Der Ruf nach Haltung in Krisen scheint augenscheinlich inflationär zu sein. Jedoch: „Haltung zeigen“, in einem eng gefassten performativen Verständnis, kann einen Beitrag dazu leisten, (künftige) krisenhafte Situationen zu meistern. Es braucht hierfür nicht den heroischen Akt, sondern die Vorbereitung auf künftige herausfordernde Situationen. Dabei hilft die Unterscheidung von Krisen und Routinen ebenso, wie das Wissen um den Einfluss von subjektiven Normen.

„Krise“ ist ein zeitdiagnostischer Schlüsselbegriff der Gegenwart: Währungs- und Finanzkrise (2008), die sog. „Flüchtlingskrise“ (2015), Pandemie (seit 2019), der Ukraine-Krieg mit einhergehender hoher Zahl von Geflüchteten, Energiekrise, Inflation und schließlich der „Mega Megatrend“ Klimakrise (Becker 2020). Die gewohnten Routinen – im politischen, sozioökonomischen und, angesichts der Durchschlagskraft solch vielfältiger Krisen, auch im alltäglichen sozialen Raum – scheinen zunehmend obsolet. In krisenhaften Situationen liegt der Ruf nach Haltung nicht fern. Doch: Die Rede von „Haltung“ erfolgt immer dann, „wenn es zu spät ist“ (Wüschner 2016), nämlich dann, wenn eine Krise auftritt, in der das gewohnte Handlungsrepertoire versagt. Der vorliegende Beitrag möchte den performativen Haltungsbegriff anhand der folgenden Fragen weiter konturieren: Wie kann der Begriff der Krise für das Thema Haltung weiter erkundet und fruchtbar gemacht werden? Und wie lassen sich hierdurch, fern von einem fatalistischen Krisenverständnis, Ansatzpunkte für die Arbeit am Thema Haltung finden, die für krisenhafte Situationen vorbereiten?

Zum performativen Haltungsbegriff

Insbesondere für die Frage nach der Bedeutung von krisenhaften Situationen konnte ein Modell zur Reflexion von Haltung vorgestellt werden (vgl. Becker 2021, S. 91 ff.). Auf der Basis unterschiedlicher Bezugspunkte wird darin ein performativer Begriff von Haltung erarbeitet. Dieses eher enge analytische Verständnis fragt nach den normativen Grundlagen und Werteorientierung von Haltungen (Becker 2019, S. 360), eine Perspektive, die Aufschluss über die Bezüglichkeit zwischen dem Selbst, dem Anderen und der Welt (Kurbacher 2016) geben kann. Indem eine Person in einer konkreten sozialen Interaktion eine Position bezieht, zeigt sie mit dieser Handlung zugleich ihre Haltung und setzt sich mit dieser vollzogenen Stellungnahme einer (eventuell risikoreichen) sozialen Bewertbarkeit aus. Insbesondere in Situationen der Ungewissheit oder des Nicht-Wissen hat dieser Akt, in abhängiger Bezüglichkeit von dem Anderen und der Welt, das Potenzial, (im Extrem) entweder eine neue haltgebende Perspektive, einen neuen Impuls zu eröffnen, oder eben auch zu einer lächerlichen Pose der eigenen gesinnungsethischen Zurschaustellung zu geraten.

Wird Haltung in dieser Weise als „performativer Akt“ („Haltung zeigen“) begriffen, dann ist „Haltung haben“ nur eine, wenn auch basale, Teildimension des Haltungsbegriffs, mit der nach individuellen normativen Grundlagen und Werteorientierungen gefragt wird, die in konkreten krisenhaften Momenten geradezu die Grundlage dafür schaffen, eine Entscheidung zu treffen, und somit Haltung zu zeigen (Becker 2019, S. 368).

