negative, abwertende Stereotype über Eltern und Konstruktionen von guter und schlechter ElternschaftFootnote 1 (Kerle 2021; Simon et al. 2019). Im Kontext von Armut und am Beispiel der mitgebrachten Gegenstände werden Konsum- und Sorgepraktiken der Eltern abgeleitet und als „schlechtes“ Erziehungs- bzw. Sorgeverhalten gedeutet. In Bezug auf Armut und Elternschaft entfaltet sich somit eine hierarchische Ordnung, die armutserfahrenen Eltern tendenziell eine „schlechte“ Elternschaft zuschreibt (differenzierter: Simon et al. 2019; Kerle et al. 2019). Strukturelle Ungleichheiten werden dethematisiert und über die Individualisierung und Kulturalisierung von Armut verschleiert.

Dies ist wiederum anschlussfähig an gesellschaftlich vorherrschende neoliberale, meritokratischen Rationalitäten, die eine Rahmung dieser Deutungsweisen liefern: Vermeintlich wird suggeriert, dass eine sozial durchlässige Gesellschaft Leistung für alle mit Erfolg und privilegierten Positionen belohnt, während Armut als selbstverschuldetes Versagen gedeutet wird (Kavermann et al. 2021). In Bezug auf klassistische Deutungsweisen in kindheitspädagogischen Settings könnte die Gleichung folgendermaßen lauten: Armut + Zuschreibung schlechter Elternschaft = Klassismus. Dies illustrieren wir am folgenden Materialauszug, aus einem Gruppengespräch mit Leitungspersonen verschiedener Kindertageseinrichtungen und Familienzentren (aus: Kerle 2021):

Interviewerin:

Gibt es denn sonst noch Berührungspunkte so in Ihrer Praxis mit Armut? Also so zum Beispiel auch im Kita-Alltag?

Maxim Schäfer:

Also teilweise auch was, was ähm zum Beispiel das Frühstück betrifft, das die Kinder mitbringen. Sowohl die Art des Frühstücks, es gibt Kinder, die jeden Tag irgendwelche Kräcker dabei haben und aber in der Umkehrung auch Familien, wo ich denke, müssen die dem Kind jeden Tag eine Brezel kaufen? Das würde auch günstiger gehen, aber sie wollen ihrem Kind was Gutes tun und kaufen dem halt jeden Tag eine Brezel, was aber oft teurer ist, als wenn sie ihm ein Brot richten würden (..)

Interviewerin:

Und ist das für Sie dann Armut? Also eine Brezel?

Maxim Schäfer:

Neinnein! Sondern die Umkehrung. Eigentlich können die Familien sich das nicht leisten, aber sie möchten des nicht so zeigen oder möchten ihrem Kind das nicht so spüren lassen, dass sie sich das eigentlich nicht leisten können.


In diesem Beispiel fungiert die mitgebrachte Brezel als „Armutsindikator“ und zugleich als Statussymbol. Die Brezel wird als gut und kostspielig gesehen, die wiederum den Status der Familien anzeigt. Den (armutserfahrenen) Familien wird zugeschrieben, dass diese über ihre Verhältnisse leben, da sie Brezeln erwerben, obgleich ihnen aus Perspektive der Fachkräfte die finanziellen Mittel fehlen. Somit wird Armut verbunden mit einem unökonomischen Verhalten, somit als selbstverschuldet gedeutet und individualisiert. Zwar betont die Professionelle, dass die Eltern dabei einer guten Intention folgen – das Kind den finanziellen Mangel nicht spüren lassen – die Umsetzung (teure Brezel kaufen statt günstig Brot richten) jedoch problematisch ist.

Als klassistisch lassen sich diese Deutungsweisen verstehen, da mit Armut ein bestimmtes Verhalten von Eltern verbunden wird, welches negativ konnotiert ist. Die Lebensumstände der Familien und die strukturellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Eltern Sorge für ihre Kinder tragen, werden hingegen von den Fachkräften nicht thematisiert oder problematisiert.