Krise und Haltung

Eine Begriffsbestimmung von „Krise“ ist je nach wissenschaftlicher Disziplin kein eindeutiges Unterfangen. So lassen sich Krisen definieren in einem generischen Zugriff „als die breite öffentliche Wahrnehmung bedrohlicher gesellschaftlicher Herausforderungen, die unmittelbare grundlegende Entscheidungen und Veränderungen zu ihrer Lösung verlangen. Die Definition verbindet damit reale Probleme, deren Perzeption und eine Handlungsebene“ (Bösch et al. 2020, S. 6). Eine Situation als Krise in ihrem situativen Charakter zu verstehen, unterliegt der Zeit-Räumlichkeit im Hier und Jetzt. Krisen entstehen, so Heitmeyers Zusammenfassung von Oevermanns Krisenbegriff, „wenn bisherige individuelle, soziale, ökonomische und politische Routineabläufe nicht länger den praktischen Zwecksetzungen und Nutzenerwartungen entsprechen. Althergebrachte Erfahrungsbestände erweisen sich als nicht mehr tragfähig, im Verlauf der Krise werden sie in Frage gestellt, was schließlich auch die Zukunftsaussichten betrifft“ (Heitmeyer 2018, S. 89). In einem solchen zeitlich-gebundenen Krisenbegriff, der an ein Ereignis gebunden ist, entsteht in der kritischen Situation ein Entscheidungsfindungs- bzw. ein Handlungsdruck. Doch kann Krise auch als Prozess verstanden werden: Neben der akuten Krisensituation gruppieren sich eine Phase der Wahrnehmung der künftigen Krise (Prä-Krise) und eine Phase der Reflexion und Verarbeitung der vergangenen Krise in der Phase der Post-Krise (vgl. Brinks und Ibert 2020, S. 41 f.).

Ulrich Oevermann charakterisiert im Zugriff auf den Komplex „Krise und Routine“ die Entscheidungskrise als „Prototyp von Krise überhaupt“ (Oevermann 2016, S. 64): Nicht nur werden wir vor Entscheidungsmöglichkeiten gestellt, zwischen denen wir wählen müssen, sondern erzeugen darüber hinaus und weiterführend mitunter die Krise auch selbst. Zum Beispiel dann, wenn wir hypothetische Möglichkeiten, also Alternanten einer Zukunft konstruieren, zwischen denen wir dann gemäß dem unabweisbaren Prinzip, dass man sich nicht nicht entscheiden kann, eine Entscheidung zu treffen haben. In der Entscheidungskrise zeigt sich die Krise im Unterschied zu alltäglichen routinierten Entscheidungsabläufen darin, dass eine bewährte Begründung für die Entscheidung nicht vorhanden ist. In einer solchen Entscheidungssituation konstituiere sich, so Oevermann, die religiöse Erfahrung – mit der Klarstellung, dass diese strukturtheoretisch und nicht inhaltlich zu verstehen sei.

Oevermann bezieht sich hierbei auf Webers Machttypologie der charismatischen Herrschaft. In Abgrenzung zu rationalen bzw. traditionalen Herrschaft charakterisiert Weber in „Wirtschaft und Gesellschaft“ das Charisma als eine außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit, „um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als „F ü h r e r [H. i. O.] gewertet wird“ (Weber 1922, S. 140). Der charismatischen Herrschaft liegen Ankerkennung und Unterwerfung der Beherrschten zugrunde. Sie ist legitimiert durch den Gott des Charismatikers oder seiner magischen oder seiner Heldenkraft – „bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance zu schwinden“ (ebd.). In Anlehnung an Weber bezeichnet Oevermann das Charisma als eine Quelle jenes Vertrauens, „die eine Lebenspraxis eine Entscheidung mit der Aussicht auf Begründbarkeit in eine ungewisse, offene Zukunft hinein treffen lassen“ (ebd. S. 65). In seiner Auseinandersetzung mit Webers Typus der „charismatischen Herrschaft“ erkennt Oevermann einen darin enthaltenen Prozess von krisenhaft erzeugter Außeralltäglichkeit. In solch einem dynamischen Modell wird Krise dann zur Voraussetzung für die Entstehung von Neuem, durch das sich neue Routinen entwickeln können. Der darin liegende Charismatisierungsprozess sei eben nicht als eine „irrationale Arabeske“, sondern als eine Transformationsphase zu lesen: „Der Charismatiker bzw. das Charismatische ist so gesehen das pragmatische Agens oder die Instanz, das Pragma, das dafür sorgt, dass neue, noch nicht begründbare Ideen, manchmal nur suggestive Vorahnungen, eine Chance erhalten, in der Realität getestet werden“ (ebd. S. 89). Dem gebündelten und für geltend gehaltenem Wissen auf der Seite der Routine stehen darstellbare Überzeugungen und der Glaube an eine unüberbietbare Macht auf Seite der Krise gegenüber: „Diese Macht muss auf der einen Seite eine Versöhnung versprechen angesichts der Schuldverstrickung, in die man sich mit der undankbaren Ablösung aus der Symbiose unausweichlich begeben hat, und sie muss auf der anderen Seite Halt geben angesichts der offenen ungewissen Zukunft, in die hinein man – tendenziell immer den Verdacht der Leichtfertigkeit sich aussetzend – Krisen auf sich nimmt, statt ihnen ausweicht“ (ebd. S. 91).

Oevermanns Ausführungen zu Krise und Routine zeichnen wichtige Perspektiven für den Haltungsbegriff auf. Wird allerdings Haltung – wie in diesem Beitrag – als „performativer Akt“ verstanden und Krise ein Moment, ein Ereignis im Hier und Jetzt – und eben nicht als Prozess des Neuen, wie bei Oevermann – begriffen, dann kann der Rekurs auf Webers charismatische Herrschaft nicht überzeugen. Ganz abgesehen davon, dass diese Bezugnahme m. E. prinzipiell abzulehnen ist, suggeriert die Figur des Charismatikers doch nahezu übermenschliche Skills und Fähigkeiten und versetzten mit diesen Eigenschaften das Haltungskonzept zurück in die heroische Pose marmorner Säulen. Wird dagegen Haltung theoretisch konsequent als im „Da Zwischen“ positioniert, d. h. als ein (begründungsfähiges) Tun zwischen Person, dem Anderen und der Welt, dann zerreißt ein solch haltungsstarrer Charismatiker im Weberschen Sinne – durch die Verwechslung von Führer und Führung – dieses feine Gewebe zwischen diesen Polen.

„Haltung zeigen“ ist riskant

Oevermann konstatiert die Notwendigkeit, angesichts der offenen ungewissen Zukunft, Halt dadurch zu geben, indem man Krisen auf sich nimmt, statt ihnen auszuweichen. Der Begriff des Ungewissen birgt in der Wahrnehmung des akuten krisenhaften Moments zudem eine weitere Perspektive in sich, nämlich „nicht völlig auf Sicht fahren zu müssen“, sondern auch die Möglichkeit, Konturen einer Richtung und Orientierung im „Nebel“ des Ungewissen wahrzunehmen. Diese, sicherlich vereinfachende, Nebel-Metapher eröffnet (mindestens) zwei Möglichkeiten: Die weitere Fahrt durch den Nebel gelingt oder es wartet doch der Zusammenprall mit dem nächsten Baum. Die Person, die die Entscheidung getroffen hat, in diesem krisenhaften Moment Haltung zu zeigen, indem sie die Fahrt trotz unklarer Richtung und Orientierung fortsetzt, ist sich des Risikos bewusst geworden, offenbaren zu müssen, dass die Routinen versagen und eine andere Handlung vonnöten ist, um die Krise zu überwinden. Und: Sie übernimmt grundsätzlich in dieser Situation Verantwortung dafür, die Last des Gelingens auf sich zu legen. Hierfür ist keine charismatische Führerpersönlichkeit vonnöten, wohl aber die Erkenntnis des charismatischen Prozesses, in dem Verantwortung getragen wird.

„Haltung zeigen“, die auf normative Grundlagen und Werteorientierungen einer Person zurückfällt, ist also auch eine ethische Handlung und ist nicht mit purem Moralismus zu verwechseln. Denn ein_e Moralist_in ist nicht nur eine Person, die moralische Urteile fällt (und damit ein moralisch missbilligendes Verhalten primär sanktioniert), „sondern jemand, der moralische Beurteilungen einfordert. Er fordert von anderen moralisches Engagement und sanktioniert dessen Ausbleiben“ (Hallich 2020, S. 67). Ohne an dieser Stelle die Kritik am Moralismus diskutieren zu können, zeugt Hallichs Definition davon, dass Bewertungen, die dem moralisierenden Urteil zugrunde liegen, bereits vorgenommen und somit neue Routinen generiert wurden, in der Abweichungen moralisch messbar und artikulierbar zu identifizieren sind. Haltung in der Krise kommt hingegen ein aktiver, beweglicher und veränderbarer Status zu (Wild 2016, S. 95) und birgt das schlichte Risiko des Scheiterns in sich. „Haltung zeigen“ im Vollzug, kennt kein doppeltes Netz und keinen doppelten Boden des Moralismus. Da in der Regel nicht jederzeit alle Routinen bersten, ist „Haltung zeigen“ eine nahezu exklusiver oder gar besonderer Moment.

Bei aller drohenden postmodernen Relativismusdebatte bezüglich Werte und Normen (in einer globalisierten Welt) beruhigt mit Blick auf die Frage nach Haltung, dass sich unser normativer Grundstock nicht beliebig über Nacht herausbildet, sondern Produkt von Erwerb und Aneignung im Rahmen von Sozialisation ist. Die Antizipation von krisenhaften Situationen, in denen wir gefragt sein könnten, Haltung zu zeigen, ist dann kein hoffnungsloses Unterfangen, wenn wir unserer Haltung, in aller Offenheit, sicher sein können. Daher: Kann „Haltung zeigen“ in Krisen vorbereitet werden?