Elektrokatze: Gesellschaftliche Positioniertheiten

Anhand des oben genannten Beispiels gelang es uns recht eindeutig Aussagen bzw. die damit einhergehenden Deutungen als klassistisch interpretieren bzw. einordnen zu können. Die Herausforderungen rekonstruktiver Sozialforschung ist es jedoch, mit Uneindeutigkeiten umzugehen. Dies markiert den enormen Stellenwert der theoretischen Rahmung, welche es ermöglichen muss, Widersprüche und Brüche im empirischen Material analytisch fassen und abbilden zu können. Anhand der Figur der „Elektrokatze“ ist uns diese Herausforderung besonders aufgefallen.

Das präsentierte Material stammt aus einem Gruppengespräch mit Fachkräften aus einem Familienzentrum in einem heterogenen Sozialraum, der teilweise von den Pädagog_innen als sog. „Brennpunkt“ beschrieben wird; es werden laut der Fachkräfte Kinder aus „43 verschiedene Nationen“ betreut (Kerle 2021).

Toni Panow:

Ja, es gibt ja die mit den ganz normalen Kuscheltieren und manche (..) die können laufen und Purzelbaum sonst was für elektronische Sachen.

Chrissi Hauser:

Und dann ist es noch spannend, dass dann Kinder da zu Hause rückmelden, sie wollen es auch und dann kriegst du es halt. Das hatten wir ja jetzt erst grad auch.

Ulli Fabritius:

echt?

Chrissi Hauser:

einer hat die Katze mitgebracht, der nächste hat gesagt, er will die Katze AUCH und ich hab dem gesagt, die Katze kostet 60 € oder so diese Katze und am nächsten Tag hat das Kind die Katze auch mitgebracht.


Der Rekurs der Professionellen auf die elektronische Katze kann als klassistische Positionierung der Familien gedeutet werden, worauf einerseits die Beschaffenheit des Spielzeuges (Plastik bzw. elektronisch) und die Bezugnahme auf die elterlichen Sorgepraktiken hindeuten. Zu Beginn wird dieses gegenüber „normalem“ Spielzeug als abweichend positioniert und mit den Konsum- und Sorgepraktiken der Eltern verbunden (die dem Kind wiederum den Wunsch nach der 60 € teuren Katze bis zum nächsten Tag zu erfüllen scheinen). Auch hier könnte die Logik des Brezel-Beispiels, nämlich „über die Verhältnisse leben“ greifen. Die Eltern werden hier klassistisch positioniert, was auch später im Verlauf des Gespräches noch einmal deutlich wird, als die Fachkraft Ulli Fabritius revidiert „Gut, aber die ist ja nicht arm“ und Chrissi Hauser mit „nö, aber trotzdem“ argumentiert, warum dies dennoch ein legitimes Beispiel im Zusammenhang mit Armut ist.

Bei der Debatte um die (symbolische) Gewalt solcher diskursiven Positionierungen (Machold 2015) gilt es unserer Meinung darüber hinaus die gesellschaftliche Positioniertheit der Personen zu beachten, also deren Klassenposition und die damit einhergehenden ökonomischen, kulturellen und symbolische Kapitalausstattung (Bourdieu). Neben der Perspektive auf „doing class“ und klassistische Positionszuweisungen braucht es also den Blick auf die Klassenposition, um die besondere Gewalt von Klassismus umfänglich erfassen zu können. Am Beispiel der Elektrokatze illustrieren wir dies.

Wer kann es sich „leisten“, Praktiken zu vollziehen, die wiederum als klassistisch gedeutet werden können? Mit Bourdieu lässt sich argumentieren, dass die ökonomischen, symbolischen und kulturellen Kapitalien als Einsatz für den Kauf der Elektrokatze verstanden werden können. Der (zunächst) klassistischen Positionszuweisung durch den Elektrokatzen-Erwerb geht einher mit einer privilegiert gelesenen Klassenposition („Gut, aber die ist ja nicht arm“) und dies erschließt folglich auch die Spielräume, sich symbolisch, kulturell und ökonomisch abzugrenzen (Distinktion). Sprich: eine größere Menge an Kapital konstituiert einen legitimen Habitus (vgl. Bourdieu 2021, S. 382 f.), der es ermöglicht, sich den Kauf einer „kitschigen“ Elektrokatze leisten zu können, da die eigene legitime (Klassen‑)Position bewusst ist und auch von Dritten so gelesen wird. Umgekehrt jedoch kann der Kauf der Katze, stehen die Kapitalsorten nicht zur Verfügung, bei den Käufer_innen zu latenten Schamgefühlen führen, wird ihnen die abgewertete Zuschreibung der Elektrokatze bewusst (vgl. Simmel 2016). Auch hier zeigt sich die Uneindeutigkeit, wird versucht, Klassismus lediglich an kulturellen Gütern festzumachen.

Klassismus als strukturelle Diskriminierung zu verstehen, bedeutet, nicht nur auf Momente und Praktiken des „doing class“ zu fokussieren, sondern diese auch rückzubinden an die Klassenposition und die Kapitalausstattung der klassistisch positionierten Akteur_innen. Dann offenbart sich erstens die besondere Vulnerabilität von Personen der Armuts- und Arbeiter_innenklasse, einhergehend mit deren Un_möglichkeiten, den Positionierungen etwas entgegenzusetzen.

Klassismus als Interaktions- und Strukturkategorie: Perspektiven für die Forschung

Der Blick auf die Hervorbringung von klassistischen Deutungen und Positionierungen in Interaktionen, also das „doing class“ erweist sich als gewinnbringende Perspektive, um die (Re‑)Produktion von Klassismus in alltäglichen Settings in der Kindheits- und Sozialpädagogik aufzuzeigen. Sichtbar wird, entlang welcher Kriterien und mit welchen Begründungen Eltern als „arm“ positioniert werden, welche klassistischen Zuschreibungen damit einhergehen (in unserem Beispiel: schlechte Elternschaft) und wie gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse in alltäglichen Praktiken in Organisationen gestützt werden.

Um der Komplexität um das Phänomen des Klassismus, die wir anhand des empirischen Materials versucht haben zu entfalten, zu entsprechen, braucht es über den Blick auf Interaktionen eine weitere Perspektive. Zu beachten gilt es die strukturellen Macht- und Ungleichheitsverhältnisse sowie die soziale Positioniertheit (im Sinne der Klassenposition) der Adressat_innen in der kapitalistischen Produktions- und Gesellschaftsordnung. Aus materialistischer Perspektive (z. B. Hezel und Güßmann 2021, S. 14) wird formuliert, dass Klassenzugehörigkeit nicht ausschließlich sozial konstruiert und zugeschrieben ist, sondern in Verbindung mit der Stellung der Individuen im Produktionsprozess steht, Klassenpositionen und die Ausbeutung der Arbeiter_innenklasse in kapitalistischen Gesellschaften demnach inhärent sind. Gesellschaftlichen Positionen bzw. Klassenpositionen sind jedoch nicht horizontal angesiedelt, sondern hierarchisiert und spiegeln sich in Alltagsbegriffen wie „Unterschicht“ oder „Hochkultur“ wider. Diese Ordnung ist zugleich funktional für klassistische Praktiken – ermöglicht sie doch erst ein „Treten nach Unten“ und „Streben nach Oben“.

Die Perspektive, dass jene Ordnung (und die damit einhergehenden klassistischen Zuschreibungen) historisch gewachsen, und demnach konstruiert sind, könnte in der pädagogischen Praxis sowie bei Forschung in pädagogischen Settings insofern helfen, als dass ein Bewusstsein für die genannten Relationen und der eigenen Bedingtheit erlangt werden kann und somit auch die Möglichkeit eröffnet wird, jene Ordnung analytisch zu dekonstruieren (vgl. Schäfer 2022). Letztlich bedeutet das, dass auch die von uns beschriebenen Deutungsangebote, wie die der Pädagog_innen, beeinflusst sind. Zum einen von den analytischen Heuristiken (oder Theorieschulen) und zum anderen von unseren eigenen habituellen Bewertungsschemata. Eine Reflexion hierüber sollte bei Forschungen über Klassismus in pädagogischen Settings unbedingt mit einfließen.