Zur Vorbereitung auf „Haltung zeigen“ in Krisen

Zwischen unseren Einstellungen, Werten und Überzeugungen einerseits und den daraus resultierenden Handlungen in einer krisenhaften Situation andererseits, liegt das „Haltung zeigen“ in seiner Bezüglichkeit – „Da Zwischen“. Was hemmt hierin, was setzt frei? In der sozialpsychologischen Theorie des geplanten Verhaltens geht es darum, die Lücke zwischen Einstellung und Verhalten zu schließen (vgl. im Überblick Ajzen 2001): In der Abwägung eines Individuums, welche Konsequenzen oder gar Risiken Handlungen in sich bergen (Verhaltensintention), sind erstens die positive bzw. negative Bewertung des Verhaltens, zweitens die wahrgenommene Verhaltenskontrolle (gemeint ist die subjektive Einschätzung, wie leicht oder schwierig ein Verhalten in die Realität umgesetzt werden kann) und schließlich drittens die wahrgenommene subjektive Norm als Komponenten benannt. Bei der subjektiven Norm spielt die Erwartung eine wichtige Rolle, wie sich wichtige Bezugsgruppen, bedeutsame Dritte, über diese Handlung äußern könnten. Erwartet das Individuum, dass die Bezugsgruppe solche Handlungsformen toleriert, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass geplante Handlungen auch realisiert werden. Und umgekehrt: Nimmt das Individuum an, dass die Bezugsgruppe das mögliche Verhalten missbilligt oder gar sanktioniert, so kann dies die tatsächliche geplante Handlung unterbinden.

Demjenigen, der in einer krisenhaften Situation ad hoc „Haltung zeigen“ will, können solcherlei Erwägungen egal sein – all denen, die darüber nachdenken, ob oder in welcher Form sie in einer krisenhaften Situation „Haltung zeigen“ könnten, kann die Reflexion über die sozialen Normen, die sich ja wiederrum nicht aus reinen Verhaltenslehren, sondern aus geteilten Werten und Normen speisen, hilfreich sein, die eigenen Überzeugungen einer antizipierten Schwerkraft auszusetzen, v. a. in der Erwartung, sozialen Normen im o. g. Sinne wahrscheinlich nicht entsprechen zu können:

  1. 1.

    Wie umgehen mit dem Schüler, der wegen seines Verhaltens vom Gymnasium in eine Realschule versetzt werden soll, obwohl die Lehrkraft aufgrund ihrer persönlichen Beziehung ein großes Potenzial in ihm sieht?

  2. 2.

    Wie umgehen mit dem Kollegen in der Dienstgruppe, der mal wieder einen rassistischen Spruch geäußert hat? Was soll der sich davon betroffen zeigende Polizeibeamte tun, wenn ein großer Teil der Dienstgruppe schweigt oder gar dem besagten Kollegen zustimmt?

  3. 3.

    Was tun, wenn sich nach monatelangen Vorwürfen gegenüber dem Kuratorenkollektiv, eine Nähe zur antisemitischen BDS-Bewegung zu haben, nach Eröffnung der weltgrößten Kunstausstellung sich nach drei Tagen das zeigt, was befürchtet wurde, nämlich, dass ein antisemitisches Kunstwerk gezeigt wird?

Zu 1):

Würden wir Schule in einem luhmannschen Sinne als ein autopoietisches System verstehen (Luhmann 2012), so hat es in seiner Logik und Verfahrensweisen alles versucht, um mit den Störungen durch den Schüler umzugehen und erwägt in einem routinierten Verfahren den Schulverweis. Mit Blick auf die Krise gilt festzuhalten, dass die Krise nicht für das Gesamtsystem Schule besteht – dieses System verarbeitet verlässlich die gestellte Anforderung – sondern für die „Subsysteme“ Schüler und (noch schärfer) für die Lehrkraft, die die negative Zukunft des Schülers antizipiert. Haltung im Sinne des betroffenen Schülers zu zeigen, bedeutet, die Praxen der Routinen des eigenen Systems zu kennen und das darin zugrundeliegende Werteverständnis ebenso, um sich – quer zu diesen Routinen liegend – für einen Schüler positionieren zu können. „Haltung zeigen“ bedeutet hier auch zu wissen, wem gegenüber eine Verpflichtung einzugehen ist (hier: dem Jugendlichen) und wem gegenüber in Konfrontation zu gehen sein wird (hier: der Schule).

Zu 2):

Dieses vermutlich kleine Beispiel zeugt von den entwickelten Strategien zum Umgang mit rechtsextremen, rassistischen Vorfällen innerhalb der Polizei, die nach der Aufdeckung des NSU 2.0 und diverser Chatgruppen vonnöten geworden sind (vgl. Nußberger 2021). Wenngleich die Forderung nach Zivilcourage in solchen Situationen auf dem Tisch liegt, so verkennt sie doch die mitunter hilflose Situation des Polizisten: Welche Folgen hat die Intervention für den weiteren Alltag in der Dienstgruppe? Wie werden die Interventionen von den direkten Vorgesetzten bewertet? An wen kann sich ein couragierter Polizist in einem komplexen hierarchischen System wenden, wenn er sich selbst nicht gefährden möchte usw.? Ein „Haltung zeigen“ abzufordern, ohne dass das betroffene System sich selbst infrage stellt oder gar sich von vorneherein weigert, nach möglichen Versäumnissen zwischen verordneter bzw. gewünschten Werten und Normen einerseits und den möglichen subjektiven Normen subalterner Gruppen (hier eine „Cop Culture“, vgl. Behr 2008) andererseits zu suchen, würde jegliches künftige Engagement der eigenen Mitarbeiter_innen bei derartigen Krisen und Konflikten im Keim ersticken.

Zu 3):

Immer wieder prallten zwei Wertebegriffe in der Debatte um die Vorfälle auf der documenta 15 aufeinander: die Ablehnung von Antisemitismus als eine universale Forderung versus der Freiheit der Kunst. Unter enormen öffentlichen Druck, welche in der Prä-Phase dieser Krise die Stationen dieser Debatte von Januar 2022 bis zur Eröffnung der Kunstaustellung am 18. Juni 2022 begleitete, kulminiert sie kurz nach Eröffnung in dem Skandal um das antisemitische Bild des Künstlerkollektivs Taring Padi. In dieser Phase der Krise offenbart sich das Versäumnis der vergangenen Monate, nämlich eine Positionierung der vor Ort Verantwortlichen zum Thema Antisemitismus. Stattdessen mündete die Krise im Rücktritt der Generaldirektorin am 16. Juli 2022. Hätte „Haltung zeigen“ Halt geben können? Die Antwort ist einfach: Wenn „Haltung zeigen“ nicht ohne normativen Grund möglich ist, so hat eine Positionierung im Dazwischen – zwischen der Ablehnung von Antisemitismus und Kunstfreiheit – keinen festen Grund und somit keine Orientierung für die metaphorische Fahrt durch den Nebel geboten. Denn die Frage nach „Haltung zeigen“ verweist, wie dieses Beispiel illustriert, auf eine zentrale Funktion, nämlich auf die o. g. Verantwortung, Orientierung bei einer eingeschränkten Sicht geben zu wollen. In diesem Fall – und in aller Offenheit für mögliche Entwicklungen – hätten sich bei einer klaren Positionierung gegen Antisemitismus, welche einer sozialen Bewertbarkeit standgehalten hätte, bei aller Komplexität eines Systems wie das der documenta, orientierende Leitplanken für die weitere Handlungspraxis ergeben.

Fazit

Ein eng gefasster performativer Haltungsbegriff, der sich auf Handlungen in Krisen- und Konfliktsituationen im Hier und Jetzt verengt, bedeutet nicht, sich in heroischer Pose einem schicksalhaften Moment auszuliefern. In Krise(n) „Haltung zeigen“ kann, neben schlichter Rechenschaft über den eigenen normativen Grund, in der Erwägung von den folgenden (und weiteren) Fragen seine Vorbereitung, z. B. in der Phase einer Prä-Krise, finden:

  • Wem will ich verpflichtet sein?

  • Worin soll nicht unser Versäumnis bestehen?

  • Wem will ich worin Orientierung anbieten?

Letztlich ist die Frage nach „Haltung zeigen“ nur zu beantworten, wenn die Entscheidung getroffen werden will, ein Wagnis einzugehen: In dieser Lesart ist die Frage nach Haltung immer eine persönliche Frage – Systeme gehen kein Risiko ein, sondern sind ihrem Selbsterhalt verpflichtet. Ob ihnen dies gelingen kann, ist eine andere Frage.